Die Angstkultur
Eine durch Gewalt geprägte Geschichte hat bei vielen Menschen zu einer energetischen „Panzerung“ geführt. Trauma-Arbeit kann diese Angstabwehrstrategie durchbrechen.
Auf diesem Planeten geboren zu werden ist ein mutiges und gefährliches Unterfangen. Schon als Kinder sind wir häufig Menschen ausgeliefert, die uns ein angeblich erforderliches Verhalten mit brutalen Mitteln einzubläuen versuchen. Dies gilt für die Situation in Familien wie auch in Schulen und in der Gesellschaft als Ganzes, wo wir für bestimmte politische Zwecke gedrillt und instrumentalisiert werden. Erziehungsmittel ist dabei meist die bewusste Erzeugung von Angst. So können sich Bewohner dieser Kultur ein Leben ohne Angst im Grunde gar nicht mehr vorstellen. Wohin wir auch gehen — ein Gefühl der Beklemmung und Anspannung ist mit im Gepäck. Als Abwehrstrategie haben sich die meisten einen energetischen und auch muskulären „Panzer“ zugelegt. Dieser hilft uns, die Furcht und andere negative Emotionen nicht mehr so zu spüren. Der Preis dafür ist jedoch eine gewisse Starre, die uns daran hindert, voll und ganz am Leben teilzunehmen. Wenn sich dies ändern soll, müssen wir die Kultur der Angst durch eine Kultur der Heilung ersetzen. Dies kann auf verschiedenen Ebenen erfolgen: durch Körperarbeit, Traumatherapie, aber auch durch die Schaffung heilsamer, auf Vertrauen basierender Gesellschaftsstrukturen.
Durch die Unterdrückung des Lebens und infolge der dabei angewendeten Methoden ist auf der Erde eine Angst entstanden, an der wir alle ohne Ausnahme teilhaben. Es ist die Grundangst hinter den Kulissen, die unsere Lebensvorgänge von den physiologischen Abläufen bis zu unserem Sexualverhalten und unseren Glaubenssystemen steuert und prägt. Sie ist uns so sehr zur zweiten Natur geworden, dass wir sie kaum noch wahrnehmen, zumal ja alle anderen von derselben Angst geprägt sind, man also das daraus folgende Sozialverhalten als gesellschaftlich normal ansieht.
Die Angst, die aus der Gewalttätigkeit der Geschichte kam und durch die Praktiken der gegenwärtigen Machtsysteme täglich neu genährt wird, ist längst ein Bestandteil unserer Kultur geworden. Ein wirklich angstfreier Mensch würde die Normen unserer Kultur überall durchbrechen und somit bald der Psychiatrie oder der Justiz oder einem Mordanschlag zum Opfer fallen.
Das innere Angstsystem hindert den Menschen zwar an der Erfüllung elementarer Lebenswünsche, schützt ihn aber gleichzeitig vor gesellschaftlicher Ächtung.
Die Angst ist die Voraussetzung für das hohe Maß von Anpassung und Opportunismus, welches heute von den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft verlangt wird, damit sie bereit sind, das etablierte Unrecht zu tolerieren. Durch die allgemeine Angststruktur ist der Mensch regierbar und beherrschbar geworden bis in die Dimensionen hinein, die Orwell in seinem legendären Zukunftsroman „1984“ beschrieben hat. Noch perfekter hat es Aldous Huxley beschrieben in seinem Zukunftsroman „Brave New World“. Die dort beschriebene Zukunftsvision zeigt ein Szenarium, welches von der Wirklichkeit bereits eingeholt worden ist.
Die Macht, die in der Lage ist, einen Menschen in ein Schaf zu verwandeln, ist die Angst vor Strafe und gesellschaftlicher Ächtung. Sie ist aufgebaut worden in den Strafsystemen einer fünftausendjährigen Domestizierungsgeschichte. Ohne diese Grundangst gäbe es keine Diktaturen und keine Untertanen, keine herrschende Klasse und keine Beherrschten, kein unnatürliches Gesetz und keine Anpassung wider Willen, keine verstörten Kinder und keine Schüler, die sinnlosen Lehrplänen folgen, keine Erwachsenen, die sich hinter den Gittern von Beruf und Ehe verstecken, keine strafenden Götter und kein Altes Testament.
Die Angst ist dem Menschen mit unsäglichen Mitteln eingebrannt worden. Sie wurden immer angewendet, wo eine ökonomische, politische, religiöse oder ethnische Gruppe einer anderen ihre Herrschaft aufzwingen wollte. Viele von uns waren in irgendeiner früheren Inkarnation Opfer dieser Exzesse und haben am eigenen Leib erlebt, was heute Millionen andere erleben. Im Zentrum der Angst liegt meistens ein Trauma von so schlimmer Art, dass diejenigen, die es erlitten haben, alles tun werden, um nie mehr damit in Berührung zu kommen. Sehr oft liegt dieses Trauma im sexuellen Bereich. Deshalb haben wir mit solchem Nachdruck in unseren Texten geschrieben: Eine neue Kultur wurzelt in einem neuen Verhältnis der Geschlechter.
Um mit dem Trauma nicht mehr in Berührung zu kommen, hat unsere Seele um das Angstzentrum herum ein inneres Schutzsystem errichtet, bestehend aus Abwehrsystemen wie Gedächtnisschwund, Absencen, Vernebelungen, Verschlussvorrichtungen und Verteidigungswaffen aller Art. Oft, wenn Gefahr naht und die alte Wunde aufbrechen könnte, verwandeln wir die Verteidigung blitzschnell in Angriff. Wir schützen uns, indem wir den vermeintlichen Aggressor — und sei es der Liebespartner — unsererseits angreifen und somit seinem Angriff zuvorkommen. Die Psychoanalyse spricht hier von der „Identifikation mit dem ursprünglichen Aggressor“.
Unsere ganze Zivilisation ist von dieser latenten Aggressionsstruktur durchzogen, sie gehört zu ihrem Schutzsystem und ihren Angstabwehrstrategien. Die Aggressivität ideologischer Debatten stammt meistens nicht aus einem rationalen Engagement, sondern aus der dahinterliegenden geschichtlichen Angst, die vor dem vermeintlichen Gegner auszubrechen droht und deshalb aufs Heftigste abgewehrt werden muß.
Politische, religiöse oder moralische Überzeugungen dienen meistens dazu, mit einem unbewältigten Konflikt im Bereich von Liebe und Sexualität irgendwie fertig zu werden. Wenn dann zwei verschiedene sogenannte Überzeugungen aufeinandertreffen, wird es kaum eine Einigung geben, denn beide Seiten verschweigen ja das eigentliche Thema.
Diese Art von Scheindiskussion und Scheinkultur war einer der Gründe für den Zusammenbruch der geistigen Kultur in unserer Zeit. Die Menschen sind gebrannte Kinder, sie schützen sich vor dem Wiederaufbrechen ihrer Wunden — und sie merken, wenn sie sich in der Welt umschauen, wie notwendig diese Schutzmaßnahmen sind. Viele Frauen und vor allem Männer haben einen regelrechten Panzerring um ihr Herzchakra wachsen lassen, um nicht mehr mit den alten Schmerzen der Liebe in Berührung zu kommen. Wir sprechen in unserer Heilungsarbeit in Tamera von einem „Betonbrett vor der Brust“. Dieses ganze Schutzsystem nenne ich den Angst-Tuberkel. Er verhindert eine sinnvolle Kommunikation und Selbstwahrnehmung, schützt aber die Seele vor einer Wiederholung des Unerträglichen.
Diese Angstabwehrsysteme sind neurotisch, aber notwendig, solange eine Gesellschaft auf Gewalt basiert. Darin besteht ja das Debakel der Psychotherapie.
Es hat keinen Sinn, den Menschen die Neurose nehmen zu wollen, ohne ihnen eine andere Gesellschaft zu geben.
Sie werden — das zeigt alle Erfahrung — mit Zähnen und Klauen ihre Neurose verteidigen, ehe sie zu einer echten Lebensveränderung bereit sind. Sie werden ihre alten Liebesbilder, ihre alten Glaubenssätze von Treue, Eifersucht und Verlustangst beibehalten, auch wenn sie dabei niemals zur Erfüllung kommen, ehe sie bereit sind, noch einmal ihr Herz und ihren Leib ganz zu öffnen. Sie werden kalkulieren und Vorbeugemaßnahmen treffen, ehe sie zur Hingabe bereit sind. Und eben dadurch werden sie die Hingabe, nach der ihre Seele verlangt, verhindern. Sie, wir alle befinden uns in vertrackten Teufelskreisen aus Angst und Vorsicht, die für ein dauerhaftes und erfülltes Liebesleben wenig Chancen lassen.
Was ich den „Angst-Tuberkel“ nenne, nannte Wilhelm Reich den „Charakterpanzer“ und „Körperpanzer“. Der Charakterpanzer besteht aus all jenen moralischen, religiösen, ideologischen und emotionellen Maßnahmen, zu denen ein Mensch greift, um sich vor einer neuerlichen Entblößung seiner Wunden zu schützen. Durch den kollektiven Aufbau ihrer Charakterpanzerungen kommen die Menschen zwar nicht zu Liebe und Erkenntnis, es gelingt ihnen aber, trotz ihrer Verletzungen bestimmte konventionelle, mehr oder weniger fest regulierte Formen des Zusammenlebens zu finden. Gleichzeitig müssen sie darauf achten, dass niemand zu sehr aus ihren Reihen tanzt, weil sonst ihr ganzes Abwehrsystem gefährdet werden könnte. Sie reagieren deshalb auf Wahrheitssucher und Außenseiter mit Angst und Wut. Wie in Platons Höhlengleichnis, wo einige aus der Höhle ausbrechen und das Licht der Sonne entdecken: Sie werden zurückgeholt oder vernichtet. Oder wie bei der „Möwe Jonathan“ in dem berühmten Buch von Richard Bach, wo die junge Möwe ihre genialen Entdeckungsflüge mit der Verbannung aus der Möwengruppe bezahlt.
Der Charakterpanzer ist immer verbunden mit dem Körperpanzer. Der Körperpanzer ergibt sich aus dem Ensemble jener inneren und äußeren Gegenbewegungen, die der unterdrückte Körper automatisch unternimmt, um gefährliche Triebregungen und Impulse aus dem eigenen Inneren aufzufangen und abzuwehren.
In einer Kultur, deren Teilnehmer jahrtausendelang mit Zuckerbrot und Peitsche zur Selbstunterdrückung elementarer Energiebewegungen gezwungen worden sind, wird der Körperpanzer zu einem festen Bestandteil der kollektiven Biologie.
Durch den Aufbau des Körperpanzers besteht die biologische Energie des Menschen aus zwei Teilen: einem ursprünglichen, welcher mit ursprünglichen, organischen, kraftvollen Bewegungen verbunden ist, und einem entgegengerichteten, welcher ebendiese Bewegungen unterdrückt. Dadurch ist in der menschlichen Zivilisation eine absurde Situation entstanden, denn die beiden Energieströme lähmen sich gegenseitig. Die Menschen klagen dann über Kopfweh, Müdigkeit und Energielosigkeit, während sie in Wirklichkeit an einem Überschuss von Energie leiden, welcher sich aber selbst blockiert.
Der ursprünglichen Energie sind die Wege nach außen versperrt. Fast alle unsere psychosomatischen Erkrankungen und Dauerleiden, unsere Animositäten und Allergien, unsere missmutigen Launen und Depressionen stammen aus einem ursprünglichen Überschuss an Energie, welche im Regelsystem einer lebensfeindlichen Gesellschaft keinen Ausweg finden kann. Dies ist ein wichtiger Hinweis für das Konzept der Heilung und für eine realistische neue Vision des geheilten Menschen. Wir verfügen, wenn der Körperpanzer aufgelöst ist, über ein Mehrfaches unserer „normalen“ Kräfte, und wir können sie einsetzen, ohne zu ermüden.
Es ist gut zu wissen, wie viel Energie in einem steckt. Menschen, die ohne Körperpanzer leben, befinden sich in einem lebendigen Fließgleichgewicht, in das aus dem kosmischen Energiereservoir immer so viel Energie hineinströmt, wie verausgabt worden ist. Und das kosmische Energiereservoir, das wissen wir, ist praktisch unendlich. Dies weiß jeder gute Langläufer; er läuft und atmet so, dass durch die Art seiner Bewegung laufend neue Energie einströmen kann. Dies ist das Geheimnis aller hohen körperlichen Leistungen.
Charakterpanzer und Körperpanzer bilden zusammen ein Angstabwehrsystem, welches automatisch funktioniert und uns von den zentralen Kraftquellen des Lebens fernhält, denn es war ja meistens im Umkreis dieser Kraftquellen, wo die traumatischen Verletzungen stattfanden. Besonders die sexuelle Kraftquelle, die im unteren Bauchraum liegt, soll nicht mehr tiefgreifend berührt werden, damit nicht alte Sehnsüchte und ein schmerzhaftes Verlangen aufs Neue mobilisiert werden. Die Sexualität muss deshalb — trotz allen Theaters von stöhnender Leidenschaft — so flach und oberflächlich wie möglich sein, kaufbar, handlich, kalkulierbar und integrierbar.
Der Bauchraum soll vor tieferen Pulsationen bewahrt bleiben, dem dienen die Mode des eingezogenen Bauches, die muskulären Panzerungen am Zwerchfell, an der Bauchdecke und unten am Beckenboden. Durch diese Panzerungen wird außerdem die Energieverbindung zwischen Genitalien und Herz, Sexualchakra und Herzchakra unterbrochen. Sexualität und Liebe können so nicht mehr richtig zueinanderkommen. Die Folge ist der auf den physiologischen Ablauf reduzierte Sex und die endgültige Trennung von sinnlicher und religiöser Liebe, von Eros und Religion. In dieser Trennung liegt unsere schwerste Erkrankung.
Wenn wir Heilung finden wollen, dann müssen wir raus aus dem Getto unserer Panzerungen. Und wenn eine ganze Kultur der Heilung entstehen soll, dann müssen wir aussteigen aus der Geschichte, indem wir ihre inneren Traumata auflösen und uns selbst in den Dienst eines gänzlich anderen Lebens stellen.
Somit steht die Friedensarbeit unserer Zeit vor zwei epochalen Themen: der Auflösung des geschichtlichen Angstknotens und der Auflösung der neurotischen Schutzsysteme, die wir voreinander aufgebaut haben, um nicht mehr in den Schmerzzonen unserer Seele berührt zu werden. Beide Aufgaben können nicht von der Psychotherapie gelöst werden, solange sie die gesellschaftlichen Strukturen beibehält. Sie verlangen den Aufbau neuer sozialer und kultureller Erfahrungsräume, wo die Angst nicht mehr genährt wird und wo deshalb die alten Abwehrsysteme keinen Sinn mehr haben. Mit diesen beiden Gedanken wurde das Friedensprojekt gegründet, welches in Kapitel 6 beschrieben wird.
Dieser Text ist ein Auszug aus: Die heilige Matrix — Von der Matrix der Gewalt zur Matrix des Lebens. Grundlagen einer neuen Zivilisation von Diether Duhm. Hier können Sie das Buch bestellen: Buchkomplizen