Deutschland mit Gefühl
Kriegsähnliche Zustände im „Heiligen Land“ — mal wieder. Als Betrachter verspürt man dabei Resignation: Man kennt das seit Jahrzehnten nur so.
Wenn es nach den Medien geht, ist der Ukrainekrieg vorbei. Genauer gesagt: Sie berichten einfach nicht mehr davon. Im Osten nichts Neues mehr. Eine Art neue Ukraine hat sich stattdessen in der letzten Woche in Israel formiert. Der Konflikt ist natürlich nicht neu, eigentlich steht er in einer Kontinuität, die bis ins Jahr 1948 zurückreicht. Damals endete das britische Mandat über Palästina, und der Staat Israel wurde gegründet; damit gingen die Auseinandersetzungen los. Gleichwohl steht der Konflikt in seiner aktuellen Form für Deutschland auch in einer anderen Tradition: jener nämlich, weltpolitische Ereignisse und Probleme stets unter einem sehr emotionalen Blickwinkel zu betrachten.
Was fragt man heute im Freundes- und Familienkreis, wenn sich ein neuer Krisenherd formiert hat? Ganz einfach, die Frage des Augenblickes lautet: „Na, hast du dich schon für eine Seite entschieden?“ Anders scheinen solche Prozesse gar nicht mehr gesellschaftlich verwertbar zu sein: strikte Positionierung als Debattenkultur — ohne Ergebnisoffenheit, historische Betrachtung und kühlen Kopf. Mit Gefühligkeit wird hantiert, als sei sie ein Erkenntnisgewinn. Und jede Vorgeschichte, die die aktuellen Geschehnisse erklärbar machen könnte, wird außer Acht gelassen.
Gab es mal eine Zeit ohne Nahostkonflikt?
Es dürfte wohl kaum jemanden geben, der sich noch an eine Zeit ohne Nahostkonflikt erinnert. Die Geschichte des „Heiligen Landes“ ist eine Geschichte voller Konflikte — seit 1948 im Speziellen. Israel hat sich aus diesem Grunde zu einem Polizeistaat entwickelt. Unzählige Terrorakte, Geiselnahmen und politische Morde haben ein massives Sicherheitsbedürfnis entstehen lassen: An diesen Erfahrungen macht der israelische Staat sein Existenzrecht fest — das ist natürlich zunächst nachvollziehbar.
Im Zuge dieser nachvollziehbaren Problematik hat Israel aber allerlei moralische und menschliche Grenzüberschreitungen umgesetzt. Die israelische Gesellschaft schließt Araber in fast allen Lebensbereichen aus. Die Internierung der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen und hinter den Sperranlagen zum Westjordanland, verbunden mit einer rücksichtslosen Siedlungspolitik, lassen sich bis heute mit den Menschenrechten nicht in Einklang bringen. Die internationale Staatengemeinschaft kritisierte das regelmäßig, zuletzt noch lautstark im März 2023, hielt sich aber ansonsten zurück. Wer diesen Umstand in Boykottaufrufen münden ließ, man denke an Roger Waters, erlebte soziale Ausgrenzung — und nicht etwa Anerkennung für seinen Einsatz für die Menschenrechte.
Warum eigentlich? Denn vielleicht hätte ein Boykott die aktuelle Eskalation verhindern können. So aber entstand nun über Jahre ein tiefer Hass in Gaza und dem Westjordanland. Dort ist die Hälfte der Bevölkerung noch keine 20 Jahre als, das heißt: Diese Generation kennt nur die Wut, den Hass und die Verzweiflung. Dieser Umstand ist die direkte Vorgeschichte zu den Ereignissen der letzten Woche. Eine Vorgeschichte, die nicht thematisiert wird, weil sie mit Antisemitismusvorwürfen geahndet werden kann — und im Regelfall auch wird.
Und was wir gerade erleben, dürfte schon die nächste Vorgeschichte zu dem sein, was noch kommt. Wer wissen will, wie Gewaltspiralen funktionieren, sollte sich mit der Geschichte des Konflikts befassen. Gewalt gebiert Gewalt.
Sie hat an keiner Stelle dazu geführt, dass sich das Klima verbessert. Die Räumung des Gazastreifens, in vielen westlichen Medien euphemistisch als „Evakuierung“ bezeichnet, wird die Region nicht befrieden. Ganz im Gegenteil: Hier erlebt eine junge Generation ihr Trauma. Zur Ausgrenzung, die sie bereits kennt, gesellen sich nun Vertreibung und Zerstörung. Unsere Enkel werden wie wir irgendwann fragen müssen: Gab es mal eine Zeit ohne diesen Konflikt in Nahost?
Wer hat recht?
Seit geraumer Zeit tritt eine brutale Emotionalisierung an die Stelle, an der früher vielleicht noch so etwas wie Distanz vorzufinden war. Es sind moralisch aufgeladene Zeiten. Ohne die ethische Bewertung gelingt heute ganz offenbar Debatte nicht mehr. Wobei von einer Debatte im eigentlichen Sinne nicht mehr gesprochen werden kann. Die moralische Parteinahme für die Ukraine oder für Israel ist selten sachlich fundiert, sondern nährt sich aus dem Gefühl, hier aufseiten des Guten zu stehen — sich dort einzureihen ist keine politische Entscheidung, sondern dem eigenen Ego geschuldet. Es ist eine Frage der Imagepflege, könnte man sagen.
Der Psychologe Bernhard Hommel behauptet in seinem Buch „Gut gemeint ist nicht gerecht“, dass Meinung sich nicht aus Argumenten zusammensetzt. Im Grunde stimme das Gegenteil: Die Meinung ist schon da, liegt schon bereit. Und sie sucht nach Argumenten, die ihr dienlich sein könnten — oder man deutet sie so, dass sie ins eigene Meinungsbild passen.
Diese Form der Meinungsbildung greift heute vielleicht schneller als je zuvor. Die Dauerberieselung nachrichtlicher Dienste ist immens. Wer etwa den öffentlichen Nahverkehr nutzt, wird via Displays von Ströer mit Nachrichtenfetzen von t-online versorgt, und t-online gehört dem Konzern für Außenwerbung Ströer selbst. Einer der größten Kunden Ströers ist übrigens der Bund. Unabhängige Berichterstattung? Man entkommt der Propaganda also kaum.
Jedenfalls geht es heute nicht mehr, dass man keine Meinung hat. Jeder braucht eine, jeder muss ganz offensichtlich eine haben. Wer ohne Meinung bleiben will, macht sich verdächtig. Sagen Sie mal jemandem, dass Sie bezüglich des Ukrainekrieges keine Meinung haben. Man wird Sie schnell als den „entlarven“, der der Sache des Feindes dient.
Wie oben schon erwähnt: Kaum noch jemand kennt eine Zeit, in der es keinen Konflikt in Israel gab. Aber anders als heute hat man sich in den Jahren zuvor wesentlich weniger positioniert. Politische Gruppen und Parteien hatten auch schon früher den Drang, eine Haltung zu dem Konflikt einzunehmen. Aber doch nicht jeder beliebige Bürger! Heute hat aber fast jeder eine Meinung dazu. Damals war offenbar viel mehr Menschen bewusst, dass es nicht so einfach ist, sich eine Meinung — und damit einhergehend eine Positionierung — zu bilden. Es war für das eigene Leben auch gar nicht nötig. Dieses Thema ist nämlich religiös, historisch, soziologisch und nicht zuletzt auch ökonomisch derart komplex, dass am Ende gar keine einfache Einordnung stattfinden kann. Der Frage, wer in dem Konflikt nun recht hat oder nicht, kann man gar nicht so nebenher nachspüren — mal abgesehen davon, dass es darauf wohl keine Antwort gibt.
Noch ein Krieg, der gewonnen werden muss
Das ist ja das Dilemma dieses Konflikts — wie jedes Konflikts, man denke an die Ukraine: Es gibt keine einfachen Lösungen und Einordnungen. Dennoch wird genau das simuliert. Aktuell erleben wir das in puncto Israel. Statt umsichtiger Darlegung der Problematiken und Vorgeschichten präsentiert man den Rezipienten Weltpolitik in bekömmlichen Häppchen, die eine laxe Parteinahme ermöglichen.
Nach der Ukraine hat die deutsche Öffentlichkeit nun noch einen zweiten Krieg, den sie gewinnen muss. Darunter machen wir es in diesem Lande nicht mehr.
Alles, was global geschieht, und sei es noch so weit weg, wird von den deutschen Medien und der deutschen Politik ganz genau taxiert und zur Schicksalsfrage für die Zukunft erhoben. Scheinbar unterliegt alles der deutschen Staatsräson, überall mischen wir meinungsstark mit — ob wir gefragt werden oder nicht. Wir führen hier öffentliche Debatten über andere, ohne auch nur im mindesten zu wissen, was diese anderen zu ihren Maßnahmen bewog. Der deutsche Blick auf die Welt ist nicht mehr von Sachlichkeit geprägt, sondern von tiefer Moral.
Deutschland hat sich in den letzten Jahren zu einem Regime gemausert, das sich stark über moralische Haltung akzentuiert. Jeder Krieg, jeder Konflikt, jede verpasste Reform auf der anderen Seite der Welt nimmt dieses Land mittlerweile persönlich. Das macht natürlich was mit der Bevölkerung im eigenen Land: Sie kann sich Politik nur noch als erhobenen Finger vorstellen — und Deutschland als obersten Richter über zu wahrende Werte und einzuhaltende Sittlichkeit.
Wer so auf die Geschehnisse auf dieser Welt eingeht, ist zwangsläufig nicht offen für verschiedene Gedankengänge. Er geht mit einer Meinung daran, Argumente zur Selbstbestätigung zu suchen — und er findet sie dann auch. Das ist es, was in Deutschland seit geraumer Zeit geschieht. Debatten sind darauf ausgerichtet, vorgefertigte Meinungen zu manifestieren. Sich den Luxus zu leisten, mal keine Meinung zu haben, kennt man hierzulande nicht mehr. Man lässt nichts im Schwange, positioniert sich nirgends zwischen den Stühlen, lässt offen, wie man etwas sieht — und ist daher auch als Mediator, Vermittler und diplomatische Leitnation nicht zu gebrauchen. Dieses aktuelle Deutschland hat sich so in Emotionen verstrickt, und zwar seine Eliten wie weite Teile der Bevölkerung gleichermaßen: International ist es zu nichts mehr zu gebrauchen.