Die Arroganz der Macht
Statt sich wegen seiner Großartigkeit selbst auf die Schulter zu klopfen, sollte der Westen endlich beginnen, den Ostdeutschen zuzuhören.
Der 9. November: Ein Datum, welches alles Widersprüchliche und Unvollkommene der deutschen Geschichte in sich vereint. Als ich 1973 das Licht der Welt erblickte, lagen zwei mit ihm verknüpfte Ereignisse, Novemberrevolution und Reichskristallnacht, bereits in ferner Vergangenheit. Und der nächste historische 9. November sollte noch 16 Jahre auf sich warten lassen. 16 Jahre, in denen ich eine typische DDR-Kindheit und -Jugend erlebte, die genauso widersprüchlich war wie der 9. November, dieses zum Schicksalstag der Deutschen gewordene Datum. Alles andere als geradlinig und widerspruchsfrei verlief dann auch die Zeit danach. Das eigene Erleben als geborener „Ossi“ kritisch zu reflektieren, es in die zugrundeliegenden historischen und gesellschaftlichen Prozesse einzuordnen und daraus schließlich Lehren für eine im Sein verankerte Lebensweise zu ziehen, ist alles andere als leicht und kann eigentlich nur scheitern. Ich möchte es dennoch nach bestem Wissen und Gewissen versuchen.
Abwesende Eltern
Während mein Vater seinen Wehrdienst am „antifaschistischen Schutzwall“ leistete und zum Glück nie in die Verlegenheit geriet, zwischen Gewissen und Schusswaffengebrauch entscheiden zu müssen, trat meine Mutter kurz nach meiner Geburt ihre erste Stelle als Lehrerin an einer neu gebauten Schule in einer auf der grünen Wiese errichteten Plattenbausiedlung an. Und so besuchte ich, wie die meisten Kinder meiner Generation, schon im Babyalter die Kinderkrippe.
Mütter im Konflikt
Ob eine Mutter in der DDR ihr Baby bereits nach wenigen Wochen in die Krippe brachte, war in den seltensten Fällen das Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung zwischen dem Bedürfnis nach der Betreuung der eigenen Kinder und dem Interesse an beruflicher Verwirklichung, sondern eine doppelte Notwendigkeit. Einerseits benötigte die Gesellschaft der DDR alle zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, also auch Frauen. Und andererseits war für die Frauen in der DDR die Erwerbsarbeit ökonomisch notwendig, damit der Familie ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung stand.
Ab 1976 hatten Frauen zwar die Möglichkeit, ein Jahr Erziehungsurlaub bei voller Lohnfortzahlung in Anspruch zu nehmen. Allerdings galt dies erst ab dem zweitgeborenen Kind. Das bezahlte Babyjahr bereits ab dem Erstgeborenen wurde gar erst 1986 eingeführt. Konkret bedeutete dies also, dass sich die Mütter aller vor 1976 geborenen Kinder und aller vor 1986 Erstgeborenen nach Ablauf der Mutterschutzfristen entscheiden mussten, ob sie auf ihr Einkommen oder auf die Betreuung ihrer Kinder verzichteten. In die Wendezeit schwappte folglich eine ganze Welle frühbetreuter Kinder und mit ihren Gewissenskonflikten beladener Mütter.
Fortbestehende Unterdrückung der Weiblichkeit
Dieses System der Abhängigkeit junger Mütter von der Erwerbsarbeit wurde ideologisch als Gleichberechtigung der Frau dargestellt. Tatsächlich aber rüttelte es nicht an den Wurzeln ihrer Unterdrückung, sondern modifizierte sie nach den speziellen Anforderungen, die sich im staatssozialistischen System stellten. Diese Wurzeln reichen zumindest in die frühe Neuzeit, in die Phase des allmählichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, zurück.
In einem brutalen Prozess der Verdrängung des Weiblichen, der in den Hexenverfolgungen seinen sichtbarsten Ausdruck fand, wurde den Frauen die mechanistische Funktion zugewiesen, in Form von kostenloser Hausarbeit die Erwerbsfähigkeit des Mannes zu reproduzieren, ihn also täglich so aufzupäppeln, dass er physisch in der Lage war, fremdbestimmte Arbeit zu leisten. Männer wurden in Lohnarbeit und Frauen in kostenlose Reproduktionsarbeit gepresst. Darüber hinaus wurde die Frau in diesem Prozess der ursprünglichen Akkumulation des weiblichen Körpers auf ihre Funktion als Gebärerin zukünftiger Arbeitskräfte reduziert (1).
Während diese Rollenverteilung im Westen weitgehend erhalten blieb, kam für die Frauen im Osten hinzu, dass sie zusätzlich zur Hausarbeit selbst zur Lohnarbeit gezwungen waren und ihnen für die Gewinnung der hierfür benötigten Zeit die Kinderbetreuung frühzeitig und umfassend vom Staat abgenommen wurde.
Tatsächlich kann also von der viel beschworenen Emanzipation der Frauen in der DDR kaum gesprochen werden, soweit dies beinhaltete, dass Mütter ihre zum Teil kaum acht Wochen alten Babys in die Krippe bringen mussten. Ich vermag keinen gesellschaftlichen Fortschritt darin zu erkennen, Mütter und Kinder voneinander zu trennen und bis hin zur Entfremdung leiden zu lassen. Ich selbst benötigte lange Jahre und Hilfe von außen, um mich der schmerzlichen Einsicht zu stellen: Meine kindlichen Bedürfnisse, um mich psychisch gesund entwickeln zu können, wurden im System der sehr frühen Fremdbetreuung objektiv verletzt.
Natürlich bestanden die genannten ökonomischen und gesellschaftlichen Zwänge, in denen sich Frauen wie meine Mutter befanden. Dennoch ist es unabdingbar, die frühe Trennung der meisten DDR-Kinder von ihren Müttern als kollektive Traumatisierung einer ganzen Generation, mit allen bis heute wirkenden Problemen, zu begreifen.
Es wird viel darüber gesprochen, mit welchem Hass und welcher Gewalt sich gerade im Osten die Angst vor dem Verlust von Heimat, Tradition und Werten äußert. Es wäre interessant herauszufinden, in welcher Beziehung dies zur frühzeitigen Trennung der Betroffenen von ihren Müttern steht und ob das Fremde, in all seinen verschiedenen Facetten, letztlich nur ein Trigger ist, der die verdrängte Erfahrung der eigenen frühkindlichen Entfremdung schmerzlich weckt. Sicherlich lässt sich der sogenannte „Rechtsruck im Osten“ nicht monokausal als Folge der flächendeckenden Krippenerziehung erklären. Ein Teil der Erklärung dürfte sich aber hierin finden lassen.
Arme und reiche Provinzen im System der Megamaschine
Manch ein Leser mag sich an dieser Stelle fragen, was bis ins ausgehende Mittelalter zurückreichende Ausführungen über die Unterdrückung des Weiblichen in einem Artikel zu suchen haben, in welchem es vordergründig um persönliche Erfahrungen vor, während und nach der sogenannten Wende gehen soll. Mir war dieser Einschub jedoch wichtig, um exemplarisch zu verdeutlichen, dass auch der Staatssozialismus der DDR nur ansatzweise an dem rüttelte, was Fabian Scheidler die „vier Tyranneien“ nennt, welche die in den letzten 5000 Jahren hervorgebrachte „Megamaschine“ am Laufen halten.
Auch die DDR war, wie die Konkurrenz im Westen, ein auf physischer, struktureller und ideologischer Gewalt basierendes und im mechanistischen und anthropozentrischen Denken verhaftetes Herrschaftsmodell. Die DDR war zwar, was die soziale Frage betraf, der bislang fortschrittlichste Herrschaftsentwurf auf deutschem Boden. Unter der Geltung des Grundgesetzes wiederum verwirklichte sich bislang am umfassendsten die Freiheit des Individuums.
Die Symbiose von Gleichheit und Freiheit gelang aber keinem der beiden Systeme. Sie wird erst dann möglich sein, wenn alle Macht beseitigt ist.
Erst dann kann sich der Einzelne mit seinen individuellen Potentialen voll entfalten. Und da der Mensch, sofern seine Psyche nicht durch Macht und Herrschaft deformiert ist, ein soziales Wesen ist, bringt die volle individuelle Freiheit eine egalitäre Gesellschaft hervor.
Von daher war dieser weite Schwenk notwendig, um klar zu machen, dass ich DDR und BRD als Varianten innerhalb des Systems der Macht betrachte und damit beiden Entwürfen gleichermaßen kritisch gegenüberstehe. Damit dürfte auch für die folgenden Betrachtungen klar sein, dass es mir weder um billige Ostalgie noch um eine Rechtfertigung von Unrecht geht, unter dem in der DDR viel zu viele Menschen litten. Ich halte es mit Hans-Eckardt Wenzel, der so kurz wie treffend meinte, der Westen sei die andere Provinz, nur reicher.
Kindheit in der Gemeinschaft
Soweit also in der Herrschaftsstruktur der DDR die Gleichheit gegenüber der individuellen Freiheit weitaus höher bewertet wurde, bedeutete dies für mich als Kind, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Das klassische Westklischee verknüpft dies allein mit Zwang, Indoktrination, Kontrolle und Verleugnung der eigenen Individualität. Wie soeben ausführlich dargelegt wurde, gab es dies natürlich. Es bedeutete aber auch, dass ich als Teil einer Gemeinschaft von Kindern aufwuchs, die nicht auf den Prinzipien von Leistung, Konkurrenz und Selektion beruhte, sondern in der wir untereinander tatsächlich gleichwertig waren. Kinder waren nicht das Prestigeobjekt ihrer Eltern oder gar der krönende Schritt in deren Karriereplanung. Kinder waren einfach da und zwar sehr zahlreich.
Ich wuchs in einer typischen Plattenbausiedlung auf. All meine Klassenkameraden, mit denen ich zehn Jahre gemeinsam zur Schule ging, wohnten im Umkreis von wenigen hundert Metern in der gleichen Platte. Für uns spielte es keinerlei Rolle, wer oder was unsere Eltern waren. Nennenswerte materielle Unterschiede waren nur dann auszumachen, wenn jemand dank Westverwandtschaft etwas anderes anzuziehen hatte als den Einheitsbrei aus der HO oder wenn jemand seinen Sommerurlaub nicht an der Ostsee oder in der Dahlener Heide verbrachte, sondern in Ungarn oder gar in Bulgarien.
Freiräume in der Unfreiheit
Hatte ich dabei das Gefühl, in einer Diktatur zu leben? Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits waren die Beschränkungen und Grenzen, denen man als Kind und viel bewusster als Jugendlicher in der DDR unterworfen war, offensichtlich. Man konnte nicht überall offen sagen, was man dachte. Freies Reisen war, mit Ausnahme der CSSR, noch nicht einmal in die sozialistischen Bruderländer möglich. Eine von der Propaganda der Partei- und Staatsführung abweichende Presse existierte nicht. Dass es in der eigenen Schulklasse, in der Hausgemeinschaft und sogar innerhalb der Familie Stasi-Spitzel geben konnte, war mir schon damals völlig klar. Aber gerade weil die Beschränkungen so offenkundig waren, lernte ich, kreativ mit ihnen umzugehen und die Nischen der Freiheit in vollen Zügen zu genießen und wertzuschätzen.
Ich hatte Freiräume, in denen ich mich mit meinen Freunden kreativ und ohne Vorgaben der Erwachsenen und des Staates ausleben konnte: Wir gestalteten den brachliegenden Schulclub neu. Heute ist er abgerissen. Wir bastelten uns unsere eigenen Skateboards und bretterten damit Pisten hinab, von denen unsere Eltern lieber nichts erfahren durften. Merchandisingprodukte unserer Lieblingsbands gab es nicht. Also bemalten wir unsere Klamotten selbst. Jeder, der seine Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte, wird sich an dieser Stelle an seine eigenen Geschichten und Erlebnisse erinnern. Die offizielle Linie der Partei- und Staatsführung war in solchen Freiräumen nicht anwesend oder bildete allenfalls ein nicht mehr wahrgenommenes Hintergrundrauschen.
Ich wusste, dass ich Propaganda und Ideologisierung ausgesetzt war. Aber gerade weil dies kein Geheimnis war, sondern offen so benannt wurde, glaubte ich nicht alles, was mir erzählt wurde.
Propaganda ohne Propaganda
Die Jugend heute hat es da viel schwerer. Die Propaganda, die auf sie einwirkt, besteht vor allem in der Behauptung, dass es keine Propaganda gäbe, sondern dass Nachrichten der selbsternannten freien Presse objektive und wertneutrale Berichte über die Wirklichkeit seien. Das macht es ungleich komplizierter, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Dieser propagandalosen Propaganda waren natürlich auch schon meine Altersgenossen ausgesetzt, die in der BRD groß wurden. Und viele, ich fürchte sogar die meisten von ihnen, haben das bis heute nicht begriffen und fühlen sich deshalb dem „Ossi“ überlegen, der so blöd war, sich belügen und täuschen zu lassen, während man selbst in Freiheit und Wahrhaftigkeit aufgewachsen sei.
Tagesschau und Heute-Journal unterscheiden sich insoweit von der Aktuellen Kamera, als dass letztere wenigstens ganz offen zugab, die regierungsamtliche Sicht unter die Leute zu bringen. Tagesschau und Co. käuen auch im Wesentlichen die Sicht der marktkonform agierenden, also dem Kapital dienenden Regierung wieder, bezeichnen dies aber kontrafaktisch als freie und unabhängige Berichterstattung.
Ostdeutsche haben angesichts ihres Erfahrungshorizonts mit offener Propaganda viel eher ein Gespür dafür, wann sie belogen werden. Und deshalb trauen sie sich auch viel eher, das Offenkundige auszusprechen, nämlich dass der Kaiser nackt ist, während sich die noch immer nicht ent-täuschten Westdeutschen der Illusion hingeben, dass die bloße Bezeichnung als freie und unabhängige Berichterstattung bedeute, dass dem auch inhaltlich so sei.
Sozialdarwinismus im Leistungssport der DDR
Eine Ausnahme von dem Gemeinschaftsprinzip, welches meine Kindheit und Jugend in der DDR durchzog, stellte der Sport dar. Und es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass ausgerechnet im einzigen Bereich, in dem der Leistungs- und Konkurrenzgedanke gnadenlos durchgezogen wurde, die DDR der BRD turmhoch überlegen war. Im Westen redet man sich natürlich gerne ein, die sportlichen Erfolge des Ostens seien letztendlich das Ergebnis staatlichen Dopings. Na klar wurde gedopt. Und zwar massiv und auch bereits bei minderjährigen Sportlern. Es wird dabei aber, typisch Doppelmoral, das eigene Dopingsystem geleugnet oder relativiert. Und es wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen, mit welcher Professionalität der Leistungssport bis in die Breite und bis zu den Jüngsten betrieben wurde.
Meine Trainer zum Beispiel — ich war ein mäßig erfolgreicher Schwimmer — waren diplomierte Sportlehrer. Die Zeit, die sie mit uns Knirpsen im Stadtbad verbrachten, wurde ihnen auf die Arbeitszeit in der Schule, an der sie regulär unterrichteten, angerechnet. Wer sich heutzutage im Sportverein als Übungsleiter hinstellt, macht dies meist ehrenamtlich, zusätzlich zum 40-Stunden-Job, und bezahlt die erforderlichen Trainerscheine selbst. Und auch wenn der Leistungssport in der DDR als Kompensation beziehungsweise Ausgleich für die westliche Leistungsgesellschaft erscheinen mag, so war der Zugang zu ihm dennoch egalitär. Fragen wie die, ob man sich als Eltern den Sport des Kindes leisten kann und wie man es während der Woche zum Training und am Wochenende zu den Wettkämpfen fährt, stellten sich nicht.
Veränderungen auf Mikro- und Makroebene
Eingebettet in diese Sozialisierung, kam die sogenannte Wende und mit ihr der 9. November 1989. Ich erlebte diese Zeit wie im Rausch. Im Nachhinein betrachtet, waren es zwei Ebenen der Veränderung, die sich gleichzeitig vollzogen, sich dabei überlagerten und damit — um ein physikalisches Bild zu bemühen — zu einer Resonanz verstärkten. Einerseits war da meine persönliche Situation als pubertierender, nach Ausbruch und Veränderung strebender Jugendlicher. Und andererseits war da dieser Strudel an welthistorischen Ereignissen, die gleichzeitig auf der Makroebene abliefen.
Während also die Jugend in normalen Zeiten gegen starre Gesellschaften aufbegehrt, war mein eigener jugendlicher Drang im Einklang mit der Wucht der gesellschaftlichen Veränderungen. Diese besondere Kombination unterscheidet meine Generation grundlegend von der Generation meiner Eltern. Für die gab es zwar auch Aufbruch und Befreiung. Doch die Freude über die erlangte Reisefreiheit und das Ende der Lähmung und Erstarrung, welche in der Endphase der DDR zunehmend um sich griff, wich alsbald den Schrecken der neoliberalen Schocktherapie, welche unter tatkräftiger Beteiligung eines gewissen Thilo Sarrazin dem Osten verpasst wurde. Die Traumatisierungen und Demütigungen, die damit einhergingen, sind bis heute zu spüren und ein weiterer Teil der Erklärung des sogenannten „Rechtsrucks“.
Jens Wernicke und Andreas Peglau haben hierzu in der Debatte mit Götz Eisenberg bereits Wichtiges gesagt und der Rahmen dieses bereits viel zu langen Beitrages würde gesprengt, wollte ich an dieser Stelle in die Debatte einsteigen.
Schlüsselerlebnis Machtzerfall
Während also die Generation meiner Eltern teils traumatische Erfahrungen machen musste, war es für mich eine Zeit der Befreiung und der unbegrenzten Möglichkeiten.
Was sich mir bei allem Rauschhaften tief einbrannte, war die zutiefst befreiende Erfahrung, dass sich Macht von heute auf morgen und vor aller Augen in Nichts auflösen kann. Genau das ist es, woraus ich bis heute meinen Optimismus ziehe, dass ein Ende von Kapitaldiktatur und ökologischem Kollaps möglich ist.
Dinge, die in Stein gemeißelt schienen, bröselten widerstandslos auseinander, weil es zu viele Menschen gab, die keine Angst mehr hatten. Jeder kennt die Bilder der Grenzsoldaten, die am Abend des 9. November 1989 völlig hilflos die Massen vorbeiziehen ließen. Erinnert sei aber auch an einen fast in Vergessenheit geratenen Aspekt, der den geräuschlosen Zusammenbruch staatlicher Autorität noch viel besser verdeutlicht: Bis zum 9. November 1989 bestand in der DDR am Sonnabend Schulpflicht. An den folgenden Wochenenden hatte aber keiner mehr Bock, sonnabends in die Schule zu gehen, sondern alle wollten erkunden, wie sich der goldene Westen so anfühlt. Dies führte zur klammheimlichen Abschaffung des Sonnabends als Schultag. Stell dir vor, es ist Schule, und keiner geht hin. So einfach war das.
Die Normopathen wechseln die Seite
Während ich die Erfahrung machte, dass staatliche Macht von heute auf morgen implodieren kann, erlebte ich gleichzeitig, wie bisherige Funktionsträger keine Probleme damit hatten, sich den neuen Herren anzudienen, anstatt sich von den Siegern fernzuhalten. Dieses Wechseln der ideologischen Front war mir damals unbegreiflich, heute kann ich es zumindest verstehen. Dass ich nach Studium und Referendariat keine Ambitionen hegte, in den öffentlichen Dienst einzutreten und stets mein eigener Herr sein wollte, ist wohl maßgeblich dieser Wendeerfahrung geschuldet.
Die Rosskur des Konsums
Dass es sich bei dem, was auf den Fall der Mauer folgte, um einen Beitritt handelte, der euphemistisch als Wiedervereinigung umschrieben wurde, war mir damals völlig egal. Mit Einführung der D-Mark gab ich mich hemmungslos einem nachholenden Konsum hin, der mir den Geist vernebelte. Der Preis einer Ware entschied darüber, in welche Lebensbereiche der Kommerz eindrang.
Es war fortan verpönt, aufwändig etwas selbst zu machen, was man billig kaufen konnte. Marmelade wurde nicht mehr selbst gekocht, sondern zum Schleuderpreis bei Aldi gekauft. Pilze sammelte ich nicht mehr mit meinem Opa im Wald, sondern kaufte sie in der Dose. Spaghetti Bolognese — ich aß damals noch Fleisch — bestand aus einer Maggi-Tüte und nicht aus frischen Zutaten. Bekleidung wurde nicht ausgebessert, sondern weggeworfen und neu gekauft. Wertvolles Wissen darüber, wie man zum Beispiel einen Obstbaum selbst verschneidet, wie man aus Samen eine Tomatenpflanze zieht, wie man Klöße kocht und so weiter ging dabei fast verloren und ist heute in vielen ostdeutschen Familien schon nicht mehr vorhanden. Steffen Mensching, der kongeniale Partner von Wenzel, fasste das, was auch mir passierte, wie folgt zusammen:
„Wir — die Ostdeutschen als Teile der westlichen Welt — mussten wohl erst die andauernde Rosskur des Konsums über uns ergehen lassen, um in Ansätzen zu begreifen, dass sich das Leben nicht kaufen lässt oder dass man, wenn man darauf vertraut, mit Ramsch und Junkfood abgespeist wird. Hungernde sind schwer von den Vorzügen der diätischen Lebensweise zu überzeugen“ (2).
Unerkannte Chancen
Wahrscheinlich war ich damals viel zu jung, um dem falschen Glanz der Konsumgesellschaft auch nur ansatzweise zu widerstehen. Ich war mittendrin, statt nur dabei und fand es geil, Markenklamotten zu tragen, eine schnelle Karre zu fahren und irgendwelchen technischen Schnickschnack mein Eigen zu nennen. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, welche Chancen 1989/90 angesichts der allgemeinen Verblendung liegen gelassen wurden. Ich strebte nach beruflichem Erfolg, gründete eine Familie, baute ein Haus. Die Stimme in mir, die mir permanent zurief, dass es das alles nicht gewesen sein kann und ich mich vom Sein immer mehr dem Haben (3) zuwende, erhörte ich erst, als eine gewisse Ruhe einkehrte, insbesondere als meine Kinder älter wurden.
Ich holte meinen Marx wieder hervor, ließ mir von David Graeber (4), Yuval Harari (5) und vom bereits erwähnten Fabian Scheidler (6) größere Zusammenhänge erklären und landete auf diesem Weg schließlich bei der wundervollen Daniela Dahn, deren Buch „Wir sind der Staat!“ (7) mein ständiger Wegbegleiter und Ratgeber ist. Mir wurde klar, welche Chance uns spätestens ab Dezember 1989 aus den Fingern glitt, als aus „Wir sind das Volk“ „Wir sind ein Volk“ wurde. Ab diesem Moment ging es nicht mehr um die Selbstbestimmung (8) der Bevölkerung der DDR, sondern um die Assimilation durch den Westen.
Wiedervereinigung, Beitritt oder gar Annexion?
Mit dem anhaltenden Assimilationsprozess, dem die gesamte ostdeutsche Bevölkerung unterworfen wurde, gingen vielfältige Kränkungen und Verletzungen einher. Dies beinhaltet zunächst einen juristischen Aspekt. Es gab keine echte Wiedervereinigung mit gesamtdeutscher Volksabstimmung über eine Verfassung, welche die besten Ideen und Erfahrungen beider Seiten vereint hätte. Stattdessen erfolgte auf rein parlamentarischem Weg der schnöde Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Bei der gegenwärtigen Überstrapazierung des Begriffes könnte man es im Klartext auch als Annexion bezeichnen, was da am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.
Verzerrtes Geschichtsbild der Sieger
Aus diesem juristischen Akt folgt auch ein völlig verzerrtes Geschichtsbild. Es wird so getan, als habe es von 1949 bis 1990 nur ein einziges und natürlich nur ein richtiges Deutschland gegeben. Die Geschichte der DDR ist nicht Teil der Geschichte Deutschlands, sondern etwas, was außerhalb steht. Die DDR, das ist nichts weiter als ein missliebiger Fremdkörper, der den Stempel „Unrechtsstaat“, „Diktatur“ und „Stasi“ verpasst bekam. Dies ist in mehrfacher Hinsicht äußerst bedenklich.
Einerseits ist die Tendenz festzustellen, dass faktisch alles Unrecht, das in der DDR begangen wurde, über der Stasi und ihren Mitarbeitern ausgekippt wird, womit diejenigen, die außerhalb der Stasi Unrecht begingen, reingewaschen werden. Dabei wird unterschlagen, dass die Stasi kein von Partei und Staat losgelöster Unrechtsapparat war, sondern „Schild und Schwert der Partei“. Ein Schwert, das niemand in Händen hält, ist ungefährlich.
Weiterhin beobachte ich die unsägliche Entwicklung, das DDR-Unrecht auf eine Stufe mit den monströsen NS-Verbrechen zu stellen. Die Angleichung erfolgt aus drei Stoßrichtungen: durch Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen, durch Überzeichnung des in der DDR begangenen Unrechts sowie durch Ausblendung des eigenen Unrechtes.
Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen
Die NS-Zeit wird mehr und mehr auf die Shoa reduziert und dabei so getan, als habe es sich um einen Betriebsunfall der Geschichte gehandelt, der allein dem Irren aus Braunau geschuldet sei. Dass dieser völlig bedeutungslos geblieben wäre, hätte es nicht auch ein Volk gegeben, das einen Führer wollte, wird immer mehr verdrängt. Verdrängt wird auch die tief an der Wurzel des Faschismus ansetzende Frage, warum genau das Volk geführt werden wollte. Die Beantwortung dieser Frage führt zwingend zur Entfremdung des Menschen von sich selbst in einem auf Leistung, Konkurrenz und allumfassender Warenförmigkeit beruhenden System und damit zur bekannten Feststellung, dass man über den Faschismus schweigen sollte, wenn man über den Kapitalismus nicht reden will.
Von den 27 Millionen Menschen, die Opfer des gegen die Sowjetunion geführten rassenideologischen Vernichtungskrieges wurden, wissen die Jungen heute kaum noch etwas. Stattdessen stehen deutsche Soldaten wieder vor den Toren von St. Petersburg, wo ihre Vorfahren eine Million Einwohner allein zum Zwecke ihrer Vernichtung aushungerten.
Und wenn man doch etwas über den Krieg gegen die Sowjetunion erfährt, so wird dieser in alter russophober Manier „Russlandfeldzug“ genannt, was die ukrainischen und weißrussischen Opfer verschwinden lässt. Und über Sinti und Roma, Kommunisten und andere nicht ganz so beleumundete Opfer schweigt man sich lieber ebenso aus wie über die Verbrechen, die in Polen, Jugoslawien, Griechenland, Italien und so weiter begangen wurden. Mich widert diese die Opfer missbrauchende Selektion an, wobei man mir die zynische Wortwahl verzeihen möge.
Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime
Zur Gleichsetzung von NS-Diktatur mit DDR-Unrecht gehört nicht nur die sich verengende Einhegung der NS-Verbrechen und die fehlende Aufarbeitung ihrer Ursachen, sondern gleichzeitig die Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime. Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass man die DDR gedanklich an die Sowjetunion anheftet und diese wiederum allein auf Stalins monströse Verbrechen reduziert. Diese Vorgehensweise ist zwar grober Unfug, denn in der DDR gab es keine Gulags, keine politischen Säuberungswellen, keine politisch verursachten Hungersnöte.
Das eigentliche „Verbrechen“ der DDR bestand aus Sicht der siegreichen Geschichtsschreiber darin, sich am heiligen Privateigentum vergriffen und die Gewichtung von bürgerlichen und sozialen Grundrechten falsch herum vorgenommen zu haben. In der UN-Menschenrechtscharta sind übrigens beide gleichrangig verankert.
Leugnung der eigenen Verbrechen
Zu den fatalen Entwicklungen gehört freilich auch, dass man das Unrecht des eigenen Systems leugnet oder zumindest nicht in einen vernünftigen Kontext zu den Vorwürfen gegenüber der DDR setzt.
Gegen das, was NSA, CIA und Co. so alles ausschnüffeln, sammeln und an Grund- und Menschenrechten verletzen, war die Stasi vergleichsweise harmlos.
Und was die mörderische Handels-, Sanktions- und Interventionspolitik der selbstherrlichen westlichen Wertegemeinschaft gegenüber dem globalen Süden an einem Tag an Toten produziert, hat die Berliner Mauer in den gesamten 28 Jahren ihres Bestehens nicht geschafft.
Doch hinter diesen juristischen und historischen Betrachtungen bleibt verborgen, unter welchen konkreten Demütigungen und Verletzungen viele Ostdeutsche bis heute leiden. Welches Ausmaß an Ignoranz ihnen die westdeutsch geprägte öffentliche Meinung entgegenbringt, soll anhand einiger Beispiele näher veranschaulicht werden.
Zu blöd für den Grünpfeil
Von den Menschen im Beitrittsgebiet wurde erwartet, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit an ein neues Gesellschafts- und Rechtssystem anpassen. Fast alle ostdeutschen Familien waren von Arbeitslosigkeit betroffen und das Erlernen eines neuen Berufes war nicht die Ausnahme, sondern die Regel (9). Für die Bevölkerung im Altbundesgebiet änderte sich hingegen nichts. Falls doch, waren es unwesentliche Neuerungen wie der berühmte „Grüne Pfeil“, den man als eher symbolische Geste an die Ostdeutschen auch im Westen einzuführen versuchte, was aber in der Praxis an teils grotesker Begriffsstutzigkeit der Verkehrsteilnehmer scheiterte und bewirkte, dass der Grünpfeil nur mit erheblichen Einschränkungen gegenüber der im Osten geltenden Regelung eingeführt wurde.
Man kann sich unschwer vorstellen, wie demütigend es für einen Menschen ist, dessen bisherige Biographie komplett entwertet wurde, der tiefgreifende soziale Veränderungen meistern und sich in einem völlig neuen Rechtsrahmen zurechtfinden musste, wenn er feststellt, dass die Bevölkerung auf der anderen Seite des ehemals Eisernen Vorhanges es nicht einmal hinbekommt, mit einer neuen Verkehrsregel klarzukommen. „Ihr verlangt von uns ganz selbstverständlich, dass wir von heute auf morgen all eure Regeln beherrschen, seid aber selbst zu blöd, selbstständig zu entscheiden, ob ihr bei Rot rechts abbiegen könnt?“ So oder ähnlich dachte nicht nur ich, als der Grünpfeil 1994 auch im Westen in modifizierter Form eingeführt wurde.
Neuer Wein aus alten Krügen
Seit einigen Jahren ist es Mode, Bewährtes aus der DDR als Neuerfindung unter geändertem Namen auszugeben. „Ganztagesschule“ nennt sich jetzt das, was in der DDR selbstverständlich war, nämlich eine Schule, in der nach dem Unterricht Arbeitsgemeinschaften angeboten werden und in der ein Schulhort für die Früh- und Nachmittagsbetreuung von Kindern berufstätiger Eltern eingerichtet ist.
„MVZ“ ist die Bezeichnung für die Konzentration von Arztpraxen verschiedener Fachrichtungen an einem Standort. In der DDR gab es das schon lange und nannte sich Poliklinik.
„Nachwuchsleistungszentren“ richtete der DFB zur gezielten Förderung von Fußballtalenten ein. In der DDR gab es so etwas nicht nur im Fußball, sondern in allen olympischen Sportarten, und das wurde dort Trainingszentrum genannt.
Ostdeutsche empfinden nicht nur die Kaperung ihrer guten Ideen als Kränkung, sondern vor allem die Weigerung des Westens, einfach mal zuzugeben, dass der Osten Seiten hatte, von denen der Westen lernen konnte.
Fachidiotenüberschuss
Die Klagen über den vermeintlichen „Fachkräftemangel“ reißen nicht ab. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Mangel an Fachkräften, sondern um einen Mangel an Ausbildung. Das auf Pisa und Bulimielernen getrimmte Bildungssystem bringt in der Masse angepasste Fachidioten mit Vordiplom, neudeutsch Bachelor genannt, hervor, während die ganzheitliche Vermittlung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge und handwerklicher Fertigkeiten auf der Strecke bleibt. Gleichzeitig wird das DDR-Bildungssystem, welches eben diesen Ansatz verfolgte, verteufelt, indem es auf Staatsbürgerkunde und Fahnenappelle reduziert wird. Das ist aus ostdeutscher Sicht grotesk und anmaßend.
Verhöhnung der Mundarten
Ein Thema, das mich persönlich besonders ärgert und meines Erachtens auch viel zu wenig beachtet, geschweige denn sozialwissenschaftlich untersucht wird, ist die allgegenwärtige Belächelung und Verhöhnung der im Beitrittsgebiet gesprochenen Dialekte, insbesondere der in Sachsen und Ostthüringen gesprochenen obersächsischen Mundarten.
In der öffentlichen Meinung wird ein Bild gepflegt, wonach der typische Ossi Sächsisch spricht und dabei leicht dümmlich daherkommt. Wird geistiger Dünnpfiff auf Hochdeutsch vorgetragen, kommt das immer noch besser an als qualitativ Hochwertiges auf Sächsisch.
Dies führt dazu, dass Sachsen ihre Sprache in der Öffentlichkeit verleugnen. Dies geschieht entweder dadurch, dass sie auf Krampf versuchen, Hochdeutsch zu reden oder indem sie ganz die Klappe halten. Denn sobald man den Mund aufmacht und anhand seines Dialektes identifiziert wird, wird man auf eben diesen reduziert. Ostdeutsche und speziell Sachsen sind damit einer speziellen Form der Diskriminierung ausgesetzt. Hierin liegt, wie bei jeder anderen Form von Diskriminierung, sozialer Brennstoff.
Aus dem Gefühl, nicht als vollwertiger, richtiger Deutscher akzeptiert zu sein, könnte durchaus die Tendenz entspringen, sich die fehlende Anerkennung anderweitig zu beschaffen. Zum Beispiel, indem man nationalkonservativ oder gar völkisch wählt.
Bislang ist mir noch keine Studie begegnet, die den möglichen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Zurückweisung aufgrund des Dialektes und dem Wahlverhalten der betreffenden Person untersucht hätte. Es ist an der Zeit, dies anzugehen. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung kein Problem ist, süddeutsche Dialekte zu sprechen. Wenn Laura Dahlmeier unverständliche Sätze auf Bayrisch bildet, ist das irgendwie niedlich und authentisch. Redet Michael Ballack Sächsisch, liefert er die perfekte Comedy-Vorlage.
Gnadenakt „Teil der gesamtdeutschen Geschichte“
Den letzten und vielleicht wichtigsten Punkt betrifft die Unkenntnis der meisten Westdeutschen über Sportler, Künstler, Filme, Bücher, Lieder, Ereignisse und Daten, welche die Menschen im Osten geprägt und begleitet haben. Umgekehrt, und das macht dann wütend, wird vom Ossi erwartet, dass er sich mit den Entsprechungen im Westen gefälligst auszukennen habe. Hierzu ein paar kleine Beispiele:
Was fällt dem Leser zum Zehnkampf der Männer bei den Olympischen Sommerspielen 1988 ein? Dass sich alles um Jürgen Hingsen drehte, dieser aber bereits bei der ersten Teildisziplin ausschied? Oder dass Christian Schenk Olympiasieger wurde und den Grundstein hierfür mit einem anachronistischen Hochsprung legte?
Woran denkt der Leser, wenn es um die Hymne der Wendezeit geht? An die Scorpions, die es nicht einmal fertig brachten, auf ihrer Tour 1990/91 im Osten zu gastieren? Oder an Karussell, die das Gefühl eines ganzen Landes musikalisch erfassten?
Jetzt mag man einwenden, dass doch jüngst Sigmund Jähn verstarb und die Tagesschau dabei stolz verkündete, der erste Deutsche im All sei mittlerweile ein „Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte“. Genau das ist das Problem!
Ostdeutsche Geschichte bedarf eines gesonderten Aufnahmeaktes, um zur Geschichte des Siegers, euphemistisch „gesamtdeutsche Geschichte“ genannt, dazugehören zu dürfen. Westdeutsche Geschichte ist stets und ganz selbstverständlich „gesamtdeutsch“, ostdeutsche jedoch nur dann, wenn es in den Kram passt.
Perspektivenwechsel
Woran also klemmt es, wenn es um die vielbeschworene „Vollendung der Einheit“ geht? Doch wohl nicht daran, dass der Osten hinterherhängt, sondern eher daran, dass der Westen aufgefordert ist, sich nicht nur mit sich und seiner eigenen Großartigkeit zu befassen, sondern endlich dem Osten zuzuhören und so langsam mal zu begreifen, dass man vom Osten viel, auch über sich selbst, lernen kann.
Doch letztlich ist das Gerede um die „Vollendung der Einheit“ nur eine Phantomdiskussion, wenn es, wie erörtert, keine „Wiedervereinigung“, sondern einen Beitritt mit dem Versuch der Assimilitation seiner Bevölkerung gab. Trotz dieser harsch erscheinenden Einschätzung will ich natürlich nicht die DDR zurück und mir ist das Zusammenleben der Menschen in diesem Land natürlich nicht egal. Worum es mir geht, ist ein Perspektivenwechsel. Ich möchte, dass sich der Blick auf das Schöne, Vielfältige, Lebendige und Verbindende richtet: Auf die wahren Helden unseres Gemeinwesens in Ost und West, die ehrenamtlich Dienst bei der Feuerwehr leisten, die die Sport- und Kulturvereine am Leben halten, die sich an der Basis mit Taten und nicht mit schwulstigen Worthülsen für ein friedliches Zusammenleben und gegen Menschenfeindlichkeit in all seinen hässlichen Formen einsetzen.
Auf das beste Brot der Welt, das es in all seiner Vielfalt nur im Osten und Westen dieses Landes gibt.
Auf den deutschen Wein, der aus einzigartigen und in ihren Charakteren so verschiedenen, in ihrer Schönheit jedoch gleichen Anbaugebieten stammt. In Ost und West.
Auf die Vielfalt, Herzlichkeit und Schrulligkeit unserer Dialekte. In Ost und West.
Auf die Vielfalt der Architektur und Kulturdenkmäler. Vom reetgedeckten Haus an der Nordsee bis zur Almhütte in den Alpen, vom Aachener Dom bis zum sorbischen Dorf ganz im Osten.
Auf die Schönheit unserer Natur und auf den Frieden, den wir in unseren Wäldern finden. In Ost und West.
Auf die Gnade, in einem Land leben zu dürfen, in dem ein Menschenleben nicht reicht, um all die schönen Orte und Landschaften zu erkunden, die es zu erkunden gilt. In Ost und West.
Auf all die großartigen Musiker, Tänzer, Schauspieler und auf all die weiteren kreativen Künstler, die unsere Herzen auf den großen und kleinen Bühnen berühren, in Ost und West.
Auf die Menschen, deren Masken fallen, sobald man auf sie zugeht, mit ihnen spricht und ihnen wirklich zuhört. In Ost und West.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Silvia Federici: Caliban und die Hexe — Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Wien 2012
(2) Gespräch mit Steffen Mensching: faulheit & arbeit vom 26./27.10.2019, Nr. 249
(3) Erich Fromm: Haben oder Sein — Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München 1979
(4) David Graeber: Schulden — Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012
(5) Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2013
(6) Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine — Geschichte einer scheiternden Zivilisation, Wien 2015
(7) Daniela Dahn: Wir sind der Staat! — Warum Volk sein nicht genügt, Hamburg 2013
(8) von echter, direkter oder richtiger Demokratie möchte ich in dem Zusammenhang nicht sprechen: https://www.rubikon.news/artikel/wollen-wir-wirklich-demokratie
(9) ausführliche Daten hierzu: Olaf Struck, Matthias Rasztar, Reinhold Sackmann, Ansgar Weymann, Matthias Wingens: Die Generation der Wendezeit — erfolgreich, nüchtern und enttäuscht, Bremen 1998, online abrufbar unter http://www.sfb186.uni-bremen.de/download/paper49.pdf