Die anstrengende Pause
Im Winter, wenn die Natur an Reiz verliert, sind wir darauf angewiesen, unsere innere Welt zu kultivieren — gerade wenn „alles schläft“, sind wir besonders herausgefordert.
Antonio Vivaldi hat seinen berühmten Zyklus „Die vier Jahreszeiten“ erfolgreich abgeschlossen. Auch Ulrike Kirchhoff ist jetzt so weit. Nach Frühling, Sommer und Herbst philosophiert sie über den Winter — auch diesmal ergänzt durch schöne Fotos. Vielfach wird diese Jahreszeit als die langweiligste und unbeliebteste wahrgenommen. Gerade weil die Farben, die Wärme und die üppigen Formen fehlen, vermag der Blick aber bisher wenig beachtete Phänomene wahrzunehmen: zum Beispiel auch die grotesk wirkenden Formen von Ästen und Wurzelwerk. Alles, was die Natur sonst zu bieten hat, scheint zu ruhen. Es ist als Potenzial vorhanden und wird sich erst einige Monate später wieder realisieren. Diese Naturstimmung stellt für den nach immer außergewöhnlicheren Reizen süchtigen Menschen eine besondere Herausforderung dar. Er wird auf sich selbst, auf sein Innenleben zurückgeworfen. Und nicht für jeden ist dies bequem, denn es handelt sich vielfach um einen sträflich vernachlässigten Teil unseres Wesens. Gerade weil die Natur mit ihren wechselhaften Phänomenen aber in unserem Leben eine dominante Rolle spielt, strengt sich die Wissenschaft immer manischer an, sie zu beherrschen — zum Beispiel in Form transhumanistischer Visionen. Die Autorin schlägt einen anderen, einen gesünderen Weg vor: Ehrfurcht vor den Wundern des Lebens und das bereitwillige Mitschwingen mit seinen Rhythmen.
Beim Aufräumen fand ich ein kleines, selbst gebasteltes Heft aus Zeichenkarton wieder. Es ist etwas größer als eine Briefmarke, gefaltet und mit den Darstellungen der vier Jahreszeiten gefüllt, jede Jahreszeit auf einer der kleinen Seiten. In etwas krakeligen roten Druckbuchstaben steht auf der Titelseite: EIN BUCH VON ULRIKE FÄNGT AN. Damals war Ulrike sieben Jahre alt. Das Titelblatt unterscheidet sich von den vier weiteren Blättern, indem es von kleinen, säuberlich gezeichneten hellblauen Bögen umkettelt ist.
Ich erinnere mich an den Gedanken, der mich während der Fertigstellung begleitete: Kann die Darstellung der vier Jahreszeiten als Buchthema gelten? Es hatte mir Freude gemacht, mit Buntstiften den Wandel der Erscheinungsformen auf das weiße Papier zu zeichnen. Auf dem Winterbild kahles Geäst, mit einer einzelnen, durchsichtigen, winzigen Weihnachtskugel versehen, ein Schneemann, der einen blauen Hut trägt. Die schwarzmetallenen Kufen und das gelbe Glöckchen seines orangefarbenen Schlittens sind kleine „Hingucker“.
Die dargestellten Bäume tragen Blüten im Frühjahr, Kirschen im Sommer und einzelne farbige Blätter im Herbst, umgeben von einem bunten Blätterteppich. Heute fällt mir ihre gute Verwurzelung und klare Aststruktur auf. Die Zone des Übergangs von den Wurzeln zum glatt aufragenden Stamm hat mich schon von klein auf fasziniert, dieser Bogen, der beschrieben wird, wenn das Holz aus der Erde kommt und sich dann verschmälert, als würde es nach oben hingezogen.
Meist sind es nur zwei oder drei klar überschaubare Wurzelstränge, die sich unterirdisch weiter ausbreiten. Mitunter kann man aber auch mächtige Ausformungen und das Gewimmel verschiedenster gleichsam ringender Formen beobachten. Lurche, Echsen, Schlangenwesen, rufende Münder, genital anmutende Ausformungen scheinen sich in dieser Zone zu tummeln, im Holz wie angehalten gebannt. Der aufragende Stamm leitet wie zähmend in die klare Form über.
In der Baumkrone geht das substanzielle Holz in immer feiner werdende Verästelungen über, fast sprühend wirkt die äußere Übergangszone dort, wo sie in Luft und Himmel übergeht. In den vegetativen Jahreszeiten findet hier die Fotosynthese statt, die das Wunder des Lebens auf der Erde überhaupt erst ermöglicht, der initiale Prozess für alles organische Leben schlechthin, der die Atmung und Ernährung aller Lebewesen im Überfluss sicherstellt. Nichts ist meiner Auffassung nach in seinem sinnvollen Ineinander so dicht und komplex gepackt wie die Natur.
Im Spiegel vom 6. April 2012 wird folgende Äußerung einer Wissenschaftlerin zitiert: „Ich finde, dass sich jeder Mensch jeden Tag vor der Sonne verbeugen sollte. Und danach vor einer Pflanze.“
Sie ist aufgrund ihres fachlichen Wissens der Auffassung, dass die Natur nicht die angemessene Würdigung erfährt: „Manchmal wache ich morgens auf und denke, ich dreh durch, weil sich niemand darum kümmert.“ Acht Jahre später berichtet der Spiegel wieder über Forschungsergebnisse hinsichtlich der Fotosynthese. Wie von einer höheren Warte aus werden in einer technokratischen Sprache, die für den Laien nicht nachvollziehbar ist, zahlreiche Effizienzmängel formuliert und als neue Forschungsvorhaben in Stellung gebracht. Im weiteren Verlauf des Artikels wird sogar so etwas wie Neid gegenüber der Natur spürbar.
Betrachtet die Wissenschaft heutzutage die Natur als Konkurrenz? Solarmodule haben einen Wirkungsgrad von 15 bis 22 Prozent. Bei der Fotosynthese sind es 90 Prozent, und auch das Problem der Speicherung ist grandios gelöst.
Eine Wissenschaftlerin berichtet sinngemäß über ihre Arbeit, dass sie ein Blatt gebaut haben. Nicht so ein schönes, das im Winde rauscht, sondern eines mit Funktionen. Grau ist es, viereckig und so groß wie eine Spielkarte. An eine unproblematische Entsorgung wurde sicher nicht gedacht. Erst 1969 bewies Otto Warburg, dass das Chlorophyll nicht nur die Absorption des Lichtes ermöglicht, sondern auch die Umwandlung in chemische Energie, in organische Kohlenstoffverbindungen wie Zucker und Stärke. In seinen Worten von damals ist noch so etwas wie Wertschätzung zu spüren: „Wer die Fotochemie des Unbelebten kennt, wird diese Leistung der lebenden Natur bewundern, (…)“.
Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) prägte den Begriff der Viriditas, der Grünkraft, einer fortwährend wiederbelebenden Lebensgrüne, der eine grundfreudige Schöpferkraft innewohnt. „Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit“, sagt sie, „und diese Kraft ist grün. (...) Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt.“
Pünktlich mit dem Kreisen der Gestirne wird es wieder Winter, und doch wird es jedes Jahr anders Winter. Die Variabilität empfinde ich als ein wichtiges Phänomen in der Natur. Wir kennen den Winter, aber wenn er nach dem Durchgang des restlichen Jahres wieder eintritt, erfasst uns sein Wesen neu, packt er uns konkret direkt mit all seinen Herausforderungen. Im vorigen Jahr waren es besonders die Stunden der frühen Dunkelheit, die mir wie gebundene Stunden erschienen. Das samtene, wie schluckend erscheinende Dunkel, das uns den Wert des Lichtes vertiefter empfinden lässt. Das Schwinden des Grüns, das wie abgezogen wirkt, wird mir in diesem Jahr um diese Zeit besonders bewusst.
So ist der Reiz des Sommers im Winter am größten, und oft tritt das, was gerade nicht vorherrscht, als erstrebenswert in Erscheinung, als Sehnen. An den Knospen zeigt sich das Vermögen der Natur, den Zyklus wieder neu zu beginnen. Die anderen Jahreszeiten in ihren Qualitäten und Entfaltungsmöglichkeiten schlummern immanent im Verborgenen.
Wenn der erste Schnee fällt, die helle Seite des Winters sich zeigt, verzaubert uns dies wieder erneut wie in Kindertagen. Eine leise Freude zieht ins Herz, und das Buch der Wandlungen hat eine weitere Seite aufgeschlagen. Die Vegetation hat sich zurückgezogen, sie überdauert. Viele Tiere halten Winterschlaf. Die Insekten haben sich verkrochen. Kahle Äste starren. Wie angehalten scheint alles.
Es ist die Zeit der frühen Sonnenuntergänge. Die Welt ist nicht mehr farbig, sondern schwarz–weiß, monochromatisch. Grün und Licht ist Lebensquelle, Weiß und Licht Geistesquelle. Manchmal geschieht es, dass ein tief empfundener Winter- oder Schneemoment alle ähnlich gestimmten Erlebnisse heraufbeschwört und verdichtet und so eine ordnende Kraft im Seelenleben spürbar werden lässt, welche die Erlebnisfähigkeit steigert und sozusagen das Archetypische destilliert.
Der natürliche Außenraum ist eher ungastlich geworden. Vielleicht verzaubert an einigen Tagen dichter weißer Schnee das Gewohnte, oder Nebelschwaden zeigen sich als geheimnisvolle Verwandler. Nicht umsonst sind viele Orte der Natur sagen- und geschichtendurchwebt. In der Mythologie finden wir die Erzählung von Daphne, die sich in einen Baum verwandelt. In den Sagen ist die Rede von Wasser- und Frostgeistern, aber auch von Frostriesen, wie ich von meinem Enkel gelernt habe. In manchen Kinderbüchern sind die Elemente noch personifiziert wie Väterchen Frost im russischen Märchen. Während des Winters weilt Persephone, die Tochter Demeters, in der Unterwelt.
Uns erscheint dies Geschehen als Ruhephase, als Pause. Dies spiegelt sich in unserem Seelenleben wider, das sich mehr nach Innen richtet und bemüht ist, hier Wärme und Licht zu finden. Auch viel intensive Bewegung ist wichtig, um innerlich warm und klar zu werden.
In gewisser Weise ist der Winter die anstrengendste Zeit des Jahres. Er stellt die größte Herausforderung an die seelisch-leiblichen und insbesondere die geistigen Prozesse dar, die Imagination eines eigenen Innenraums. Wenn alles kristallen glitzert, setzt eine kühlere, stringentere Qualität unseres Denkens und Fühlens ein. Vielleicht wird der Geist durchdringender, und es fällt uns leichter, einen kühlen Kopf zu bewahren. Im Winter treten die Gestaltungs- und Wandlungskräfte des Aggregatzustandes von Wasser deutlich hervor. Es ist immer etwas anderes und bleibt doch dasselbe, vom nebligen Dunst bis zur hart gefrorenen kristallinen Struktur, die dann wieder tauend zum Fließen gebracht werden kann.
Das Naturgeschehen, einschließlich des Menschen, ist letztlich durch alle Zyklen hindurch ein großes Werden. Immer wieder ein neuer Tag, ein neuer Glanz, eine neue Dramatik, die uns in ihre Dynamik zieht. So ist alles doch eins, und wir dürfen uns aufgehoben fühlen, lebendig, gleichsam unendlich im unerschöpflich großen Atem neuen Mut findend. Manchmal denke ich, im Gesamtwerk der Natur kann der Mensch seine eigene Gestalt begreifen und wiederfinden, seine Essenz. Der Mensch ist eigentlich der Verknüpfungspunkt des ganzen Weltalls (Schelling). Vom lebendigen Rhythmus durchpulst und durchwirkt befinden wir uns im globalen Sinne aufgehoben in einem größeren Ganzen.
Der sogenannte Äther, ein anderer Begriff für das Feld um die Erde, gilt als das fünfte Element, das alles durchdringt, eine Einheit schaffend in einer Beziehung zu Licht und Seele steht. Auf die umfassendere Fünf, die Quinta Essentia, die höhere Einheit, das fünfte Seiende, möchte ich eingehen, weil der Winter wohl am ehesten dazu angetan ist, die vier Jahreszeiten zusammenzudenken.
In diesem Kontext fällt mir ein eigenartiger Traum ein, den ich hatte, als ich, auf der Erde liegend, kurz eingeschlafen war. Eine Gestalt wie ein Engel, einer Ichgestalt gleich, sauste herab mit wehendem Haar und hellem Gewand und verwandelte sich dann blitzschnell sozusagen in Nahaufnahme genau meinem Gesicht gegenüber in den runden Schlussstein eines Gewölbes wie in ein Signum oder ein Siegel. In der romanischen Architektur fängt der „Schlussstein“ die Spannung der jeweils vier Kreuzgewölbe auf und gibt ihnen Halt.
Zum Abschluss möchte ich andeuten, wie Ovid, der übrigens auch von einem schwerelosen Äther ausgeht, den Schöpfungsbegriff definiert. Er spricht von „pacificatio“, dem Verfriedlichen des Chaos. Chaos ist bei ihm Krieg und Aufruhr in der Natur. Diese Verfriedlichung war ihm das Werk des namenlosen Gottes und der „besseren“ Natur.
Arbeitet sich vielleicht über den entseelenden Technikwahn etwas im Schöpfungsakt angelegtes Monströses heraus? Obliegt dem Menschen heute die Aufgabe, diesen Zähmungsakt gegenüber der „schlechteren“ Natur zu erbringen, eine Aufgabe, die im Transhumanismus in pervertierter Form erscheint?
Wie sind wir, Mensch und Natur, in der Tiefe aufeinander bezogen? Sind wir aus einem Guss geschaffen, oder gibt es ein Amalgam, das erneut unter Spannung gerät? Welches Ringen unter den pulsierenden und durchwirkenden Rhythmen, auch der Jahreszeiten, spielt sich eigentlich ab? Alle Indizien deuten auf ein Bewusstseinsringen.
Fotos: Ulrike Kirchhoff