Die Aufbruchstimmung
Im Rubikon-Exklusivgespräch diskutiert Walter van Rossum mit Michael Andrick und Ulrike Guérot über die Frage, wie wir leben wollen.
Die Frage klingt naiv, aber sie bleibt elementar. Erstaunlich nur, dass niemand sie zu stellen wagt. Wie ist das möglich, wo wir doch angeblich Kinder der freiesten aller Welten sind? Vielleicht gehorchen wir eher den Imperativen des Realen, der normativen Macht des Faktischen. Damit setzt sich Michael Andrick in seinem großartigen Buch „Erfolgsleere: Philosophie für die Arbeitswelt“ auseinander. Für Ulrike Guérot ist die Zeit des Aufbruchs gekommen. In ihrem Bestseller „Wer schweigt, stimmt zu: Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen“ erklärt sie den Krieg gegen das Leben für beendet und das Fest des Lebendigen für eröffnet. Walter van Rossum führte mit beiden Autoren ein anregendes Gespräch, das sich nicht auf die Kritik am Bestehenden beschränkt, sondern einen Schritt weiter geht: auf das Neue zu, das wir zu erschaffen versuchen.
„Wir werden uns nicht auf diese Technologien verlassen und uns die Echtheit nicht nehmen lassen“, sagt Ulrike Guérot, die in den letzten Jahren und Monaten Rückgrat bewies und dafür zeitweise zur öffentlich meistgebashten Frau Deutschlands wurde.
„Wir werden alle Systeme — das Geld- und das Wissenschaftssystem und, das Gesundheitssystem und das Wirtschaftssystem, das Justizsystem und das Schulsystem — neu starten. Wir werden unsere Seelen boostern, damit sie für eine erneute Vergewaltigung der Menschlichkeit nicht mehr anfällig sind.“
Die großartige Vision eines Neustarts, die mit Klaus Schwabs dystopischem Szenario zum Glück nichts zu tun hat. Denn gemeint ist eine Renaissance im Interesse der Menschen, nicht der Apparate.
Es ist die Zeit des Aufbruchs aus einer implodierenden „Ordnung“, Zeit den technokratischen Phantasien der Verfechter des Great Reset mit unseren Wünschen den Weg zu versperren. Wir müssen nicht nur raus aus dem System, das System muss raus aus uns. Wer nicht weiß, wie er eigentlich leben will, läuft Gefahr, gelebt zu werden. Die Kräfte, die uns nach ihrem Gusto (ver)formen wollen, stehen schon bereit. Jeder Widerstand beginnt folglich damit, dass wir uns bewusst werden, wer wir sind und wie wir leben wollen.
Walter van Rossum im Gespräch mit Michael Andrick und Ulrike Guérot