Die Angstmaschine
Der Neoliberalismus hat ein System despotischer Ausbeutung erschaffen, das nur noch mittels Angstmache funktioniert. Exklusivabdruck aus „Angst und Macht“.
Demokratien beruhen auf drei großen Versprechen: gesellschaftliche Selbstbestimmung, friedliche Lösung innerer und äußerer Konflikte und Freiheit von gesellschaftlicher Angst. Lange Zeit hat es der demokratische Reformismus vermocht, dem Kapitalismus „Klassenkompromisse“ abzuringen, die für viele Menschen zu erträglichen Lebensverhältnissen führten. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus wurden demokratische Werte und Strukturen jedoch zu einem lästigen Korsett, das er im Laufe weniger Jahrzehnte auf brutale Weise abgestreift hat. Demokratie und Kapitalismus sind in ihrem Wesen miteinander unvereinbar. Nachdem die Ausbeutungs-Maschine ihre wohlwollende Maske abgelegt hat, agiert sie enthemmt mit den Mitteln nackter Machtausübung. Anstatt, wie es das demokratische Versprechen war, die Freiheit von Angst zu garantieren, ist systematische Angsterzeugung zum Zweck der Kontrolle zu ihrem bevorzugten Machtinstrument geworden. Wir können uns von der Angst nicht befreien, ohne die Macht- und Systemfrage grundlegend neu zu stellen.
Der Neoliberalismus hat es vermocht, auf den dunkleren Seiten des Menschen eine ganze Gesellschaft zu errichten. Er hat seine anthropologische Lüge eines homo oeconomicus, um mit Günther Anders zu sprechen, wahrgelogen. Obgleich das dem Neoliberalismus zugrunde liegende Menschenbild ein perverses Zerrbild des Menschen ist, hat es der Neoliberalismus geschafft, seinem Menschenbild eine gesellschaftliche Realität zu verleihen.
Mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Neoliberalismus hat der Kapitalismus seine kurzzeitig durch den Druck sozialer Bewegungen erzwungenen Bemühungen aufgegeben, mit der Demokratie eine gesellschaftliche Zweckverbindung einzugehen. Er hat die demokratische Maske fallengelassen, mit der er eine Zeit lang aus strategischen Gründen seine radikal antidemokratische Zielsetzung verborgen hat.
Damit hat er auch einen demokratischen Reformismus, den der Industriekapitalismus stets zu seiner Stabilisierung und zum Schutz vor sich selbst benötigt hat, weitgehend unwirksam und unmöglich gemacht. Dadurch können sich nun in der neoliberalen Extremform des Finanzkapitalismus die selbstdestruktiven Momente des Kapitalismus und seine inneren Widersprüche ungehemmt entfalten. Mag sich der Leviathan des Neoliberalismus auch die Verkleidung einer kapitalistischen Demokratie geben, so bleibt er ein autoritäres und quasitotalitäres System, das — in sich flexibel ändernden Formen — jederzeit bereit ist, auf autoritären Wegen sein zentrales Ziel durchzusetzen und zu erhalten, nämlich eine, gegen alle demokratischen Einflüsse geschützte Ausbeutung der Vielen zugunsten der Wenigen. Das demokratische Versprechen einer größtmöglichen Freiheit von Angst ist damit hinfällig geworden. Mehr noch: Der Neoliberalismus produziert nicht nur systematisch den Rohstoff „Angst“, sondern hat die Psychotechniken einer auf Angsterzeugung basierenden Sicherung seiner Stabilität zur Perfektion verfeinert.
Demokratie und Kapitalismus sind, wie vielfach sorgfältig aufgezeigt wurde, nicht miteinander vereinbar.
Damit ist es aus grundsätzlichen Gründen auch unmöglich, in einer „kapitalistischen Demokratie“ die drei demokratischen Versprechen — nämlich gesellschaftliche Selbstbestimmung, friedliche Lösung innerer und äußerer Konflikte und Freiheit von gesellschaftlicher Angst — einzulösen. Wenn wir also auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die mit diesen Versprechen verbunden sind, nicht verzichten wollen, müssen wir uns von der Ideologie einer Alternativlosigkeit kapitalistischer Demokratien befreien. Das wird — selbst gedanklich — keine leichte Aufgabe werden. Denn seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts war und ist die Entwicklung höchst ausgefeilter Indoktrinationstechniken ausdrücklich von dem Ziel geleitet, unsere Befähigung grundsätzlich zu blockieren, uns überhaupt noch Alternativen zu einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung vorstellen zu können.
Diese kapitalistische Indoktrination, die seit hundert Jahren unsere Gesellschaft durchdringt und weit über traditionelle Techniken der Propaganda hinausgeht, ist so erfolgreich wie keine Ideologie zuvor. „Es erscheint uns heute leichter, uns das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen.“ Uns scheint weitgehend die Fähigkeit abhandengekommen zu sein, uns überhaupt noch vorzustellen, wie eine menschenwürdigere Gesellschaft aussehen könnte.
Praktikable und realisierbare Vorschläge dazu gibt es genug, wie die lange Geschichte emanzipatorischer Bemühungen und Kämpfe zeigt; jedoch sind sie im kollektiven gesellschaftlichen Gedächtnis nicht mehr präsent. Wie immer man diese Vorschläge im Detail bewerten mag, eines sollte bei einem ideologisch halbwegs ungetrübten Blick auf die gesellschaftliche und ökologische Situation der Gegenwart unstreitig klar sein:
Der Neoliberalismus und mit ihm das Modell einer Elitendemokratie sind historisch in einer so verheerenden Weise als Modelle zivilisatorischen Fortschritts gescheitert wie wohl kein Wirtschaftsmodell und keine Ideologie zuvor.
Mittlerweile haben nicht einmal mehr die ökonomischen und politischen Eliten neoliberaler Elitendemokratien überhaupt noch irgendwelche Vorstellungen, wie den regelmäßigen Krisen, die der Neoliberalismus produziert, zu begegnen sei. Sie haben längst die Kontrolle aufgegeben und reagieren nur noch mit kurzfristigen Adhoc-Strategien zur Sicherung ihrer Macht.
Der Neoliberalismus hat mittlerweile den Kopf, den er eigentlich nie hatte, verloren und irrlichtert als wirres Ideologiegestöber durch die Köpfe der besitzenden Klasse und ihrer ideologischen Lakaien. Nach einer jeden der zwangsläufigen und sich zunehmend verschärfenden Krisen zwingt er die ökonomischen Zentren der Macht, neue pragmatische Strategien zusammenzustückeln, mit denen sie wieder als Nutznießer aus der Krise hervorgehen. Als eine auch nur halbwegs rationale Ideologie ist der Neoliberalismus längst tot.
Das übrig gebliebene Wesen ist, wie Jamie Peck schreibt, eine Zombie-Ideologie:
„Tot, aber dennoch dominant könnte der Neoliberalismus tatsächlich in seine Zombiephase eingetreten sein. Das Gehirn scheint längst nicht mehr zu funktionieren, aber die Gliedmaßen bewegen sich noch, und viele der Abwehrreflexe scheinen auch zu funktionieren. Die lebenden Toten der marktwirtschaftlichen Revolution leben weiter auf der Erde, obwohl mit jeder Auferstehung ihr entschieden unkoordinierter Gang noch unberechenbarer wird.“
Mit jeder seiner Bewegungen produziert dieser Zombie-Leviathan weitere ökologische, soziale und psychische Verwüstungen. Dazu gehören auch die sozialen und psychischen Verwüstungen durch ein systematisches Erzeugen von Angst.
Wenn wir uns aus den Fesseln systematisch erzeugter gesellschaftlicher Angst befreien und emanzipatorische Fortschritte in Richtung einer menschenwürdigeren Gesellschaft ermöglichen wollen, so müssen wir, wie Noam Chomsky nicht müde wird uns zu ermahnen, entschlossen an die Wurzeln der Machtverhältnisse gehen, die einem solchen Ziel im Wege stehen:
„Solange die Wirtschaft unter privater Kontrolle steht, ist es egal, welche Formen das System annimmt, weil sich mit der Form nichts erreichen lässt. Selbst wenn es politische Parteien gäbe, an denen sich die Bürger engagiert beteiligen und Programme ausarbeiten, von denen sie überzeugt sind, hätte das bestenfalls marginalen Einfluss auf die Politik, weil die Macht anderswo verortet ist.“
Nehmen wir einmal kontrafaktisch an, dass es uns auf der Basis aller Erfahrungen der Geschichte und des gesamten zur Verfügung stehenden Wissens gelungen wäre, eine realistische Konzeption einer menschenwürdigen Gesellschaft zu entwerfen. Insbesondere wollen wir kontrafaktisch annehmen, dass es uns für die Formulierung eines solchen Ziels gelungen wäre, alle verfügbaren Einsichten in die menschliche Natur und in die Beschaffenheit der Gesellschaft zu integrieren, einschließlich aller historischen Erfahrungen, die in langen sozialen Kämpfen gewonnen wurden, und aller Einsichten in gegenwärtige Organisationsformen der Zentren der Macht, und dass wir zudem konkrete praktikable Organisations- und Wirtschaftsformen einer menschenwürdigen Gesellschaft entwickelt hätten, einschließlich realistischer Transformationsprozesse, die uns von der jetzigen Situation zu einem gewünschten Zustand führen würden.
All dieses Wissen als solches wäre vermutlich kaum geeignet, etwas an der heutigen Situation zu ändern, weil diejenigen, bei denen heute die Macht verortet ist und die nach einer solchen Transformation sehr viel schlechter gestellt wären, schlicht die Macht haben, die politische Akzeptanz der von uns angestrebten Änderungen zu verhindern, und über Repressionsmittel verfügen, alle entsprechenden Transformationsprozesse zu verhindern.
Die tatsächliche Macht ist heute in neuartigen globalen Organisationsformen verortet, die vollkommen einer gesellschaftlichen Kontrolle entzogen sind, die für die Bevölkerung weitgehend unsichtbar sind und die zudem durch einen gigantischen US-amerikanischen Militär und Sicherheitsapparat geschützt werden.
Daraus resultiert eine Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen den Zentren der Macht und denjenigen, die ihr unterworfen sind, die in ihrem globalen Maßstab und in ihrer gesellschaftlichen Durchdringungstiefe historisch einzigartig ist.
Der Neoliberalismus hat zu einem zivilisatorischen Regress einer Entzivilisierung von Macht geführt, als dessen Folge unsere Gesellschaft und unsere gesamten Lebensgrundlagen zerstört werden. Ein wirksames zivilisatorisches Gegenmittel kann nur von unten kommen und muss von unserer Entschlossenheit und unserer unbeirrbaren Überzeugung geleitet sein, dass es keine Form gesellschaftlicher Macht geben darf, die nicht demokratisch legitimiert ist. Ein solches Projekt hat zu seiner notwendigen Voraussetzung, zunächst die mit dem Neoliberalismus zum Extrem getriebene soziale Fragmentierung und Atomisierung zu überwinden und auf der Grundlage eines egalitären Humanismus — also einer Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche ungeachtet ihrer faktischen Differenzen — Solidarität und Gemeinschaftssinn als Fundamente gesellschaftlichen Handelns zurückzugewinnen.