Die antidemokratische Triebfeder
Die Vorstellung einer Elitenherrschaft ist keine neue Idee, sondern bestimmt schon lange westliche Denktraditionen. Exklusivauszug aus „Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise“.
Die westliche Demokratie ist, ebenso wie die Öffentlichkeit, in eine Krise geraten. Diese Krise ist jedoch nicht vom Himmel gefallen, sie hat klar erkennbare Ursachen, Akteure und auch eine gut dokumentierte Vorgeschichte. Medien als Hauptinstrument der demokratischen Öffentlichkeit sind ein Teil dieses Problems. Aber auch gegenwärtige Formen von Herrschaft und die Perspektive der Herrschenden auf die Beherrschten sind bestimmende Elemente der Krise der Öffentlichkeit — und damit der Krise der Demokratie. Auszug aus dem Sammelband „Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise“ von Dennis Kaltwasser und Hannah Broecker, der die Beiträge einer Konferenz wiedergibt, die 2023 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München abgehalten wurde.
Angesichts des bemerkenswerten und sich beschleunigenden Auseinanderdriftens von demokratischem Selbstverständnis und politischer Realität in den westlichen Gesellschaften drängt sich die Frage auf, ob es sich hierbei lediglich um ein emergentes Phänomen, gewissermaßen um einen gesellschaftlichen Unfall in Zeitlupe handelt. Während die oben diskutierten demokratischen Prinzipien zum jederzeit abrufbaren Kernbestand der gegenwärtigen politischen Bildung gehören (1), ist sowohl im gesellschaftlichen Bewusstsein als auch im hegemonialen Demokratiediskurs die Tatsache deutlich schwächer präsent, dass eine lange dominante Denktradition von der Antike bis in die Gegenwart existiert, die diesen Idealen nicht nur feindlich gegenübersteht, sondern aktiv deren Überwindung zum Ziel hat.
Gemeint ist damit nicht ein konkretes politisches Programm und auch keine philosophische Schule, auch wenn Philosophen und Intellektuelle in unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen diese Ansichten zu allen Zeiten vertreten haben.
Es handelt sich hierbei vielmehr um eine grundsätzlich illiberale Haltung, die aus einem reduktionistischen Menschenbild und einer teleologischen Weltanschauung fließt.
Ihre großen Linien können im Rahmen dieses Beitrags nur holzschnittartig umrissen werden.
Wichtigstes Element dieser ideengeschichtlichen Strömung ist die Annahme, dass die Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund unterschiedlicher intrinsischer, meist intellektueller Qualitäten über unterschiedliche Rechte verfügen und auch unterschiedliche Aufgaben übernehmen müssen — das Prinzip der natürlichen Gleichheit aller Bürger und die mit ihr verbundenen Werte der Freiheit und der Selbstbestimmung werden hier als fundamental verfehlt angesehen. Über das Selbstbild dieser moralisch-intellektuellen Elite schreibt Thomas Sowell:
„(D)ie Vision der Auserwählten (ist) nicht nur eine Vision der Welt und ihres Funktionierens in einem kausalen Sinn, sondern auch eine Vision ihrer selbst und ihrer moralischen Rolle in dieser Welt. Es ist eine Vision der differenzierten Rechtschaffenheit. Es ist keine Vision der Tragödie des menschlichen Daseins: Es gibt Probleme, weil andere nicht so weise oder so tugendhaft sind, wie die Auserwählten“ (Sowell 1995, 5).
Den resultierenden Gegenentwurf zu gleichberechtigter demokratischer Partizipation finden wir dabei in Spielarten einer auf Grundlage einer szientistischen Managementideologie von Eliten gesteuerten Gesellschaft. Besonderen Stellenwert hat dabei die Idee der Gefahrenabwehr, wie Sowell weiter ausführt:
„Trotz der großen Vielfalt an Themen in einer Reihe von Kreuzzügen der Intelligentsia während des 20. Jahrhunderts waren einige Schlüsselelemente den meisten von ihnen gemeinsam:
1. Die Behauptung einer großen Gefahr für die gesamte Gesellschaft, einer Gefahr, der sich die Masse der Menschen nicht bewusst ist.
2. Dringender Handlungsbedarf, um eine drohende Katastrophe abzuwenden.
3. Die Notwendigkeit für die Regierung, das gefährliche Verhalten der Vielen drastisch einzuschränken, als Reaktion auf die vorausschauenden Schlussfolgerungen der Wenigen.
4. Eine verächtliche Ablehnung gegenteiliger Argumente als entweder uninformiert, unverantwortlich oder von unwürdigen Absichten motiviert“ (siehe Ebenda).
Die Legitimation des notwendigen Herrschaftsanspruches leitet sich einerseits aus einer angenommenen besonderen Fähigkeit der herrschenden Klasse (oder, bis diese gesellschaftliche Position erreicht ist: der revolutionären Avantgarde) zu rationalem Denken — beziehungsweise in der Folge der Scientific Revolution zu „wissenschaftlicher“ Erkenntnis auf der Basis empirischer Daten — und andererseits aus einer materialistisch fundierten utilitaristischen Moralphilosophie ab, die jedoch häufig nur implizit vorausgesetzt wird. Metaphysisch begründete Seinsordnungen oder Moralvorstellungen werden als primitiv oder reaktionär abgelehnt. Prominente Beispiele hierfür sind Comtes Bemerkungen zu den „theologisch-metaphysischen Vorstellungen“ in der „Kindheitsperiode der Menschheit ((1994 [1844], 24) oder bereits (1770 d’Holbachs Système de la Nature)), in der religiöse Moralgrundlagen kategorisch abgelehnt werden:
„Diese Verblendung zeigt sich auch in der Moral. Die Religion, die von jeher nur auf der Unwissenheit basierte und sich von der Einbildungskraft leiten ließ, gründete die Moral nicht auf die Natur des Menschen, auf seine Beziehungen zu anderen Menschen, auf die Pflichten, die sich notwendig aus diesen Beziehungen ergeben: sie errichtete die Moral lieber auf den imaginären Beziehungen, die zwischen dem Menschen und unsichtbaren Kräften bestehen sollen, die sie sich aufs Geratewohl ausgedacht hatte (...)“ (d’Holbach (1978 [1770], 275).
Die prototypische Utopie des in Abgrenzung zu metaphysischen Ordnungssystemen entworfenen wissenschaftlichen Humanismus’ besteht in der Ein- und Zurichtung einer ,nachhaltigen‘, auf die Berechnung und Zuteilung von Ressourcen (2) fokussierten, technisch effizienten, post-politischen und gerade deshalb ,optimal funktionierenden‘ Gesellschaftsordnung, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Prinzipien in einem kontrollierten Equilibrium gehalten wird (3).
Zum Zweck der legitimatorischen Absicherung wird bereits seit der Antike dieses angestrebte Gleichgewicht neben der bereits erwähnten Gefahrenabwehr häufig mit einer „gerechten Gesellschaft“ (vergleiche Platons Politeia), seit dem 18. Jahrhundert auch mit dem Topos sozialer Gerechtigkeit in Verbindung gebracht oder gar mit dieser gleichgesetzt. Von dort aus sind eine Reihe weiterer Formen der Gerechtigkeit als legitimatorische Grundlage der illiberalen Gesellschaftssteuerung entwickelt worden: Ökologische Gerechtigkeit (vergleiche BP03), Geschlechtergerechtigkeit (vergleiche UN01), Klimagerechtigkeit (vergleiche Macquarie 2022), Impfgerechtigkeit (vergleiche Privor-Dumm et al. 2023), Queer-Gerechtigkeit (vergleiche SCSJ: „Social Justice is Queer Justice“, SC01; „Remarks by President Biden and First Lady Jill Biden at Pride Celebration“, WP01), um nur einige zu nennen.
Fast ein Jahrhundert vor der Entstehung der Technokratie-Bewegung in den 1930er Jahren (4) finden wir diese Ideen bereits bei sozialistischen Vordenkern wie Auguste Comte, dem gleichzeitigen Mitbegründer der positivistischen Denkschule und der akademischen Disziplin der Soziologie, welcher in seiner von szientistischen Glaubenssätzen geprägten Rede über den Geist des Positivismus von 1844 beklagt,
„...dass die grundlegende Beziehung von Wissenschaft und Technik bisher notwendig selbst von den besten Geistern infolge der ungenügenden Ausdehnung der Naturwissenschaft, die den wichtigsten und schwierigsten, unmittelbar die menschliche Gesellschaft betreffenden Forschungsgebieten noch fern geblieben ist, nicht angemessen erfasst werden konnte. In der Tat ist die rationale Auffassung von der Einwirkung des Menschen auf die Natur auf diese Weise wesentlich auf die anorganische Welt beschränkt geblieben, woraus sich ein allzu unvollkommener Anreiz für die Wissenschaft ergab. Wenn diese große Lücke einmal hinlänglich ausgefüllt sein wird, womit man heute beginnt, wird (…) die Technik (…) nicht mehr ausschließlich geometrisch, mechanisch oder chemisch usw. sein, sondern auch und in erster Linie politisch und moralisch“ (Comte 1994 [1844], Seite 32 fortfolgende).
In der Anwendung einer solchen wissenschaftlich fundierten Sozialtechnik hat das Individuum mit seinen Bedürfnissen und Eigenheiten, mit seinen Wünschen, Überzeugungen und Vorstellungen keinen Platz mehr. (5) Folgerichtig gibt es für den Comte’schen Positivismus
„...nicht den eigentlichen (individuellen) Menschen, sondern nur die Menschheit, denn unsere gesamte Entwicklung danken wir – unter welchem Gesichtspunkt man sie auch betrachten mag – der Gesellschaft. Wenn die Idee der Gesellschaft noch (immer) eine Abstraktion unseres Geistes zu sein scheint, so liegt das vor allem an der alten philosophischen Denkweise; denn in Wahrheit kommt der Idee des Individuums (...) diese Bezeichnung zu“ (Siehe Ebenda, Seite 80).
Wenn jedoch die Gesellschaft sich nicht als das Ergebnis individueller Perspektiven und ihrer politischen Aushandlung konstituiert, kann und muss in dieser kollektivistischen und positivistischen Perspektive ,die Wissenschaft‘ die Regie bei der Einrichtung des politischen und ökonomischen Lebens übernehmen. Diese radikale Abkehr von partizipativen Prinzipien ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass in Frankreich wenige Jahre zuvor mit spektakulärer Brutalität gegen die vormaligen Autoritäten die feudal-ständische durch eine ostentativ bürgerlich-liberale Gesellschaft ersetzt wurde. Walter Ulbricht bringt diese szientistische Überzeugung als einer der zahlreichen Erben des Comte’schen positivistischen Denkens zum Ausdruck, wenn er sagt:
„Die Entwicklung des sozialistischen Systems, vor allem die Verwirklichung des Wirtschaftssystems als Ganzes, ist in zunehmendem Maße eine Frage der wissenschaftlichen Führung. (...) Wir orientieren uns an der bewussten wissenschaftlichen Steuerung komplexer Prozesse und Systeme durch den Menschen und für den Menschen. In diesem Sinne bedienen wir uns der Kybernetik“ (Walter Ulbricht, 2. Mai 1968; zitiert nach Brzezinski 1970, Seite 170).
Hier wird offenbar, dass „durch den Menschen“ in keiner sinnvollen Interpretation wissenschaftliche Steuerung „durch alle Menschen“ meinen kann, sondern nur Führung durch eine wissenschaftliche Elite. Die Unterwerfung des Individuums unter das Diktum einer Expertenkaste und die Ausübung von Zwang ist in dieser technokratisch-kollektivistischen Perspektive zwingend notwendig und zugleich moralisch unbedenklich, da sie auf legitimierenden rationalen Grundsätzen beruht und dem nicht hinterfragbaren Fortschritt dient.
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