Die Angst vor dem ungelebten Leben

Im Rubikon-Exklusivinterview erklärt Werner Köhne, wie wir den Tod tabuisieren und die Lebensfreude dem bloßen Überleben opfern.

Fürchten wir den Tod, weil wir unser Leben nicht im vollen Umfang leben? Dieser Frage geht Jens Lehrich im Rubikon-Interview mit dem Philosophen, Filmemacher und Altenpfleger Werner Köhne nach. Aktueller als heute war die Frage wohl nie. In der Krise wird das nackte Überleben in den Fokus gerückt. Das intensive und vor Gefühlen sprudelnde Leben wird erstickt durch das Streben, den Tod so weit wie möglich hinauszuzögern. Warum aber um jeden Preis ein Leben retten, das eigentlich gar keines ist?

Jedes Leben zählt! So erzählt man uns in der Coronakrise. Niemand dürfe dem Tod überlassen werden.

Wonach niemand zu fragen scheint, ist die subjektiv erlebte Lebensqualität des Einzelnen. Hängt man im Siechtum befindliche Menschen ewig an Maschinen, statt sie in Frieden gehen zu lassen, so gilt dies als humaner Akt. Der Tod gilt als das, was es so lange wie möglich zu vermeiden gilt, egal zu welchem Preis — selbst wenn ein ungelebtes Leben auf diesem Preisschild steht.

Warum haben wir in der modernen Zivilisation ein so krankes Verhältnis zum Tod? Warum betrachten wir Leben und Tod dualistisch statt als Symbiose? Die griechischen Götter beneideten die Menschen schließlich um ihre Endlichkeit. Jene Endlichkeit, die dem Leben erst die nötige Würze verleiht und den Menschen dazu antreibt, die Lebenszeit mit Lebendigkeit zu füllen.

Doch den meisten Menschen scheint dies nicht zu gelingen. Und so fürchten sie das Ende, welches sie in Ermangelung eines metaphysischen Halts als endgültig betrachten. Sie sehen in der Sanduhr die Körner ihres ungelebten Lebens hinabrieseln.


Werner Köhne und Jens Lehrich im Gespräch