Des Geldes Geltungsverlust

Das Geld verliert im 21. Jahrhundert sukzessive seinen Wert. Exklusivabdruck aus „Hunderttausend Milliarden zu viel“.

Neoliberalismus, Globalisierung, Finanzsystem, Finanzfeudalismus, alle diese Phänomene basieren auf der Finanzmacht, welche die Welt mehr dominiert als irgendeine politische Kraft. Doch wie kommt diese Übermacht zustande? Wie funktioniert der Finanzfeudalismus, was spielt sich ab im Zentrum der Finanzwelt? Wo kommt all das Geld überhaupt her, das so falsch verteilt ist? Exklusivabdruck aus „Hunderttausend Milliarden zu viel: Finanzfeudalismus aus rationaler Sicht“.

Die erste Voraussetzung, um zu verstehen und zu verändern, ist Aufklärung über die Menge, die Entstehung und Funktionsweise des Geldes im 21. Jahrhundert. Einiges ist ganz anders, als wir gedacht hätten, manches haben wir schon erahnt, und die Inflation ist jetzt offensichtlich.

Weil 99 Prozent aller Menschen das Finanzsystem nicht durchschauen, können diejenigen, die es verstehen, sehr viel Geld mit ihrem Geld verdienen, leichter als mit irgendeiner anderen wirtschaftlichen Tätigkeit.

Um aber Geld, ohne Risiko und ohne besonderes Glück, mit Geld zu verdienen, ist ein Startgeld von etwa 100 Millionen Dollar oder Euro erforderlich. Wer so ein Startgeld nicht hat, kann nicht am großen Rad drehen. Und das ist der Grund für die Umverteilung von unten nach oben. Die Geldmenge sorgt dafür, dass die großen Vermögen schneller wachsen als jeder andere Besitz.

Durch die steigende Geldmenge wird die Gesellschaft auseinandergezogen: ganz oben die Großgeldbesitzer, dann die Banken, die Geld generieren, und Regierungen, die beliebig viele Schulden machen, ganz unten die Normalverdiener und die richtig armen Menschen. Die Umverteilung steckt im System und funktioniert ungebrochen.

Wir benötigen eine übersichtliche Theorie, wie sie hier skizziert wird. Sie ist etwas abstrakt, doch nicht kompliziert. Die fünf Tatsachen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, werden später ausführlich diskutiert, hier erst einmal ein Überblick:

1. Geld ist nur eine Zahl,
die ihren Wert dadurch erhält, dass wir ihren Wert anerkennen. Ohne unsere Akzeptanz ist Geld schon seit 1971 nichts mehr wert.

2. Das meiste Geld, das auf der Welt kursiert, wird von staatlichen und privaten Banken ständig aus dem Nichts erschaffen,
indem Banken Kredite vergeben über Geld, das sie gar nicht besitzen. Den Wert dieses Geldes garantieren nicht die Banken, sondern diejenigen, die Schulden aufnehmen. An erster Stelle geschieht das bei Staatsschulden.

3. Durch diesen Vorgang der Geldschöpfung ist die Geldmenge bis ins Unermessliche angestiegen,
sie ist wenigstens viermal so groß wie alle Güter, die man dafür kaufen kann. Die mit der Geldschöpfung verbundenen Schulden sind durch Zinsen so weit angestiegen, dass es schon lange nicht mehr möglich ist, alle Schulden zu begleichen.

4. Geld ist im 21. Jahrhundert in der Regel eine Zahl auf einem digitalen Speicherplatz
und kann mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus transferiert werden. An diesen Geldbewegungen ist eine unüberschaubare Zahl von Akteuren beteiligt, die niemand wirklich kontrolliert.

5. Milliarden sind Zahlen, die der menschliche Verstand nicht zählen oder erfassen kann.
In unserer Vorstellung kommt die Milliarde kurz nach der Million, aber dazwischen ist ein Faktor von tausend! Dieser 5. Punkt erklärt, wie leichtfertig Finanzleute, Politikerinnen und Politiker und auch Medien mit Milliarden umgehen.

Weil Geld eine Zahl ist, muss jede Bilanz und jede Bewegung von Geld die rechnerischen Regeln von Zahlen ganz genau befolgen. Diese Gesetze gelten für jeden Geldbetrag im Portemonnaie, auf der Bank, auf dem Handy, und sie gelten ebenso für alle Transaktionen von Börsenhändlern in New York bis zu den Computern in Delaware, Singapur oder Frankfurt.

Zusätzlich zu den eindeutigen Rechenregeln gibt es viele Regeln im Finanzsystem, die von Menschen gemacht sind und nicht unbedingt gelten müssen. Zum Beispiel die Regel, dass Geld mit Zinsen verbunden ist.

Daraus resultiert die Vorstellung, dass Geld sich automatisch vermehrt, und dann das Postulat, dass der Einsatz von Geld immer prozentualen Gewinn bringen muss, auch in der Wirtschaft. Das gipfelt in dem Spruch: Zeit ist Geld.

Das alles sind keine Gesetze, die wie Mathematik den Rang von Naturgesetzen haben, es sind willkürlich von Menschen aufgestellte Forderungen.

Das Finanzsystem ist verwirrend

Es ist ein Konstrukt aus Zahlen, einfachen mathematischen Regeln, Guthaben, Schulden, Gewohnheiten, besonderen Privilegien und großen Unterschieden zwischen denen, die kein Geld haben, denen, die Geld verdienen, denen, die Geld schon immer besaßen, und denen, die über sehr viel Geld, das heißt heute über Milliarden, verfügen.

Die Finanzwelt wird beherrscht von den Akteuren, welche die größten Zahlen kontrollieren, bewegen, verschieben, verwalten, disponieren oder die das Geld von Staaten im großen Stil ausgeben.

Die Geldbeträge, um die es hier geht, werden in Milliarden gezählt. Wollten wir bis zu einer Milliarde auch nur leise vor uns hin zählen, tagaus tagein, 24 Stunden am Tag, dann bräuchten wir dazu zwei Menschenleben.

Man kann die Milliarde als Wort zwar nennen oder als Ziffer schreiben, aber man kann sie sich als Anzahl von realen Dingen im Kopf nicht vorstellen. Eine Baguette kostet vielleicht einen Euro. Eine Milliarde Baguettes ist unvorstellbar, ähnlich wie 555.555.555 Flaschen vom billigsten Vino Tinto.

Ein Prosit auf alle gewählten Regierungen in Madrid, Rom, Paris, London und Berlin!

Bundeskanzler Olaf Scholz kann zwar Zahlen wie 100 Milliarden mit sanfter Stimme dahinsagen, aber eine Vorstellung davon, was solche Zahlen als Menge von realen Dingen bedeuten, braucht er nicht zu haben. Er weiß nur, schon als ehemaliger Finanzminister, wie und wo er dieses Geld als Vertreter der deutschen Regierung ganz locker als Staatskredit bekommen kann.

Zurückzahlen muss Herr Scholz keinen einzigen Cent, das müssen seine Nachfolgerinnen und Nachfolger im Amt später klären, und am Ende zahlen deutsche SteuerzahlerInnen sowie deren Kinder und Enkelkinder. Auch wenn Herr Scholz bis an sein Lebensende in Berlin regierte, würde er seine Schulden für Covid-Maßnahmen, Rüstung und Doppel-Wumms nicht begleichen.

Wer aber das Finanzsystem noch nicht kennt, stellt sich die Frage: Wo kommen diese Milliarden her? Die Frage ist viel einfacher zu beantworten, als man denkt: Private und staatliche Banken können Geld aus dem Nichts erschaffen. Kaum zu glauben, aber wahr. Sie machen eine Gutschrift über die Kreditsumme und verbuchen die Schuld als positiven Posten. Damit sind die Konten der Banken ausgeglichen, aber sie haben Buchgeld in die Welt gesetzt, das vorher nicht vorhanden war, und es ist von anderem Geld auf anderen Konten nicht zu unterscheiden. Das neu gebuchte, aus dem Nichts erschaffene Geld fließt mit jeder Überweisung oder Auszahlung in den freien Geldverkehr.

Das ist die erste Absurdität des Finanzsystems; sie besteht darin, dass auf der einen Seite Tausende Banken das Privileg haben, Geld zu erschaffen, und auf der anderen Seite sind Milliarden Menschen, die für Geld arbeiten müssen oder Dienste leisten oder etwas aus ihrem Besitz veräußern. Die einen schöpfen Geld aus dem Nichts, die anderen machen sich krumm dafür, oder sie geben etwas von dem weg, was sie besessen haben.

Eine zweite Absurdität im Finanzsystem ist folgende: Durch Schuldenaufnahme und die Gutschriften an Buchgeld von Tausenden Banken, also durch Kredite die nicht zurückgezahlt sind, hat sich die globale Geldmenge unkontrolliert immer weiter und immer schneller vermehrt.

Sie beträgt jetzt das Vierfache aller materiellen Güter, die man dafür kaufen kann — Aktien, Wertpapiere und Derivate gehören nicht zu den materiellen Gütern. Das überschüssige Geld kursiert nur in der Finanzwelt, oder es liegt auf digital verfügbaren Konten griffbereit, häufig versteckt in Finanzoasen.

Aus mathematischer Sicht ist alles einfach, es ist nur ein wenig abstrakt. Geld ist seit 1971, durch die Loslösung der Leitwährung Dollar vom Gold, nur noch eine abstrakte Zahl, die ihren Wert deshalb besitzt, weil wir alle diesen Wert anerkennen.

Die feudalen Spielregeln der Finanzwelt müssen wir aber nicht akzeptieren. Wir könnten andere Regeln einführen, die das Finanzsystem kontrollieren und ihm seine ungerechtfertigte, feudale Macht nehmen. Das ist auch möglich, ohne die Welt auf den Kopf zu stellen.


Rob Kenius „Einhunderttausend Milliarden zuviel