Dialog über Russland
Die Replik verlangte nach einer Replik. Christian Stolle diskutiert mit Felix Feistel weiter über das Thema „Putin, der Westen und die Schuldfrage“.
Nicht alles, was westliche Medien und Politiker behaupten, ist „die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“. Dies ist den meisten Lesern „alternativer“ Formate bewusst. Aber wie ist es mit russischen Medien und Politikern? Gibt es dort etwa keine Propaganda, keine verzerrenden Darstellungen des Sachverhalts? Es macht wenig Sinn, sich ganz und gar auf eine Seite zu schlagen und alle Informationen, die nicht in das vom eigenen Lager gepflegte Narrativ passen, abzuwehren. Besser ist ein offener Austausch, bei dem alles auf den Tisch kommen darf. So kann im Dialog ein Gesamtbild entstehen, das der Wahrheit zumindest nahekommt. Im Zeitalter von Cancel Culture und Gesprächsverweigerung findet auf Manova auf zivilisierte Art und Weise eine kontroverse Diskussion über ein emotional aufgeladenes Thema statt.
Wie erwartet hat mein Artikel über russische Propagandalügen hohe Wellen geschlagen. Trotz überwiegend positiver Resonanz dürfte es einer der meistkritisierten Artikel auf Manova sein, wobei nur wenige sich die Mühe machten, dem Link zur Langfassung meines Textes mit vielen weiteren Belegen und Hintergründen zu folgen, wie die Statistik auf Substack zeigt.
Trotz der Brisanz des Themas und des aufgeheizten gesellschaftlichen Gesprächsklimas ist es Felix Feistel gelungen, in seiner Replik auf meinen Artikel, die ebenfalls auf Manova erschien, sachlich zu bleiben. Unter diesen Umständen bin ich gerne bereit, das Gespräch fortzuführen, inhaltlich weiter in die Tiefe zu gehen und ebenfalls eine gesittete Diskussionskultur zu pflegen.
Auch dieser Artikel erscheint aufgrund seiner Länge nur in Auszügen auf Manova. Die Langfassung mit dreimal so viel Inhalt steht wieder exklusiv auf Substack.
Butscha
Feistel verweist auf einen Artikel von Anti-Spiegel, der ukrainische Kriegsverbrechen in Butscha belegen soll. Thomas Röper behauptet in diesem Artikel, die Aussage des tschechischen Söldners Filip Siman vor einem tschechischen Gericht bedeutet, „dass es die ukrainischen Kräfte waren, die gemordet und vergewaltigt haben“.
In Wahrheit berichtete Siman von Vergewaltigungen durch russische Soldaten und deutete an, dass seine Einheit die russischen Soldaten dafür hingerichtet habe:
„In seiner Zeugenaussage beschrieb Siman seine Zeit in der Ukraine sehr detailliert, einschließlich der Schrecken des Krieges, die er erlebte. So wurde beispielsweise auf dem Handy eines der festgenommenen russischen Soldaten ein Video gefunden, in dem sechs russische Soldaten eine Mutter zweier Kinder vergewaltigen, die gezwungen wurden, dabei zuzusehen.
Auf die Frage des Richters, ob die festgenommenen Russen erschossen wurden, antwortete Siman: ‚Ihr Schicksal war das Ergebnis des Schicksals, das sie ihren Opfern bereitet haben. (…) Wir waren die Polizei, wir waren das Gericht, wir waren das Erschießungskommando, als es darauf ankam.‘
Er sagte auch, dass er mehrere Leben gerettet hat, worauf er stolz ist.“
Siman gab zu, Wertgegenstände aus verlassenen Häusern gestohlen zu haben. Laut Zeugenaussagen soll er außerdem Leichen, die er in Butscha gefunden hatte, ihrer Wertsachen beraubt haben. Weder Siman noch andere Zeugen sprachen in seinem Prozess jedoch von Vergewaltigungen oder Morden an Zivilisten durch ukrainische Truppen oder proukrainische Söldner.
Russische Soldaten ermordeten hingegen nachweislich ukrainische Zivilisten in Butscha, wie in diesem Video (ab 19:01) und in diesem Video (ab 15:57) zu sehen ist. Zudem legt diese Audioaufnahme (ab 7:31) nahe, dass ein russischer Kommandeur zur Ermordung von Zivilisten aufrief.
Odesa
Feistel schreibt:
„Die Folgen einer Untätigkeit seitens Russland kann man am Beispiel des Brandes im Gewerkschaftshaus in Odesa sehen. Damals hatten faschistische Verbände eine Gruppe von Gegnern des Maidans in das Gewerkschaftshaus getrieben und dieses dann angezündet.“
Fakt ist, am 2. Mai 2014 organisierten Fans der Fußballvereine Metalist Charkiw und Tschornomorez Odesa einen „Marsch der Einheit der Ukraine“ in Odesa, an dem rund 2.000 Fans und proukrainische Aktivisten teilnahmen, darunter auch Mitglieder des Rechten Sektors.
Zu jener Zeit bestand auf dem Kulikowo-Platz in Odesa bereits seit fast zwei Monaten ein prorussisches Protestcamp. Zu den dort vertretenen Gruppen gehörten die marxistisch-leninistische Borotba sowie die neonazistisch inspirierten Schwarzhunderter, die Slawische Einheit und die Odesa Druschina, deren militanter Flügel, die Odesa Brigade, auch im Donbas kämpfte.
In der Regel hielten sich mindestens mehrere hundert Personen im Camp auf. Laut Serhiy Rudyk, einem Mitglied der Odesa Druschina, erhielten die Aktivisten pro Person und Nacht 150 Hrywnja (etwa 10 Euro), wobei dieser Betrag später auf 50 Hrywnja reduziert wurde. Die Finanzierung kam angeblich aus Russland.
Der russische Neonazi Anton Rajewski von den Schwarzhundertern kam im März auf dem Kulikowo-Platz an. Neben einem Hakenkreuz zieren tätowierte Naziparolen „Jedem das Seine“ und „Blut und Boden“ seinen Körper. Am 19. März berichtete Rajewski auf VKontakte:
„Ich wurde von Kämpfern der Odesa Brigade abgeholt und zum Kulikowo-Platz gebracht, wo sich ein patriotisches Militärlager befindet. Mir wurden sofort ein Schild, ein Schlagstock und eine kugelsichere Weste ausgehändigt. Alles war so, wie ich es erwartet hatte.“
Knapp zwei Wochen später wurde Rajewski von den ukrainischen Behörden des Landes verwiesen. Zurück in Russland erklärte er in einer Videobotschaft:
„Wir sind bereit, Blut zu vergießen, und wir werden es vergießen — das Blut unserer Feinde. (…) (I)ch habe gezeigt, dass russische Nationalisten, russische Freiwillige, bereit sind, in die Ukraine zu gehen, und dass sie gehen, um die Interessen nicht nur der russischsprachigen Bevölkerung zu verteidigen, sondern auch — lasst uns die Dinge beim korrekten Namen nennen — des russischen Volkes.“
Russlands Präsident Wladimir Putin behauptet regelmäßig, Odesa sei eine „russische Stadt“. Tatsächlich hatte Odesa seit den 1940ern stets eine ethnisch ukrainische Bevölkerungsmehrheit. Odesa ist überwiegend russischsprachig, gilt aber seit jeher als kosmopolitisch und ist definitiv keine Hochburg prorussischer Kräfte. 1991 stimmten 85 Prozent der Einwohner für die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland.
Am 2. Mai 2014 griffen circa 300 prorussische Aktivisten etwa 2.000 proukrainische Aktivisten beim „Marsch der Einheit der Ukraine“ an. Der Angriff der prorussischen Aktivisten auf eine zahlenmäßig weit überlegene Gruppe von Fußballfans und Mitgliedern des Rechten Sektors erscheint nur plausibel bei waffentechnischer und/oder taktischer Überlegenheit.
Laut einem Bericht von Human Rights Watch waren die prorussischen Aktivisten mit Schusswaffen, Schlagstöcken, Messern, Helmen und kugelsicheren Westen ausgerüstet. Sechs Personen wurden mutmaßlich von prorussischen Aktivisten erschossen, mehr als hundert Personen wurden bei den Zusammenstößen verletzt. Videos belegen, dass einige Polizisten prorussische Aktivisten schützten, als diese auf proukrainische Aktivisten schossen.
Nachdem die proukrainischen Aktivisten ein Feuerwehrauto unter ihre Kontrolle gebracht hatten, gelang es ihnen, die prorussischen Aktivisten unter Einsatz des Autos und des Wasserwerfers zu vertreiben. Die langsame Reaktion der Feuerwehr beim späteren Brand des Gewerkschaftshauses kann nicht mit der Entwendung des Feuerwehrautos erklärt werden, da es in der Millionenstadt Odesa selbstverständlich mehr als ein Feuerwehrauto gab.
Gegen 19:00 Uhr räumten die prorussischen Aktivisten ihr Protestcamp auf dem Kulikowo-Platz. Sie wurden nicht, wie Feistel schreibt, „in das Gewerkschaftshaus getrieben“, sondern zogen sich mit Schusswaffen und Molotowcocktails bewaffnet in Erwartung der Ankunft der proukrainischen Aktivisten auf dem Kulikowo-Platz in und vor das angrenzende Gewerkschaftshaus zurück, was bereits im Vorfeld geplant wurde:
„(A)ktivisten hatten (…) Barrikaden im Inneren des Gewerkschaftshauses errichtet mit Vorräten an Molotowcocktails und brennbaren Flüssigkeiten. (…) (S)ie hatten im Vorfeld bewusst Menschen versammelt, um das Gebäude zu besetzen und zu verteidigen, mit Aufrufen nicht nur auf dem Platz vor dem Gebäude, sondern auch früher, zum Beispiel in sozialen Netzwerken. (…)
Schon nach den ersten Zusammenstößen im Stadtzentrum wurden Menschen angerufen und gebeten, mit medizinischer Hilfe und anderen Gegenständen zu kommen. Zeugen haben auch berichtet, dass einigen Fahrgästen der Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 18 gesagt wurde, dass sich eine Bombe in der Straßenbahn befinde und sie sich im Gewerkschaftshaus verstecken sollten.“
Nachdem einer der Anführer der prorussischen Aktivisten, Anton Dawydtschenko, circa 400 Personen in das Gewerkschaftshaus gelockt hatte, flüchtete er. Kurz darauf erreichten die proukrainischen Aktivisten den Kulikowo-Platz und zerstörten das verlassene Protestcamp.
Laut einer Untersuchung von Beteiligten beider Konfliktparteien bewarfen sich beide Seiten nun gegenseitig mit Molotowcocktails. Zusätzlich schossen die prorussischen Aktivisten von mehreren Positionen im zweiten und dritten Stock sowie vom Dach des Gewerkschafthauses auf die proukrainischen Aktivisten.
Als proukrainische Aktivisten durch einen Seiteneingang in das Gebäude eindrangen, warfen offenbar prorussische Aktivisten einen Molotowcocktail innerhalb des Gebäudes und vertrieben damit die Angreifer. Die prorussischen Verteidiger an der Vorderseite zogen sich nun vollständig in das Gebäude zurück und verbarrikadierten den Eingangsbereich mit Holzpaletten.
Eine Untersuchung des Forschungs- und Forensikzentrums des Innenministeriums in Mykolajiw ergab, dass das Feuer im Gewerkschaftshaus an fünf Stellen ausgebrochen war: im Eingangsbereich, in den beiden Treppenhäusern zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock, in einem Raum im ersten Stock sowie auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock. Laut der Untersuchung konnten die Brände — mit Ausnahme des Feuers im Eingangsbereich — nur durch Personen innerhalb des Gebäudes verursacht worden sein.
Feistel schreibt:
„Jeder, der sich retten wollte, wurde erschossen oder brutal zu Tode geschlagen.“
Da über 300 Personen den Brand im Gewerkschaftshaus sowie die anschließende Evakuierung überlebten, wurde offensichtlich nicht jeder, der sich retten wollte, getötet. 32 Personen starben aufgrund des Feuers beziehungsweise aufgrund der Rauchentwicklung im Gebäude, 7 beim Sprung aus dem Fenster und 3 erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen. Bei keinem der 42 Todesopfer sind Schussverletzungen belegt.
Tatsächlich ist belegt, dass zahlreiche Personen, die aus dem Gebäude flüchteten, verprügelt wurden. Es ist jedoch nicht belegt, dass Personen bei diesen Angriffen zu Tode kamen. Die Polizei schützte flüchtende prorussische Aktivisten mit einer Menschenkette. Darüber hinaus halfen proukrainische Aktivisten den prorussischen Aktivisten mit einem Gerüst und einer Leiter, sicher aus dem brennenden Gebäude zu entkommen, wie in diesem Video (ab 21:40) zu sehen ist.
In der Gesamtbetrachtung war die Tragödie im Gewerkschaftshaus von Odesa nicht die Folge russischer Untätigkeit, sondern russischer Subversion. Sie ereignete sich nach der russischen Annexion der Krim im März 2014 und nach dem Beginn der russischen Invasion des Donbas im April 2014.
Es liegt auf der Hand, dass die monatelange Eskalation der russischen Aggression gegen die Ukraine Ressentiments schürte und die Wahrscheinlichkeit von Gewalt gegen prorussische Demonstranten erhöhte.
Das Protestcamp militanter prorussischer Aktivisten, die am 2. Mai 2014 Gewalt gegen proukrainische Aktivisten initiierten und dabei mutmaßlich sechs Menschen erschossen, bevor es zur Tragödie im Gewerkschaftshaus kam, war ein typisches Beispiel für Russlands hybriden Krieg gegen die Ukraine, insbesondere im Süden und Osten des Landes.
Donbas
Feistel schreibt:
„Es fand 2014 (…) keine ‚Invasion‘ in die Ostukraine statt. Die beiden Donbasrepubliken haben sich im Zuge der Maidanaufstände von der Ukraine abgespalten (…).“
Tatsächlich erfolgte die Gründung der Donbasrepubliken nicht im Zuge der Maidanaufstände, sondern erst zwei Monate später, offenbar weil Russland zunächst mit der Annexion der Krim beschäftigt war.
Parallel zur Annexion der Krim finanzierte Russland prorussische Aktivisten, um Aufstände in der Südostukraine anzuzetteln. Dies geht aus abgehörten Gesprächen zwischen Putins Berater Sergej Glasjew, dem Gründer des Moskauer Instituts der GUS-Staaten, Konstantin Zatulin, und dem stellvertretenden Direktor des Instituts, Kirill Frolow, hervor. Zatulin bestätigte die Echtheit der Aufnahmen, sagte aber, sie seien aus dem Zusammenhang gerissen.
Halya Coynash von der Kharkiv Human Rights Protection Group schrieb zu den Aufnahmen:
„Glasjew sagt eindeutig (…), dass alle Aufstände den Anschein erwecken müssen, von den Einheimischen auszugehen, wobei es besonders wünschenswert ist, dass Kommunen usw. an Russland appellieren, zu intervenieren. Eines der Gespräche ist mit dem russischen Politiker Konstantin Zatulin, der davon spricht, verschiedenen Gruppen ‚wie versprochen‘ Geldbeträge zu zahlen. (…)
Aus den Aufnahmen geht eindeutig hervor, dass die Aktionen von Putins Berater Glasjew finanziert und koordiniert werden, gemeinsam mit Zatulin und Frolow (ein russischer Staatsangehöriger einer prorussischen Gruppe, die sich Union der orthodoxen Bürger der Ukraine nennt).“
Dass es sich bei der Abspaltung der Donbasrepubliken um eine russische Invasion handelte, ist von den Separatisten selbst bezeugt und aufgrund der Faktenlage evident, wie ich in der Langfassung meines Artikels im Abschnitt „russische Separatisten“ ausführlich belegte:
„Anfang März 2014 versuchte Pawel Gubarew, ein Ukrainer aus Donezk mit einer Vergangenheit in der neonazistischen Partei Russische Nationale Einheit, einen ‚Volksaufstand‘ in Donezk anzuzetteln und erklärte sich selbst zum ‚Bürgermeister des Volkes‘. Der besagte Aufstand und die Idee, dass es einen ‚Volksbürgermeister‘ geben müsse, lehnten sich eng (…) an das Szenario an, das von Putins Berater Sergej Glasjew vorangetrieben und üppig finanziert wurde.
Gubarews Aufstand scheiterte, und selbst das Auftauchen sogenannter ‚Touristen‘ — stämmige Russen, die geholt wurden, um die Unterstützung zu leisten, die sie von den einheimischen Ukrainern nicht bekommen konnten — verfehlte das Ziel Moskaus. Erst als Igor Girkin (Codename Strelkow), ein russischer ‚ehemaliger‘ FSB-Offizier, und seine schwer bewaffneten und ausgebildeten Männer (…) in Slawjansk eintrafen, fielen Teile des Donbas in die Hände der russischen bzw. russisch kontrollierten Kämpfer.
Erwähnenswert ist, dass sich Gubarew auch einer immer größer werdenden Zahl von Russen — oder, wie er, prorussischen ukrainischen Bürgern — angeschlossen hat, die (…) jede Vorspiegelung eines ‚Bürgerkriegs‘ im Donbas fallen gelassen haben (…). In einem Interview mit Maxim Kalaschnikow (…) erklärte Gubarew ganz klar, dass es ohne die russische Beteiligung keine selbsternannte Donezker Volksrepublik gegeben hätte (…). Es war Girkin (und seinen schwer bewaffneten Männern) gelungen, ‚den Aufstand aus einem gewöhnlichen, unbewaffneten und zahnlosen Straßenprotest herauszuziehen‘.“
Offengelegte E-Mails von Wladislaw Surkow, den Putin bereits vor den Maidanaufständen zum Leiter des russischen Programms zur Russifizierung der Ukraine ernannte, bestätigen ebenfalls, dass Russland den Separatismus im Donbas von langer Hand vorbereitete:
„Die E-Mails enthüllen die Details der täglichen Operationen Russlands zur Destabilisierung der Ukraine. Sie beschreiben insbesondere, wie der Kreml die Schwächen der Ukraine erforschte, ‚Insider‘ suchte, die dabei helfen konnten, solche Schwächen sowie lokale Gruppen zu identifizieren, die dabei helfen würden, diese Schwächen auszunutzen, und heimlich Programme finanzierte, die darauf abzielten, die Ukraine zu spalten.
Er unterstützte lokale Gruppen, die im Wesentlichen Zuschussanträge für Aktivitäten eingereicht hatten, die bestehende Konflikte verschärfen und neue hervorrufen, Proteste anregen, Angst, Verwirrung und Misstrauen verbreiten und unter dem Deckmantel vorgetäuschter zivilgesellschaftlicher Aktivitäten die Illusion einer Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung für den Föderalismus und/oder Russland erzeugen sollten. Die E-Mails deuten darauf hin, dass der Kreml und seine Agenten eng mit den ‚Zuschussempfängern‘ zusammenarbeiteten, den Erfolg der einzelnen Maßnahmen analysierten und künftige Pläne je nach Entwicklung der Situation änderten.“
Alexander Schuchkowski, ein Russe der neonazistischen Russischen Reichsbewegung, schrieb:
„Strelkow (Igor Girkin) und seine Krim-Kompanie waren die erste Gruppe von Freiwilligen, die die russische Grenze zum Donbas überquerte. Sie bildeten den Kern der Slawjansker Garnison und später der Streitkräfte der Donezker Volksrepublik.“
Girkin gab zu, „dass die ersten Schüsse und damit die Gewalt im Donbas tatsächlich von seinen Männern provoziert wurden“. Wörtlich sagte er:
„Ich bin derjenige, der den Krieg ausgelöst hat.“
Schuchkowski kämpfte an der Seite von Girkin und organisierte laut eigener Aussage „den Zustrom russischer Freiwilliger in den Donbas“, darunter zahlreiche Neonazi-Verbände.
Feistel schreibt:
„Russland schickte zur Unterstützung gegen die (ukrainischen) neonazistischen Bataillone Waffen und Soldaten, um die westlichen Angriffe auf das Land zurückzuwerfen.“
Tatsächlich wurde die Gewalt im Donbas nicht vom Westen, sondern von Russland initiiert. Ukrainische Neonazis waren die ersten, die auf die russische Invasion reagierten, weil die offiziellen ukrainischen Sicherheitskräfte offenbar aus Angst vor einer russischen Großoffensive zunächst untätig blieben.
Es dauerte eine Weile, bis das ukrainische Militär gegen die Separatisten vorging, aber bis August 2014 hatte die Ukraine einen Großteil der Separatistengebiete zurückerobert. Dann griff die russische Armee mehrmals auf ukrainischem Territorium ein, was den Separatisten zu entscheidenden Siegen im August 2014 bei Ilowajsk sowie im Februar 2015 bei Debalzewe verhalf, mit denen die ukrainische Regierung zur Unterzeichnung der Minsker Verträge gezwungen wurde.
Die direkte russische Militärintervention „nahm die Form von Vorstößen mehrerer bataillonsgroßer Einheiten an“ und ist belegt durch „Berichte von Separatisten, Videos von russischen Militärkonvois, Videos von gefangen genommenen russischen Soldaten und Ausrüstungsgegenständen, Berichte aus erster Hand von (…) Augenzeugen sowie veröffentlichte Satellitenbilder von russischen Militärfahrzeugen auf der ukrainischen Seite der Grenze“. Zudem starben zu jener Zeit laut offiziellen russischen Angaben viele Soldaten im Rahmen einer nicht näher bezeichneten Sondermission „an einem Ort der vorübergehenden Versetzung“.
Fakt ist, die Abspaltung der Donbasrepubliken von der Ukraine erfolgte von Beginn an mit russischer Hilfe. Russland hat den Krieg im Donbas begonnen und die russische Armee hat auf ukrainischem Territorium auf Seiten der Separatisten interveniert. Der Krieg im Donbas war somit eine russische Invasion, ein hybrider Krieg, der in verschiedenen Phasen erfolgte. Wie ich in der Langfassung meines Artikels belegte, hat Russland die Abspaltung der Südostukraine bereits lange vor den westlich unterstützten Maidanaufständen geplant und vorbereitet.
Feistel schreibt:
„Eine Abspaltung dieser Regionen von der Ukraine sowie ein Beitritt zur russischen Föderation musste (…) gar nicht erzwungen werden. Es bedurfte lediglich der Möglichkeit einer Volksabstimmung. Dass diese zugunsten Russlands ausgehen würde, war von Anfang an klar.“
Tatsächlich zeigten ausschließlich die von russisch kontrollierten Militärdiktaturen durchgeführten „Volksabstimmungen“ eine Zustimmung der Bevölkerung zur Abspaltung von der Ukraine. In Donezk lag die Zustimmung im Mai 2014 angeblich bei 89 Prozent, in Luhansk bei 96 Prozent.
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen über das Meinungsbild im Donbas widersprechen diesen Zahlen, wie ich in der Langfassung meines Artikels gezeigt habe.
Laut einer Umfrage des Donezker Instituts für Sozialstudien und politische Analysen vom März 2014 lehnten 77 Prozent der Bürger von Donezk, der größten Stadt im Donbas, die separatistische Übernahme von Verwaltungsgebäuden ab. Nur 26,5 Prozent befürworteten prorussische Demonstrationen.
Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center vom April 2014 wollten 70 Prozent der Ostukrainer sowie 58 Prozent der russischsprachigen Ostukrainer die territoriale Integrität der Ukraine bewahren. Diese Umfrage kann nicht als westliche Propaganda abgetan werden, da sie auch ergab, dass 91 Prozent der Krimbewohner die Abstimmung über die Abspaltung der Krim für frei und fair hielten und 88 Prozent sich dafür aussprachen, dass die Regierung in Kyjiw das Ergebnis respektieren solle.
Das Internationale Soziologieinstitut in Kyjiw führte zwischen April und Mai 2014 eine weitere Umfrage durch. Demnach befürworteten 30,9 Prozent der Menschen im Donbas eine Abspaltung der Region von der Ukraine oder einen Anschluss an Russland. 58,5 Prozent wollten, dass die Ukraine geeint bleibt, wobei die Mehrheit innerhalb dieser Gruppe mehr Autonomierechte für den Donbas innerhalb einer geeinten Ukraine befürwortete.
Kritiker mögen hinter der Umfrage des Internationalen Soziologieinstituts in Kyjiw ukrainische Propaganda vermuten, aber die Umfrage wurde von Iwan Katschanowski durchgeführt, der das Maidanmassaker als ukrainischen Anschlag unter falscher Flagge entlarvte und daher sicher kein Propagandist der ukrainischen Regierung ist.
Laut einer Umfrage des Internationalen Republikanischen Instituts aus dem Jahr 2017 sprachen sich im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbas nur 4 Prozent für eine Abspaltung der Separatistengebiete aus. Diese Umfrageergebnisse wurden durch Untersuchungen des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien aus den Jahren 2016 und 2019 bestätigt. Demnach sprachen sich 2016 im ukrainisch kontrollierten Donbas 7,6 Prozent der Befragten für eine Abspaltung der Separatistengebiete von der Ukraine aus, 2019 waren es nur noch 4,6 Prozent.
In den Separatistengebieten selbst waren die Zahlen deutlich höher. 44,5 Prozent sprachen sie 2016 für eine Abspaltung von der Ukraine aus, 2019 waren es 45,5 Prozent. Dennoch gab es somit auch fünf Jahre nach Gründung der Volksrepubliken in diesen Gebieten keine Mehrheit für eine Abspaltung von der Ukraine.
Die Bewohner der Separatistengebiete sprachen sich klar für eine Dezentralisierung der politischen Macht innerhalb der Ukraine und mehr Autonomie für den Donbas aus, wollten sich aber nicht von der Ukraine abspalten oder Teil Russlands werden, ganz im Gegensatz zu dem, was die von Russland kontrollierten Separatistenführer anstrebten.
Kritiker mögen hinter der Untersuchung des Berliner Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien westliche Propaganda vermuten, aber sie bestätigte auch, dass die Selbstidentifikation der Menschen im ukrainischen Donbas als ukrainische Staatsbürger zwischen 2016 und 2019 deutlich abgenommen hat, was sicher nicht im Sinne der ukrainischen oder westlichen Propaganda ist.
Zudem bestätigte die Untersuchung, dass die Bewohner der Separatistengebiete sich ethnisch und sprachlich eher als russisch denn als ukrainisch sahen. In der Frage der Staatsbürgerschaft war es jedoch umgekehrt, wobei die größte Gruppe sich weder als ukrainische noch als russische Staatsbürger identifizierte, sondern als gemischt ukrainisch-russisch und als Bürger des Donbas.
Wenn man argumentieren will, dass all diese Umfragen parteiisch sind, müsste man erklären, warum sie dem westlichen Narrativ in vielen Punkten widersprechen. Wie plausibel ist es, dass all diese verschiedenen Quellen sich allein bei der ganz speziellen Frage nach der Haltung der Donbasbevölkerung zum Separatismus verschworen haben, in anderen Fragen aber nicht?
Tatsächlich spiegeln die Umfrageergebnisse der verschiedenen Institute die beobachtbaren Fakten wider. Russische Paramilitärs, reguläre Soldaten sowie Militär- und Politikberater waren die treibenden Kräfte des Separatismus im Donbas. Ohne russische Hilfe wären die Separatistenrepubliken weder entstanden noch hätten sie überlebt.
Zensur
Feistel schreibt, Alexei Gorinow, ein Mitglied der oppositionellen russischen Solidarnost-Bewegung, wurde „nicht zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er von einem Krieg gesprochen hatte, sondern weil er erklärt hatte, in der Ukraine stürben jeden Tag Kinder aufgrund der Kämpfe“.
Tatsächlich sagte Gorinow:
„(F)ast 100 Kinder sind bereits in der Ukraine gestorben, und jeden Tag werden weitere Kinder zu Waisen. (…) Ich glaube, dass alle Bemühungen unserer Zivilgesellschaft ausschließlich darauf gerichtet sein sollten, den Krieg zu beenden und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen.“
Feistel schreibt, ein Gericht befand Gorinow für schuldig nach „Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches, der die ‚öffentliche Verbreitung von wissentlich falschen Informationen über den Einsatz russischer Streitkräfte‘ unter Strafe stellt“. Feistel schreibt, es sei „faktisch falsch, dass es dabei um die Bezeichnung der ‚militärischen Sonderoperation‘ als ‚Krieg‘ gegangen sei“.
Tatsächlich ging es laut offiziellem Gerichtsurteil um „aufgezeichnete Aussagen (…) mit wissentlich falschen Informationen (…) über die Durchführung militärischer Angriffsaktionen durch die Russische Föderation auf dem Territorium eines anderen souveränen Staates, wobei diese nicht als spezielle Militäroperation, sondern als Krieg bezeichnet wurden, (…) (und) über den täglichen Tod von Kindern auf dem Territorium der Ukraine infolge der Durchführung von Militäroperationen durch die Russische Föderation“.
Es ging also sowohl um die Bezeichnung des Krieges als Krieg als auch um Gorinows Aussage über getötete Kinder. Gorinow machte seine Aussage drei Wochen nach Beginn der russischen Großoffensive. Zu jener Zeit wurden laut UN-Angaben mehr als drei Kinder pro Tag getötet. Das bedeutet, Gorinow lag mit seinen Zahlen über durch den Krieg getötete Kinder richtig. Insofern war seine Verurteilung eine doppelte Realitätsverweigerung der russischen Justiz.
Feistel schreibt:
„Was Stolle aber unerwähnt lässt, ist, dass das Urteil (gegen Gorinow) auch innerhalb Russlands für Kritik sorgte und Revision eingelegt wurde.“
In jedem Land der Welt — vielleicht mit Ausnahme von Nordkorea — würde ein solches Urteil für Kritik sorgen. Ich bitte um Verzeihung, dass ich in meinem Artikel nicht ausdrücklich erwähnt habe, dass Russland noch nicht auf dem Stand von Nordkorea ist.
Das Urteil gegen Gorinow wurde im Juli 2022 verkündet. Die Revision hielt ich nicht für erwähnenswert, da sie zwei Monate später abgelehnt wurde. Erwähnenswert erscheint mir vielmehr, dass Gorinow laut UN-Angaben unter folterähnlichen Bedingungen inhaftiert wurde:
„Gorinow wurde nach wie vor unter Bedingungen inhaftiert, die Folter und Misshandlung gleichkommen, einschließlich einer langen Haft in einer Strafisolationszelle unter kalten und feuchten Bedingungen, was zu einer weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustands führte. Zwischen dem 7. September und dem 25. Oktober 2023 wurde er an 48 aufeinander folgenden Tagen in Einzelhaft gehalten.“
Dieses Jahr wurde Gorinow wegen angeblicher Selbstmordgefahr unter Beobachtung gestellt. Gorinow schrieb dazu:
„Da ich mich selbst zu sehr schätze, Sie alle schätze und das Leben als ein Geschenk des Universums betrachte, möchte ich allen versichern, dass ich mein Leben unter keinen Umständen freiwillig beenden werde. Außerdem habe ich noch viele wichtige Dinge zu erledigen und große Pläne. Bitte merken Sie sich das, falls mir plötzlich etwas passiert.“
Feistel schreibt, „dass das russische Recht schon immer sehr streng war, was nur dadurch ausgeglichen wurde, dass es eher selten überhaupt zur Anwendung kam“. Tatsächlich wurden allein im ersten Monat nach der russischen Großoffensive 15.000 russische Kriegsgegner wegen Meinungsverbrechen festgenommen, teilweise einfach nur dafür, dass sie „nein zum Krieg“ sagten. Wenn dies eine seltene Anwendung der Zensurgesetze ist, was wäre dann häufig?
Putin und ihm nahestehende Personen wie Sergei Karaganow haben inzwischen selbst von einem Krieg gesprochen. Man kann den Krieg also Krieg nennen, solange man ihn nicht kritisiert. Die offizielle Bezeichnung lautet jedoch nach wie vor „spezielle Militäroperation“.
Laut Feistel erlaube „die Einstufung als Sonderoperation der russischen Regierung, den Rest des Landes nicht in einen Ausnahmezustand zu überführen“. Heißt das, die 2022 verabschiedeten Zensurgesetze, mit denen Regierungskritiker verfolgt und inhaftiert werden, sind kein Ausnahmezustand, sondern Normalzustand?
Weitere Punkte
Die ausführliche Version dieses Artikels mit dreimal so viel Inhalt gibt es exklusiv auf Substack. Dort weise ich Felix Feistel in vielen Fällen eine unkritische Akzeptanz russischer Regierungspropaganda, unwahrheitsgemäße Inhaltswiedergaben frei einsehbarer offizieller Dokumente des Europarats und der UN, sowie zahlreiche falsche Tatsachenbehauptungen zu angeblich von mir getätigten Äußerungen nach.