Der Zweck der Demokratie
Um für unsere Grundrechte einstehen zu können, müssen wir aufhören, sie als etwas Abstraktes zu betrachten.
Die Menschenwürde ist kein fernes Ideal, sie bindet die Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht. Gegenwärtig nehmen viele Bürger ihr Grundrecht in Anspruch, ihre Meinung gemeinsam mit anderen in der Öffentlichkeit zu äußern. Zum Beispiel durch Demonstrationen. Dabei werden sie jedoch von der Exekutive oft auf verschiedenen Ebenen eingeschränkt. Sein Recht ausüben zu können, gleicht oft einer Lotterie. Manchmal setzt es die Judikative durch, manchmal verhindert sie es aber auch. Die Bürger kritisieren die Einschränkungen ihrer Grundrechte und berufen sich dabei auf die Verfassung, in welcher diese beschrieben sind. Die Menschenwürde besitzt aber noch andere, soziale Aspekte — etwa das Recht auf ausreichende Ernährung, auch für Kinder. In allen diesen Fragen muss der Mensch als Zweck, nicht als Mittel des demokratischen Prozesses behandelt werden.
Grundrechte als Geschenk?
Bei diesen öffentlichen Meinungsäußerungen fordern sie den Staat auf, die Grundrechte der Bürger zu achten und verhalten sich so als Bittsteller gegenüber der Obrigkeit. Damit verfallen sie aber einem Denken, das es eigentlich zu überwinden gilt, nämlich dem Denken in den Kategorien von Herrschaft und Volk. In der blutig niedergeschlagenen deutschen Novemberrevolution von 1918 wurde versucht, diese Verhältnisse zu überwinden. Deutschland wurde von einer Monarchie zur Republik, aber nicht zu einer sozialistischen.
In einer Republik ist der Staatsbürger der Souverän und alle Staatsgewalt geht von ihm aus. Das ist die schöne Theorie. Wie sieht die Praxis aus? Wenn man vom Staat spricht, ist es hilfreich, eine Definition des Begriffs Staat zu erstellen. Eine mögliche Definition könnte sein: Der Staat ist ein Machtapparat, dessen Organe und Strukturen die Aufgabe erfüllen, die Interessen einer vermögenden Minderheit — der Eigentümer der Produktionsmittel — gegen die berechtigten Ansprüche der alle Werte schaffenden Mehrheit zu verteidigen.
Mit dieser Definition ist es eben die Aufgabe des Staates, die Eigentumsverhältnisse zu gewährleisten. Der Staat sichert einem Teil seiner Bürger mit Gewalt das Recht auf Eigentum an den Produktionsmitteln und gewährleistet die Erzeugung von Mehrwert durch denjenigen Teil der Bürger, der von diesen Produktionsmitteln enteignet ist. Anders gesagt garantiert der so definierte Staat in einem kapitalistischen System die diesem System inhärente strukturelle Gewalt.
Historisch betrachtet sind die Grundrechte blutig erkämpfte Schutzmechanismen vor dem unbegrenzten Zugriff des Staates.
Dass sie vom Staat ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden können, zeigt die Geschichte. Dass sie gegen den Staat immer erkämpft werden müssen, ist die Aufgabe. Dass der Staat als gesellschaftliche Erscheinungsform überwunden werden muss, ist die logische Konsequenz.
Wenn also Bürger heute auf die Straße gehen, um für ihre Rechte zu kämpfen, kann es nicht nur um die Leerformeln von Gesetzesbuchstaben gehen, die materiell nichts bedeuten. Grundrechte sind entweder materiell einlösbar, oder sie sind wertlos. Es geht also vielmehr darum, erstmal diejenigen Rechte zu erkämpfen, die es in unserem Land noch gar nicht gibt. Dazu gehören das Recht auf eine gute Arbeit und das Recht auf eine gute Ausbildung für alle. Dazu gehört auch das Recht auf eine Wohnung. Zu wenig, wenn überhaupt, kommen diese Gedanken bei denen vor, die aktuell für die Freiheit aufstehen und sich auf die Straße begeben.
Freiheit zu was?
Und was mag das überhaupt sein, die Freiheit? Ist sie für jeden dasselbe? Ist sie ein Produkt, das man sich im großen Warenangebot kaufen kann, wenn man das Geld dafür hat? Ist sie die Möglichkeit, seine Arbeitskraft verkaufen zu können, wenn man das Glück hat, dass sie nachgefragt wird? Oder ist sie die Möglichkeitsform der eigenen Persönlichkeit, wer man sein könnte? Also Freiheit zur Entwicklung? Zur freiheitlichen Entwicklung gehört aber auch der Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Möglichkeiten der Menschen einschränken. Welche Entwicklungsmöglichkeiten hat ein armes Kind?
Immer mehr Kinder in Deutschland sind arm, weil die deutsche Regierung, das deutsche Parlament und die deutsche Justiz das so wollen. Tatsächlich sind die politischen Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte die Ursache für die Verarmung von immer mehr Menschen in diesem Land, beispielsweise die Hartz-Gesetze. Ein Skandal? Nicht für die öffentlich-rechtlichen Medien. Auch nicht für die sogenannten Qualitätszeitungen. Und ist es überhaupt ein Skandal, oder ist es nicht einfach nur die logische Konsequenz einer kapitalistisch eingerichteten Gesellschaft? Für alle reicht es nicht. Mit diesen Worten brachte es der Dichter Heiner Müller Mitte der 1990er Jahre auf den Punkt.
Wer es also ernst meint mit der Freiheit, der muss zuerst und mit aller Kraft die Verhältnisse bekämpfen, in denen immer mehr Kinder arm sind, während der Reichtum der Wenigen ins Obszöne wächst.
Freiheit ist also der persönliche Kampf für die Möglichkeit anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist (Marx, Engels).
Unantastbare Würde?
Der Mensch hat eine Würde. So wird es gesetzt in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes. Aber was mag das sein? Der Mensch hat einen Magen. Der kann voll sein oder leer. Der Mensch hat auch einen Kopf. Bei dem ist es genauso. Aber eine Würde? Wo ist die beim Menschen zu finden? Das ist nicht leicht, denn man kann sie nicht fassen, sie ist unantastbar, heißt es. Es ist also schwer zu begreifen, was dieses eigenartige Ding namens Würde nun sein soll. Wenn einer arm ist und gar nichts hat, kein Geld, keine Arbeit, noch nicht einmal eine Wohnung, hat er dann dennoch — Würde?
Oder besteht die Würde eines Menschen nicht doch darin, dass er genug zu essen und ein Dach über dem Kopf hat? Wie kann man davon reden, dass die Würde eines Menschen unantastbar sei, wenn doch immer mehr Kinder in Armut leben müssen? Ist etwa die wirkliche Bedeutung von Würde, nicht genug zu essen zu haben, sich nicht bilden zu können, keinen Urlaub in anderen Ländern zu kennen?
Bei den gegenwärtigen Demonstrationen werden die Forderungen schmerzlich vermisst, die sich aus dem oben Gesagten ableiten. Welche sind das? Die erste Forderung muss lauten, dass kein Kind arm sein darf. Armut macht krank. Wer von Gesundheit redet, der muss die Armut bekämpfen. Wenn die Bewegung für die Grundrechte eine solche Forderung nicht aufgreift, dann läuft sie ins Leere und wird von der herrschenden Klasse erfolgreich bekämpft werden können. Erst wenn die materiellen Forderungen nach einem guten — würdevollen — Leben für alle aufgegriffen werden, werden auch die Menschen sich der Bewegung anschließen, die vom guten Leben ausgeschlossen sind.
Der Mensch als Ware?
Das Grundproblem unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist die Reduktion des Menschen auf seine Funktion in einer durch die Gesetze des Marktes regulierten Wirtschaft. Als Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft treten sich die Menschen in einem entfremdeten Verhältnis gegenüber. Freiheit ist die Aufhebung dieser Entfremdung, indem der Mensch als gesellschaftliches Wesen sich frei entwickeln und entfalten kann.
Der Kampf für die Freiheit ist deshalb der Kampf gegen alle Verhältnisse, die den Menschen zum Mittel zum Zweck erniedrigen.
In dem Vorhaben, die menschenfeindliche Gesellschaftsform des Kapitalismus auf der ganzen Welt zu verbreiten, wurden über die letzten fünf Jahrhunderte Abermillionen Menschen von den christlichen Nationen des Westens ermordet. Der deutsche Faschismus unterscheidet sich historisch betrachtet darin, dass er in Europa das tat, was andere in Amerika, Afrika und Asien immer schon getan hatten. Er unterscheidet sich auch darin, dass er gescheitert ist, zumindest vorläufig.
Denn wieder wird zum Krieg gerüstet, wieder gegen Russland, das zweimal in seiner Geschichte vom deutschen Imperialismus heimgesucht wurde. Wo ist bei den Demonstrationen die Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der NATO? Versteht man nicht, dass Deutschland Teil eines von den Vereinigten Staaten von Amerika beherrschten imperialen Systems ist, das die Welt mit Kriegen überzieht und überall Leid und Elend verursacht? Noch ist diese Forderung nicht aufgegriffen worden. Es wird höchste Zeit!
Konsequenzen
Das Grundgesetz darf nicht als verdinglichte Wahrheit verstanden werden, die für alle Zeiten in der jetzigen Form gültig bleibt. Vielmehr ist eine Verfassung ein lebendiger Prozess, in welchem eine Gesellschaft sich die Regeln ihres Zusammenlebens selbst erarbeitet. Noch vieles fehlt da im Gesetzestext. Zum Beispiel folgendes: Das Eigentum an den Produktionsmitteln gehört denjenigen, die die Werte schaffen. Oder: Entscheidungen über wirtschaftliche Prozesse werden von denjenigen getroffen, die davon am meisten betroffen sind. Und: Entscheidungen über das Geldwesen sind von der Gesellschaft insgesamt zu treffen und dürfen nicht an antidemokratische Einrichtungen wie die Europäische Zentralbank übertragen werden.
Wir sind noch weit weg von solchen wirklich demokratischen Verhältnissen. Aber die Zukunft ist offen und es liegt an uns allen, sie im oben dargestellten Sinn zu gestalten.