Desertieren statt marschieren
Angesichts der in Israel geplanten Justizreform verweigern Hunderte Reservisten ihren Dienst — die Befehls- und Dienstverweigerung hat in der Geschichte des israelischen Militärs eine lange Tradition.
Man stelle sich vor, es sei Krieg und niemand ginge hin. Das ist ein altbekannter Satz aus der Friedensbewegung. Derzeit lassen Hunderte israelische Reservisten ihre Uniform im Schrank und boykottieren ihren Dienst. Grund ist die weitreichende Justizreform Israels, die derzeit in Planung ist. Diese umfassende Dienstverweigerung hat mittlerweile staatssicherheitsgefährdende Dimensionen erreicht. Dabei ist es historisch nicht das erste Mal, dass im israelischen Militär und Geheimdienst eine nicht unerhebliche Anzahl der Soldaten, Bediensteten und Reservisten entschlossen Dienst und Befehl verweigern. Diese Haltung zeugt von einem außerordentlichen Mut, denn mit Desertierenden geht der Staat Israel selbst dann nicht zimperlich um, wenn es sich dabei um Teenager handelt.
„Die wirkungsvollste Maßnahme, die ich ergreifen kann, ist mitzuprotestieren, anstatt mich zu meiner Fliegerstaffel aufzumachen“, sagte ein Israeli Mitte März 2023. Er war einer von über 250 Reservisten der Luftwaffe, die ankündigten, bei Übungen nicht zu erscheinen. Tage zuvor hatten bereits 650 Reservisten aus Aufklärungs- und Geheimdiensteinheiten dem Verteidigungsminister und dem Oberbefehlshaber ihren Dienstboykott angesichts der geplanten Justizreform erklärt. Circa 50.000 Gleichgesinnte sollen außerdem in WhatsApp-Gruppen wie Brothers in Arms oder Sisters in Arms organisiert sein.
Experten sprechen von der ernstesten „Sicherheitskrise“ seit dem Yom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren.
Es ist nicht das erste Mal, dass Angehörige des israelischen Militärs ihren Unmut kundtun. Ein Blick zurück:
Nach dem Israel-Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat 1978 verfassten 348 israelische Reserveoffiziere eine Petition an Premierminister Menachem Begin. Sie wollten ihn damit ermutigen, ja, geradezu drängen, den Friedensprozess fortzuführen. Yuval Neria, ein Kommandeur, der die höchste Auszeichnung für Tapferkeit erhalten hatte, erläuterte die Hintergründe:
„Wir meinten, dass es dem Premierminister schwerfallen würde, einen Brief von Offizieren mit Kampferfahrung zu ignorieren, die ihren Wert im Feld bewiesen und einen Beitrag für die Gesellschaft geleistet hatten.“
Die Petition, die in Tageszeitungen veröffentlicht wurde, führte im März 1978 zur Gründung von Schalom Achschaw (hebr. Frieden Jetzt, engl. Peace Now), einer basisdemokratischen Friedensorganisation. Auf einer Kundgebung riefen die Demonstranten Begin auf, im Tausch mit der 1967 eroberten Sinai-Halbinsel Frieden mit Ägypten zu schließen. Genau ein Jahr später unterzeichneten er und Sadat einen Friedensvertrag.
Zweites Beispiel: Wieder in einem März, diesmal 2004, brachen Veteranen der israelischen IDF (engl. Kürzel für israelische Verteidigungsstreitkräfte) das Schweigen über ihren Dienst während der zweiten Intifada in der palästinensischen Stadt Hebron. Seitdem informieren sie die Öffentlichkeit mittels Ausstellungen, Vorträgen, Broschüren und Exkursionen „über die Realität und Wahrheit eines Alltags in den besetzten Gebieten“.
Die Organisation, hebräisch Shovrim Shtika — das Schweigen brechen — hat in den vergangenen 19 Jahren über 1.000 Zeugenaussagen von Soldaten „aller Schichten und fast aller Einheiten“ gesammelt und einen Großteil davon als Kurzvideo auf ihre Internetseite gestellt.
„Soldaten, die in den (besetzten) Gebieten ihren Dienst verrichten, werden Zeugen und sind Teil militärischer Aktionen, wodurch sie durch und durch verändert werden. Misshandlungen von Palästinensern, Plünderung und Zerstörung von Eigentum sind seit Jahr und Tag die Norm, auch wenn sie von offizieller Seite als ‚extrem’ oder ‚Einzelfall’ dargestellt werden. Unsere Zeugenaussagen dagegen malen ein anderes, viel düstereres Bild (...).“
Einer der Gründer der Schweigensbrecher, der aus den USA nach Israel eingewanderte Yehuda Shaul, versicherte schon vor Jahren: „Ich bin im größten Mythos aufgewachsen, der da heißt: Die IDF ist die moralischste Armee der Welt.“ Über seinen Einsatz von März 2001 bis März 2004, davon 14 Monate in Hebron, im 50. Bataillon der Nachal-Einheit bekennt er:
„Wenn du als Soldat einen Schritt in die besetzten Gebiete machst, dann ist es, als ob du deine Moral in den Reißwolf wirfst — nach einer Minute ist nichts mehr davon übrig.“
Shaul kritisiert außerdem, dass „18-jährigen Soldaten unglaubliche Macht gegeben“ werde.
Die Armee heißt auf Hebräisch Zava: Da klingen die himmlischen Heerscharen Zebaoth an. Die Abkürzung Zahal (Zava Hagana leIsrael) bedeutet Heer zur Verteidigung Israels. Dieses ging während des Unabhängigkeitskrieges 1948 aus den jüdischen Kampfgruppierungen Haganah, Palmach, Ezel und Lechi hervor. Die Armee gilt als die kampferfahrenste und schlagkräftigste des Nahen Ostens. Für die palästinensische Menschenrechtsorganisation PCHR aus Gaza-Stadt ist sie jedoch die IOF, die Israeli Occupation Forces, israelische Besatzungsstreitkräfte.
170.000 Männer und Frauen leisten Pflichtwehrdienst, Männer 32, Frauen 24 Monate. Befreit sind im Gegensatz zu Drusen arabische Muslime und Christen sowie ultraorthodoxe Juden, die sich dem Bibelstudium widmen. Während früher der vierwöchige Reservedienst, alternativ: ein Tag pro Woche, jährlich bis Mitte 50 zu leisten war, ist aktuell bei Männern nach dem 42. Lebensjahr und Frauen nach dem 24. Schluss; derzeit verfügt Israel über gut 450.000 Reservisten. Die Zava, angeblich Schmelztiegel sowie Integrationsbeschleuniger, dient oft als Sprungbrett in den Beruf, zumal des Politikers. Allein unter Israels Verteidigungsministern finden sich neun ehemalige Generalstabschefs.
Blinde Flecken der Armee wie verstärkte Neigung zu häuslicher Gewalt nach Dienst in den palästinensischen Gebieten, sexuelle Belästigung und Übergriffe sowie Suizid werden von den Medien des Landes weitgehend ausgeblendet.
Auf welche Weise Zehntausende vom Wehrdienst Abstand nehmen, zeigte ZDF-Korrespondent Christian Sievers im Film Goa statt Gaza. Ausflippen bei Musik, Sex und Drogen sei dort in Indien Alltag, manche benötigten jedoch einen Arzt.
Doch kommt der mitunter zu spät. 2020 starben in Israel 28 Soldaten – neun davon durch Suizid, womit dieser die Haupttodesursache unter israelischen Soldaten darstellt. Vor wenigen Tagen überschrieb Gidi Weitz in der linksliberalen israelischen Ha’aretz seinen Kommentar:
„Ehud Barak (früherer Verteidigungs- und Premierminister) hatte Recht, dass die Besatzung Israel von innen zersetzen würde.“
Zusätzlich zu Appellen, Petitionen und Aktionen von Reservisten- oder Veteranengruppen haben immer wieder Einzelne ein Zeichen gesetzt: durch Dienstverweigerung. Laut Amnesty International kommen „jedes Jahr mehrere israelische Teenager ins Gefängnis, weil sie aus Gewissensgründen den Dienst in der Armee verweigern“.
Im vergangenen Jahr „wurden Einat Gerlitz, Nave Shabtay Levin, Evyatar Moshe Rubin, Shahar Schwartz und andere wegen ihrer Militärdienstverweigerung wiederholt inhaftiert“. Die Haft dauert in der Regel einige Wochen, kann aber auch für fünf Monate oder länger verhängt werden.
Aktuell erbittet Amnesty Unterstützung für den 20-jährigen Yuval Dag, der erneut eine 20-tägige Haftstrafe im Militärgefängnis von Neve Tzedek verbüßt, nachdem er seiner Einberufung nicht gefolgt war und insgesamt dreimal den Militärdienst verweigert hat. Für Amnesty ist Yuval Dag „ein gewaltloser politischer Gefangener und die israelischen Behörden müssen ihn umgehend und bedingungslos freilassen“. Zu den samstäglichen, regierungskritischen Protesten seit Jahresbeginn sagt der junge, bärtige Mann:
„In letzter Zeit sagen viele Reservisten, dass sie nicht in der Armee dienen wollen, weil sie Angst vor einer Diktatur haben. Das ist großartig und wichtig. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es in den besetzten Gebieten noch nie eine Demokratie gegeben hat. Und die antidemokratische Institution, die dort herrscht, ist die Armee.“
Quellen und Anmerkungen: