Die Angstmacher

Um Kontrolle auszuüben, redet die Politik den Globalisierungsopfern ein, sie hätten ihr Schicksal selbst verschuldet. Exklusivabdruck aus „Angst und Macht“.

Neoliberale Politik wird durch die finanzielle Misshandlung von Millionen Menschen gekennzeichnet. Und sie hält uns permanent in der Angst vor Absturz und Statusverlust. Verängstigt, lassen sich Arbeitnehmer selbst mieseste Arbeitsbedingungen gefallen — und rutschen oft weiter in die Armut ab. Es entsteht eine Traumatisierungsspirale, gekennzeichnet auch durch „Identifikation mit dem Aggressor“. Es wäre ein Ausdruck natürlicher Selbstbehauptung, wenn die Opfer dagegen aufbegehrten. Um dies zu verhindern, greifen die Mächtigen zu einem leicht durchschaubaren, jedoch gut funktionierenden Trick. Sie reden den Ausgebeuteten und Prekarisierten ein, sie selbst seien die Ursache für ihr Elend. Wer in seinem Selbstvertrauen gebrochen ist, hat dann meist nicht mehr den Mumm für eine gerechtere Welt zu kämpfen.

Prekarisierung erzeugt bei den Betroffenen durch den Statusverlust und den Verlust einer Planungssicherheit Realangst. Diese Realangst ist jedoch durch die neoliberale Ideologiekomponente des unternehmerischen Selbst nicht mehr durch ein aktives Handeln zu bewältigen. Das Individuum schreibt sich sein Versagen selbst zu, wodurch die ausgelöste Realangst in Binnenangst transformiert wird.

Da das unternehmerische Selbst auch bei größten individuellen Anstrengungen durch die unberechenbaren Veränderungen der Anforderungen des Marktes und durch seine Situiertheit in permanenter Konkurrenz niemals sicher sein kann, dass andere in ihrer Marktanpassung nicht „erfolgreicher“ sind, ist es mit einer andauernden Erfahrung von Überforderung und Ohnmacht konfrontiert.

Dies wiederum löst in der betroffenen Person psychodynamische Prozesse aus, die sie stärker an den Status quo der ursprünglichen angstauslösenden Situation einer Prekarisierung binden und die ihr diese Situation, gewissermaßen in einer „Identifikation mit dem Aggressor“, als gerecht und berechtigt erscheinen lässt. Durch diese psychodynamischen Prozesse entsteht eine sich selbst erhaltende Traumatisierungsspirale der Verstärkung von lähmender Binnenangst (1).

Auf diese Weise wird bei den Opfern der Prekarisierung — und mittelbar in der Gesellschaft insgesamt — in einem sich selbst verstärkenden Prozess die Tendenz erhöht, den gesellschaftlichen Status quo zu akzeptieren und als erhaltenswert anzusehen (2). Obwohl die Verlierer neoliberaler Transformationsprozesse und diejenigen, die auf diese Umgestaltung von Lebens- und Arbeitsbedingungen mit Abstiegsängsten und Ängsten vor dem Verlust ihres sozialen Status reagieren, nicht einfach Leidtragende von Naturgesetzlichkeiten globalisierter Märkte sind, sondern Opfer konkreter Entscheidungen der Machtausübenden, werden sie durch Psychotechniken, die auf eine Transformation von Angst in Binnenangst zielen, dazu gebracht, ihre Situation als selbst verschuldet anzusehen.

Die neoliberale Ideologie führt dazu, dass die Verlierer des Neoliberalismus Scham über ihre eigene Situation empfinden.

Dies erzeugt bei ihnen innerpsychische Spannungen, die ihren äußeren Ausdruck darin finden, dass die Betroffenen eine verstärkte Neigung aufweisen, sich mit den Erfolgreichen und Mächtigen zu identifizieren und sich zugleich zu Lasten derjenigen, die sozial noch niedriger stehen, psychisch zu stabilisieren.

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Während der Neoliberalismus die Opfer seiner Transformationsprozesse als für ihre Situation selbstverantwortlich erklärt, hat er es zugleich geschafft, für die politischen und ökonomischen Entscheidungsträger eine „Kultur der Verantwortungslosigkeit“ (C. Wright Mills) zu etablieren.

Durch die ideologische Behauptung, dass diese Entscheidungsträger nur Sachzwängen und Naturgesetzlichkeiten des globalisierten freien Marktes Rechnung tragen würden, werden die Folgen dieser bewussten Entscheidungen — die Agenda 2010 ist ein prominentes Beispiel — dem menschlichen Verantwortungsbereich entzogen. Der Neoliberalismus hat eine neue Kategorie menschlichen Tuns hervorgebracht, nämlich Taten ohne Täter. Damit hat er den Opfern dieser Taten die Möglichkeit genommen, diese Taten als menschliche Taten zu verstehen, sie Tätern zuzuweisen und aus diesen Taten angemessene Konsequenzen für ein gesellschaftliches Handeln zu ziehen.

Die systematische Erzeugung von sozialökonomischer Unsicherheit lässt in der Gesellschaft zwangsläufig große Empörungs- und Protestpotentiale entstehen und damit politische Veränderungsbedürfnisse. Der Neoliberalismus benötigt daher besonders wirkungsmächtige Methoden, diese Veränderungsbedürfnisse zu neutralisieren und auf Ablenkziele umzuleiten. Nun ist im Neoliberalismus die Organisation von Macht — und damit auch die tatsächlichen ökonomischen und politischen Zentren der Macht — für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar geworden.

Zudem wurde in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Neoliberalismus ein kaum noch überschaubares Arsenal an Möglichkeiten geschaffen, mit denen sich verhindern lässt, dass politische Veränderungsenergien auf demokratischem Wege nach oben zu den Machtausübenden wirksam werden können. In einer solchen Situation bieten sich solche Psychotechniken der Macht als besonders wirksam an, durch die sich Veränderungsenergien nach unten zu den Machtunterworfenen selbst ableiten lassen. Durch die dem Neoliberalismus konstitutiv eingewobene meritokratische (3) und sozialdarwinistische (4) Grundhaltung lässt sich dies leicht bewerkstelligen. Denn die sozialdarwinistische Verachtung der Schwachen liegt am Ursprung der neoliberalen Ideologie; sie ist ihre Grundlage und ihr treibendes Moment.

Wer ohne Arbeit ist, so befand schon 1884 der englische liberale Philosoph Herbert Spencer in seinem Werk „The Man Versus the State“, gehöre schlicht zu den „Taugenichtsen, die auf die eine oder andere Weise von den Tüchtigen leben“ („They are simply good-for-nothings, who in one way or other live on the good-for-somethings“). Denn es könne wohl kein Zweifel darüber bestehen, „dass in unserer Mitte ein immenses Maß an Elend existieren muss, das eine normale Folge von Fehlverhalten ist“. Es gebe nun einmal, so lautet durch die Jahrhunderte die anthropologische Weisheit der Herrschenden, kategorial unterschiedliche Arten von Menschen: bei Aristoteles Menschen, die von Natur aus zum Herrschen geboren seien, und Menschen, die von Natur aus zum Dienen geboren seien; beim gegenwärtigen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Jean-Michel Frédéric Macron „Leute, die Erfolg haben, und jene, die nichts sind“ („gens qui réussissent et d‘autres qui ne sont rien“, 29. Juni 2017).

Der Neoliberalismus ist sehr erfolgreich in seinem Bemühen, die Opfer seiner Transformationsprozesse dazu zu bringen, sich ihre Situation „als normale Folge von Fehlverhalten“ selbst zuzuschreiben.

Wenn sich erst die Verlierer einer neoliberalen Gesellschaftsordnung für ihre Situation selbst verantwortlich machen, bedarf es keiner großen propagandistischen Bemühungen mehr, sie für gesellschaftliche Gegenwartsprobleme insgesamt verantwortlich zu machen und politische Veränderungsenergien in einen Hass auf die Schwachen und Armen zu transformieren und auf diese Weise zu neutralisieren (5). Entsprechend gibt es eine wachsende Tendenz, Arbeits- und Obdachlose nach ökonomistischen Kriterien einer Verwertbarkeit zu beurteilen, sie als Versager und Überflüssige zu klassifizieren und somit zu entmenschlichen. „Dass die Armen nicht mehr als Klasse gelten, macht es leichter, sie als Einzelne zu hassen. Sie sind der Abfall des Marktes“ (6).

Das zunehmende gesellschaftliche Sichtbarwerden von Prekarisierung und ihren Folgen beunruhigt auch die sozioökonomisch mittleren Schichten. Sie erleben eine wachsende materielle Unsicherheit über den Erhalt ihres sozialen Status und müssen die damit verbundenen Abstiegsängste psychisch bewältigen. Da die Ideologien der Meritokratie und des unternehmerischen Selbst den Weg zu einem solidarischen politischen Handeln blockieren, werden aus realen Abstiegsängsten diffuse Binnenängste. Die damit verbundenen Psychodynamiken, wie sie in der Traumatisierungsspirale beschrieben sind, lassen sich wiederum für Zwecke einer Machtstabilisierung nutzen. Gerade die Abstiegsängste erhöhen die Neigung der Betroffenen, den jeweiligen Status quo zu rechtfertigen und zu verteidigen.

Durch die gewaltigen vom Neoliberalismus erzeugten gesellschaftlichen Spannungen hat diese ideologische Verteidigung des Status quo Formen angenommen, die der Soziologe und Konflikt und Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer „rohe Bürgerlichkeit“ nennt. Das Entstehen und die Entwicklungen dieser Bewältigungsformen von Folgen der neoliberalen Transformation der Gesellschaft hat Heitmeyer seit Mitte der 1980er Jahre detailliert erfasst und analysiert.

Diese Art der Bewältigung in Form einer „rohen Bürgerlichkeit“ ist dadurch gekennzeichnet, dass sie „sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht und dabei zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert“. Dadurch hätten Teile des Bürgertums, so Heitmeyer, die Solidarität mit „denen da unten“ aufgekündigt und pflegten einen „eisigen Jargon der Verachtung“, mit dem Hartz-IV-Empfänger und Langzeitarbeitslose als „Nutzlose“ und „Ineffiziente“ diskriminiert werden. In höheren Einkommensgruppen habe sich verstärkt eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ verfestigt.

„Rohe Bürgerlichkeit zeichnet sich — befeuert von politischen Entscheidungen — durch Tendenzen eines Rückzugs aus der Solidargemeinschaft aus“ (7).

Heitmeyer sieht in der von ihm erfassten „rohen Bürgerlichkeit“ den „Nährboden für eine elitär motivierte Menschenfeindlichkeit“ (8). Diese Menschenfeindlichkeit wohnt freilich, wie das dem Neoliberalismus zugrunde liegende Menschenbild bereits erkennen lässt, dem Neoliberalismus wesenhaft und konstitutiv inne.

Als Ursachen dieser Entwicklung einer „rohen Bürgerlichkeit“ macht Heitmeyer die „ökonomistische Durchdringung sozialer Verhältnisse“, eine „Demokratieentleerung“ und „fehlende politische und öffentliche Debatten über das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie“ aus. Damit identifiziert er präzise die tieferliegenden Wurzeln sozialer Verrohungen, die mit dem Siegeszug der neoliberalen Revolution von oben ein Kennzeichen der Gesellschaften in „kapitalistischen Demokratien“ geworden sind.

Das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus muss daher wieder oder überhaupt erst einmal in das Zentrum öffentlicher Debatten über die Zukunft unserer Gesellschaft rücken. Solange wir dieses Verhältnis nicht geklärt haben, können wir auch keine überzeugenden und attraktiven Rahmenerzählungen anbieten, die emanzipatorischen Bewegungen erst Kohärenz und politische Wirksamkeit geben können.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Eine detailliertere Analyse der hiermit verbundenen Psychodynamiken findet sich in Bergmann-Mausfeld & Mausfeld (i. Vorb.).
(2) siehe hierzu Jost et al. (2004), Friesen et al. (2019)
(3) “Meritocracy as an ideology is a key contributor to the success and tenacity of neoliberalism, as a seemingly ,fair’ means through which competition is expressed and extended.” (Littler, 2018, S. 43)
(4) „Tatsächlich stützt sich die Macht der neoliberalen Ideologie auf eine neue Art von Sozialdarwinismus: Es sind die ,Besten und Außergewöhnlichsten‘, wie man in Harvard sagt, die das Rennen machen. […] Hinter der weltumspannenden Vision einer Internationale der Herrscheden steht eine Philosophie der Kompetenz, nach der die Fähigsten den Staat lenken, die Fähigsten eine Arbeit haben, was bedeutet, dass Menschen ohne Arbeit unfähig sind.“ (Bourdieu, 2004a, S. 62) Welche Konsequenzen auf globaler Ebene der neoliberale Sozialdarwinismus hat, hat Friedrich Hayek offen zum Ausdruck gebracht: „In den nächsten Jahren soll sich die Weltbevölkerung erneut verdoppeln. Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung aber unlösbar. Wenn wir garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, diese Versprechen zu erfüllen. Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.“ (Friedrich Hayek, Wirtschaftswoche vom 6. März 1981)
(5) Dies ist umso leichter, als die sozialdarwinistische Ideologie einer Verachtung der Schwachen und eines Hasses auf die Armen tief im Denken ökonomischer und politischer Eliten verwurzelt ist. Beispiele für Äußerungen, in denen dies offen zu Tage tritt, lassen sich im Überfluss finden. Beispielsweise gab 2005 in dem Report „Vorrang für die Anständigen — Gegen Missbrauch, ,Abzocke‘ und Selbstbedienung“ das unter Leitung von Wolfgang Clement (SPD) stehende Arbeitsministerium einem Klassenrassismus offenen Ausdruck, indem es sich der biologistischen Parasiten-Metapher bediente. In dem Report wurde — zweifellos als ganz absichtslose Fortbildung für biologisch interessierte Leser — ausführlich die biologische Definition von Parasiten aufgeführt; wobei es natürlich ausgesprochen böswillig wäre zu unterstellen, dass die Parasiten-Definition irgendetwas mit dem Thema „Vorrang für die Anständigen“ des Arbeitsmarktreports zu tun habe: „Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen.“ Ohnehin versteht es sich von selbst, dass man „Sozialbetrüger“ — weil „besonders verwerflich“ — nicht mit Parasiten vergleichen kann: „Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert.“
(6) Mirowski (2015, S. 136)
(7) Heitmeyer (2011, S. 35)
(8) Heitmeyer (2011, S. 57)