Deutschland trägt Kippa
Über den unterschiedlichen Umgang der Politik mit der Religion.
Während Vertreter der offiziellen deutschen Politik in der Öffentlichkeit mit Kippa für Religionsfreiheit und Toleranz auftreten, stehen sie mit dem Kopftuch auf Kriegsfuß. Und um es allen deutlich zu machen, welche Bedeutung die Religion in Deutschland spielt, werden in Bayern Kruzifixe wieder Pflicht in öffentlichen Gebäuden.
Dabei herrscht doch laut Grundgesetz nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch die Trennung von Kirche und Staat. Die Unterschiede, die führende Kreise von Politik, Medien und Staat zwischen den einzelnen Glaubensgemeinschaften machen, ist die Grundlage für die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Die Intoleranz wird geschaffen von denen, die öffentlich Toleranz fordern. Denn Toleranz lässt sich nicht verordnen. Man kann nur die gesellschaftlichen Grundlagen schaffen für ein verträgliches Zusammenleben der Religionen, Nationalitäten, Geschlechter und gesellschaftlichen Gruppen.
Um es in aller Deutlichkeit und unmissverständlich auszudrücken: Nicht die öffentliche Unterstützung der jüdischen Glaubensgemeinschaft durch Tragen der Kippa soll kritisiert werden, sondern die unterschiedliche Behandlung der Glaubensgemeinschaften. Wenn die Intoleranz in der Gesellschaft zunimmt, dann ist das nicht zuletzt zurückzuführen auf die tatsächlich gemachte Politik und nicht auf die Politik der Sonntagsreden. Es gab immer Feindbilder in der Bundesrepublik, die sich heute so freiheitlich geben will, und es gab hierzulande auch immer gesellschaftliche Gruppen, denen die Zugehörigkeit zur Gesellschaft streitig gemacht wurde.
Mit dem Ende des Kalten Krieges ist das alte Feindbild zusammengebrochen, das Ausdruck und Nährboden dieses politischen Konfliktes war, der Antikommunismus. Mit dem Sozialismus verschwand ein „Schuldiger“, dem man viele Missstände in den westlichen Gesellschaften in die Schuhe schieben konnte. Hohe Rüstungsausgaben zulasten des Wohlstands der Bevölkerung waren durch die Bedrohung aus dem Osten begründet worden. Wie sollten diese weiterhin aufrecht erhalten werden, wenn der Feind weggefallen war, der „uns“ bedrohte?
Die Geheimdienste mit ihrem gewaltigen Budget zitterten um ihre Existenz, als es keinen Feind mehr gab, den man beobachten musste – zum Schutz der herrschenden Ordnung. Und gegen wen sollten die Zeitungen Stimmung machen, wenn da niemand mehr war, mit dem man dem Bürger Angst einjagen konnte? Bedrohung musste her, und es fand sich ein Drehbuch dazu in dem Buch „Kampf der Kulturen“. Es traf eine Gruppe in der Gesellschaft, die bis dahin unauffällig und bescheiden unter uns gelebt hatte: die Moslems.
Gut, sie waren „uns“ immer fremd geblieben, die Moslems. Aber den meisten von „uns“ waren sie auch egal gewesen. Das bedeutete nicht unbedingt Ablehnung. Es war für die Deutschen und die meist türkischen Moslems schwierig, einander zu verstehen. Sie waren halt die stillen Kollegen am Arbeitsplatz, die die deutsche Sprache kaum verstanden und sprachen. Auch das war egal, solange sie die Anweisungen verstanden, die man ihnen gab, damit sie ihre Arbeit machen konnten. Und wenn Ali und Alfred am Montag wieder pünktlich bei der Arbeit erschienen, war es letztlich egal, dass der eine am Wochenende in der Moschee gebetet hatte und der andere in der Kirche.
Alles das änderte sich mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und der zunehmenden Arbeitslosigkeit nach dem Fall der Mauer. Der Rest an gesellschaftlichem Zusammenhalt kam mit der Einführung der Hartz-Gesetze unter die Räder. Auch vorher waren „die Ausländer“ in Deutschland nicht jedem willkommen gewesen. Aber die massive Ausgrenzung gerade der Moslems begann erst nach dem Fall der Mauer. Und Gründe dafür fanden sich oder sie wurden propagandistisch geschaffen, indem aufgewertet und neu bewertet wurde, was vorher kaum eine Rolle gespielt hatte wie das Kopftuch. Das ist für viele mittlerweile zum Politikum geworden und nun aktuell die Kippa.
Wie harmlose Kopfdeckungen doch zu Symbolen werden können beziehungsweise gemacht werden können und damit zum Stein des Anstoßes! Jedenfalls hatte niemand in den 1970er und 1980er Jahren solch hitzige Diskussionen um das Kopftuch geführt, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Wird die Kippa aufgewertet zum Symbol der Toleranz und Anerkennung dessen, der sie trägt, so wird das Kopftuch zum Symbol der In-Toleranz, wenn es jemand trägt.
Aber weshalb ist es der muslimischen Lehrerin nicht erlaubt, das Kopftuch in der Schule zu tragen, während es an derselben Schule der türkischen Putzfrau erlaubt ist? Sind Kippa und Kopftuch nicht nur zwei unterschiedlich bewertete religiöse Kopfbedeckungen, sondern werden zwei Kopftücher nun sogar auch noch religiös unterschiedlich bewertet? Ein politisches und ein unpolitisches Kopftuch? Und wieso ist das der muslimischen Lehrerin politischer als das der muslimischen Putzfrau? Traut man der Putzfrau kein politisches Bewusstsein zu?
In dieser Einstellung zum Kopftuch drückt sich dieselbe Entfremdung oder gar Verachtung der herrschenden Elite für die einfache Bevölkerung aus wie in den Hartz-IV-Gesetzen, die den Teil der Bevölkerung betreffen, der selbst von ehemals führenden Sozialdemokraten als arbeitsunwillig verunglimpft wurde. Natürlich gibt es auch unter den „Hartzern“ Menschen, die Klischees bedienen. Es gab auch Juden, die die Klischees bedienten, aus denen die Nazis ihr Feindbild formten. Auch viele Moslems bedienen die Klischees, aus denen heute ein Feindbild geschaffen wurde. Aber es ließen sich noch viele andere Klischees bedienen, aus denen man manche „deutsche“ gesellschaftliche Gruppe zum Feindbild machen könnte, wenn das den Interessen von Medien und Politik dienlich wäre.
Und das ist der Unterschied: Politik und Medien wollen das Kopftuch stellvertretend für die Moslems zum Symbol der Ablehnung machen und die Kippa zum Symbol der gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Es liegt so gut wie gar nicht an den Betroffenen, ob sie zur Gesellschaft gehören oder nicht. Es liegt an denen, die sie ausgrenzen wollen und die vor allem die Macht und die Möglichkeiten dazu haben.
Dabei ist die Auswahl beliebig, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Vor nicht einmal hundert Jahren – in der Menschheitsgeschichte keine lange Zeit – waren die Franzosen, die heute unsere besten Freunde in Europa sind, noch der Erbfeind. Ab den 1950er Jahren bis zum Fall der Mauer war es der „Russe“ oder die Kommunisten. Heute sind sie bedeutungslos geworden als politische Kraft. Wen könnte man heute noch mit dem Feindbild Kommunist erschrecken. Zwischenzeitlich wurden dann auch Asylbewerber zu Feindbildern aufgebaut, wenn es dem Wahlerfolg dienlich war. Die CDU scheute sich auch nicht, Wahlkampf zu machen mit der Phrase: „Kinder statt Inder.“ Auch die „Ossis“ mit ihrem „überzogenen Anspruchsdenken“ waren schon einmal der Stein gesellschaftlichen Anstoßes und Empörung.
Auch wenn hinter den Kosten für die Flüchtlinge die Aufregung über die Kosten von Hartz-IV vorerst zurückgetreten sind, so können gerade die Betroffenen der Hartz-Gesetze schnell wieder zu denen werden, die für „uns“ zu teuer werden. Wie schnell wurden die Russen wieder zum bevorzugten Feind des Westen, wo man doch nach dem Zusammenbruch der UdSSR so hoffnungsvolle Erwartungen hegte, wie Theresa May es anlässlich der Spannungen mit Russland wegen der Skripal-Affäre ausgedrückt hatte. Es lag nicht an den Russen, dass sie die Erwartungen des Westens nicht erfüllten. Es lag an den Erwartungen des Westens, denen die Russen nicht gerecht werden konnten. Denn diese Erwartungen waren getragen von den westlichen Interessen, in denen die der Russen keine Rolle spielten.
Es kann sehr schnell gehen mit dem Wechsel der Feindbilder. Und niemand ist davor sicher außer denen, die sie schaffen. Denn Feindbilder werden gerade dazu geschaffen, um von denen abzulenken, die die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander aufbringen. Mal werden die Religionen zum Stein des Anstoßes gemacht, mal die Nationalität und dann wieder die gesellschaftliche Stellung. Dagegen aber hilft nur Erkenntnis und die Schaffung eines Bewusstseins, dass die Unterschiede künstlich geschaffen wurden, die uns voneinander trennen.