Der Wiederholungszwang
In der Weltgeschichte wie in der individuellen Entwicklung vermeiden wir Leid nur, wenn wir aus Fehlern lernen.
Warum überhaupt weit in die Vergangenheit gehen und längst vergangene Epochen erforschen? Die Antwort auf diese Frage ist: aus demselben Grund, aus dem wir auch in der Psychoanalyse weit in die Kindheit zurückgehen: Wenn wir die Ursachen von Fehlentwicklungen erkennen, tappen wir nicht mehr so leicht in dieselben Fallen. Die Auseinandersetzung mit diesen „dunklen Punkten“ erfordert jedoch Mut und ist mit oft mit schmerzhafter Selbsterkenntnis verbunden. Gerade deshalb wehren Menschen die Überbringer schlechter Nachrichten geradezu verzweifelt ab. Das ist fatal, wenn uns etwa Whistleblower und Umweltaktivisten auf unsere Verstrickung in kollektive Schuld aufmerksam machen. Weil — und wenn! — wir das nicht wahrhaben wollen, sind wir gezwungen, unsere Fehler immer zu wiederholen. Frieden im Inneren wie im Außen setzt einen aktiven Bewusstwerdungsprozess voraus.
„Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung des Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hassens und Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?“ Mit dieser Frage wandte sich Albert Einstein im Jahre 1932 an Sigmund Freud (1).
Historiker untersuchen die Geschehnisse gewisser Epochen oder Regionen und gewinnen so ein Verständnis für den Lauf der Dinge. Wie ein Puzzle formt sich aus verschiedensten Erkenntnissen, Hinweisen und Spuren ein größeres Bild. Der Dienst an der Gegenwart liegt dabei darin, die Möglichkeit zu bekommen, die Dynamiken und Zusammenhänge vergangener Situationen bewusst werden zu lassen.
Mit einem bewussten Geschichtsverständnis können wiederkehrende Muster erkennbar werden und machen es möglich zu entscheiden, ob die Wiederholung alter, schon da gewesener Abläufe für die heutigen Situationen sinnvoll ist oder nicht. Ich finde, das ist ein äußerst wertvoller Dienst, da das Erforschen und Bewusstwerden der Vergangenheit so dem Erblühen der Gegenwart und der Zukunft dienen kann.
Nun scheint dieser wertvolle Dienst jedoch nicht genutzt zu werden, denn bei Betrachtung aktueller kriegerischer und wirtschaftlicher Konflikte zeigt sich, dass sich zerstörerische und gewaltvolle „historische Muster“ wiederholen, und wir uns offenbar nicht dazu entscheiden, andere Wege zu gehen. Mehr noch, die Analyse und Benennung von Kriegs- und Wirtschaftsverbrechen stößt auf Widerstand: Historiker wie Dr. Daniele Ganser und Autoren und Whistleblower wie zum Beispiel Matthias Bröckers, Julian Assange, Edward Snowden, Chelsea Manning, Ken Jebsen und andere belegen und kritisieren das sich wiederholende, leiderzeugende Muster westlicher Angriffskriege und treffen dabei auf Widerstand und Ablehnung. Warum?
Das Auflösen destruktiver, leiderzeugender und wiederkehrender Verhaltensweisen erfordert Mut und die Bereitschaft sich diese ins Bewusstsein zu rufen. Dieser Weg führt unvermeidlich zu verdrängten Gefühlen wie Trauer, Wut, Ohnmacht, Verlassenheit und Verzweiflung.
Bleiben diese Gefühle jedoch unbewusst und werden verdrängt, werden sie von Generation zu Generation weitergegeben. Sie können sogar strategisch eingesetzt werden, zum Beispiel um einen Krieg anzuzetteln, wie der Fall der sogenannten „Brutkastenlüge“ zeigt. Hier führten individuelle, auf der kollektiven Ebene verdrängte Gefühle zu einer Gewaltspirale.
„Als Brutkastenlüge wird die über längere Zeit als Tatsache verbreitete Lüge bezeichnet, dass irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits im August 1990, dem Beginn des Zweiten Golfkriegs, kuwaitische Frühgeborene getötet hätten, indem sie diese aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden hätten sterben lassen. Diese Behauptung wurde 1990 von Nayirah as-Sabah (auch Naijirah) im Kongress der Vereinigten Staaten kolportiert. Sie hatte Einfluss auf die öffentliche Debatte über die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens zugunsten Kuwaits und wurde unter anderem vom damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush und von Menschenrechtsorganisationen vielfach zitiert. Erst nach der US-geführten militärischen Intervention zur Befreiung Kuwaits stellte sich die Geschichte als Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton heraus. Diese war von der im Exil befindlichen kuwaitischen Regierung bezahlt worden, um eine Rückeroberung Kuwaits mittels Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen“ (2).
Mit dieser Inszenierung wurde, wahrscheinlich absichtlich, das in Menschen angelegte Ohnmachtsgefühl genutzt, die frühe Trennung und Verlassenheit erlebt haben. Das geschah, um Machtausübung in Form von Gewalt zu ermöglichen. Die Vorstellung, dass Säuglinge so grauenhaft behandelt wurden, rührt auch an die ganz eigene und persönliche Ohnmacht jedes Einzelnen.Denn das Alleingelassensein im Brutkasten lässt im frisch geborenen Säugling eine existentielle Not entstehen. Die Trennung von Mutter und Säugling in den ersten Lebensmomenten ist in den meisten westlichen Kulturen sehr häufig. Es ist also davon auszugehen, dass der Großteil der in dem Fall amerikanischen Bevölkerung ein abgespaltenes Ohnmachtsgefühl in sich trägt. Und dieses wurde in diesem historischen Fall in Schwingung versetzt.
Der alleingelassene Säugling empfindet neben der Ohnmacht auch oftmals eine Art von Hass auf diejenigen, die das zu verantworten haben. Dieser teils mörderische Hass wird demnach früh angelegt und auch abgespalten, da der Säugling ihn nicht zeigen und ausleben kann. Die Aufdeckung dieser effektiven Inszenierung war natürlich auch mit dem oben bereits beschriebenen Widerstand verbunden und ist bis heute den wenigsten Menschen bekannt. Natürlich wäre das brutale Ermorden von Säuglingen auch ohne persönlich angerührten Schmerz eine sehr grausame und unglaublich schreckliche Tat.
Parallelen zur eigenen Geschichte
Ich beobachte diesen Prozess seit einigen Jahren und erkenne dabei Vorgänge wieder, die ich in mir entdeckt habe, als ich mich auf den Weg machte meine eigene Geschichte zu verstehen. Und Vorgänge aus meiner Arbeit mit Menschen, die sich auf den Weg machen ihre eigene Lebensgeschichte zu erforschen.
„Wenn die Geburt traumatisch war, dann können spätere Trennungen im Spiegel der Urerfahrung erlebt werden, etwa als Verlust, Fall ins Bodenlose, Ausweglosigkeit, Vernichtung, Panik und so weiter. Es ist dann für die Psychotherapie wichtig, diese Zusammenhänge aufzugreifen und durchzuarbeiten, wodurch im guten Falle eine Integration der frühen traumatischen Erfahrungen möglich ist und die Handlungs- und Beziehungsfähigkeit erheblich erweitert werden kann“ (3).
Es begann für mich damit, dass ich durch die Ablehnung einer Frau, in die ich verliebt war, tiefe Traurigkeit und Verlassenheitsängste erlebte, und ich diesen Gefühlen ganz und gar auf den Grund gehen wollte. Also ließ ich mich von einer in Gefühls- und Körperarbeit ausgebildeten Begleiterin dabei unterstützen und besuchte eine Selbsterfahrungsgruppe.
Gleich in meinem ersten Prozess wurde ich dadurch zum Historiker und konnte erleben, dass mein angerührter Schmerz im Getrennt-Sein von meiner Mutter kurz nach meiner Geburt begraben lag. Als Frühchen in der DDR zur Welt gekommen war es die Norm, im Wärmebett mit anderen „einsamen“ Kindern getrennt von der Mutter zu sein. Durch den erlebten Prozess und durch die Möglichkeit nach dem Ausdruck des Schmerzes eine nährende Erfahrung zu machen, wurde mir ein Stück meiner Geschichte bewusst. Durch den von mir im Nachhinein angeforderten Geburtsbericht konnte ich mein Erleben mit den Aufzeichnungen von früher abgleichen und fand mich bestätigt.
Ich lag sieben Tage überwiegend allein in einem separaten Raum, getrennt von meinen Eltern. Ich hatte ein wichtiges Puzzleteil gefunden und begann eine jahrelange Reise in meine Geschichte. Und nach erfolgreicher Ausbildung die Begleitung verschiedener Menschen bei ihrer Selbsterforschung. Durch die Einblicke in ganz verschiedene Schicksale und Geschichten konnte ich wiederkehrende Muster erkennen und ermöglichte auch anderen Menschen Historiker für die eigene Geschichte zu sein. Dabei hat mich immer wieder berührt, wie beeindruckt Menschen sind, wenn sie verdrängte Erfahrungen wiederentdecken, durchleben und dann nährende Erfahrungen machen können.
Plötzlich wird ihnen klar, dass es einen starken Zusammenhang zwischen primären Erlebnissen und ihren wiederkehrenden leidschaffenden Alltagssituationen in Beziehungen gibt. Genau hier sehe ich den Schatz und die Parallele zu meinen Erläuterungen um den Wert der Geschichte zu verstehen. Diesen Menschen war es möglich ihre aktuelle Situation und ihre Mitverantwortung für diese zu begreifen, in dem sie bereit waren sich voll und ganz ihrer Geschichte zu nähern.
Kollektiver und individueller Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit Geschichte
Nun scheint das, was ich oben bereits mit dem kollektiven Widerstand gegenüber der Erforschung und Anerkennung Leid erzeugender historischer Muster ansprach, auch persönlich zu gelten: Nämlich, dass die Erforschung der persönlichen Geschichte mit Widerstand verbunden ist, und nur wenige die Möglichkeit zulassen, dass sie prägende Erfahrungen gemacht haben, die ihnen aufgrund ihrer Intensität nicht zugänglich sind.
Sehr deutlich scheint mir da die Parallele zum Historiker, der die Möglichkeit aufdeckt, dass zum Beispiel auch westliche Demokratien an illegalen und menschenrechtsverletzenden Angriffskriegen beteiligt sind.
Und dass diese Erkenntnis auf Grund ihres Potenzials viele schmerzhafte Gefühle anzurühren, lieber verdrängt wird. Die Tendenz die Wahrheit zu verdrängen liegt beiden Beispielen zugrunde und gibt einen Hinweis darauf, wie viel Wahrheit dort verborgen liegen kann.
Im Persönlichen kann das so ablaufen, dass wir uns einreden, unsere Kindheit sei doch gut gewesen und alles muss in Ordnung gewesen sein. Weitere Vermeidungsstrategien können so angelegt sein, dass wir gewisse Gefühlsregungen umgehen, indem wir zum Beispiel intime und verbindliche Partnerschaften vermeiden, vermeintlicher sozialer und partnerschaftlicher Freiheit frönen oder aufkommende Gefühle wie Leere, Ohnmacht oder Einsamkeit mithilfe von Konsum, Drogen, vermeintlicher Zugehörigkeit, beruflichem Übereifer und vielem mehr beschwichtigen. Im Politischen kann es so ablaufen, dass wir uns einreden, nicht mitverantwortlich für das kollektive Handeln zu sein, und uns erst gar nicht in andere Bevölkerungsgruppen einfühlen beziehungsweise ihnen auf einer kollektiven Ebene ein ähnliches Leid antun, wie uns selbst angetan wurde.
Betrachten wir zum Beispiel die lang vertretene Meinung, dass Babys nicht fühlen und es deshalb vertretbar ist, ihnen Schmerzen verschiedenster Art zuzufügen. In einem Artikel in der Welt von 2015 fasst die Autorin Lajos Schöne es wie folgt zusammen (4):
„Bis in die 70er-Jahre glaubte man, Babys könnten keine Schmerzen empfinden. Bis dahin erfolgten viele Eingriffe ohne Narkose — ein furchtbarer Irrtum der Medizin. Heute weiß man es besser.
Es ist noch gar nicht lange her, da waren viele Ärzte der Überzeugung, ein Baby könne kaum Schmerzen empfinden, sondern lediglich mit unbewussten Reflexen reagieren. Jahrtausendelang wurden deshalb in den islamischen Ländern und den jüdischen Gemeinden alle Knaben ohne Betäubung beschnitten. Auch älteren Kindern wurde die Betäubung, die Erwachsenen selbstverständlich zustand, lange verwehrt: Mandeln oder Polypen schnitt man ohne Narkose heraus — allein die Vorstellung ist grausam. Noch bis in die 70er-Jahre lautete die gängige Lehrmeinung, kleine Kinder könnten wegen ihrer noch unreifen Nerven gar keine Schmerzen empfinden oder sie würden sich an Schmerzen zumindest nicht erinnern.
Ein furchtbarer Irrtum, wie man heute weiß. Denn tatsächlich reagieren schon Ungeborene auf Schmerzreize. Von der 20. bis 22. Woche der Schwangerschaft an kann das Gehirn des Kindes im Mutterleib Reize in den verschiedenen Bereichen des Schmerzsystems wahrnehmen und weiterleiten. Die Reaktionen reichen von einfachen Wegziehreflexen über Greif- und Schluckreflexe bis zur Beschleunigung des Herzschlags.“
Dazu wird weitergehend der Anästhesist Justus Benrath zitiert:
„Die neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre lassen keinen Zweifel daran, dass das nozizeptive System bereits bei Früh- und Neugeborenen nahezu vollständig entwickelt ist.“
Auch die Ratschläge einer Johanna Haarer, die in der NS-Zeit das berühmte Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ publizierte, das sich bis in die 80er Jahre über 30 Millionen Mal verkaufte, zeigen auf, wie noch vor wenigen Jahrzehnten Familien dazu aufgefordert wurden ihr Kind zu vernachlässigen und Gefühlen der Einsamkeit, Ohnmacht und Verzweiflung auszusetzen, damit sie folgsam werden. Die Krux dabei ist, dass die Menschen, die ihre eigene Geschichte nicht erforscht haben, keinen Zugang zu den Gefühlen haben, die ein kleines Kind fühlt, wenn es allein gelassen nach Kontakt schreit und dann verzweifelt resigniert und aufgibt. Es scheint nur dann möglich anderen ähnliche Gewalt anzutun, wenn der eigene Schmerz noch abgespalten und damit ungefühlt ist.
Durchbrechen der Gewaltspirale
Willi Maurer — Schweizer Autor und Prozessbegleiter — arbeitet seit über 40 Jahren mit Menschen und unterstützt sie bei der Erforschung ihrer eigenen Geschichte. Bezüglich des Zusammenhangs wiederkehrender Gewalt in der Gesellschaft zieht er folgenden Schluss:
„Die Spirale der Gewalt zeigt, dass wir andern Menschen das antun, was uns selbst widerfahren ist. Doch ohne Selbsterforschung bleiben wir blind gegenüber der tief in uns verdrängt liegenden Wahrheit“ (5).
Die Auswirkungen einer ungesunden Umgebung wurden auch vom Zellbiologen Dr. Bruce Lipton erforscht und auf zellulärer Ebene fand er folgende Wechselwirkung zwischen Zelle und Umgebung:
„Meine Erkenntnis, dass unsere tiefen Überzeugungen biologische Prozesse steuern können,
beruhen auf meinen Studien mit geklonten Endothelialzellen (Zellen aus der Innenwand der
Blutgefäße). Die Endothelialzellen meiner Kulturen beobachten ihre Umwelt genau und verändern ihr Verhalten je nach den ihnen zur Verfügung stehenden Informationen. Wenn ich ihnen Nährstoffe gab, bewegten sie sich auf diese Nährstoffe mit offenen Armen zu. Wenn ich ihre Umgebung vergiftete, zogen sich die Zellen von diesem Reiz zurück und versuchten, sich vor diesen schrecklichen Stoffen zu schützen“ (6).
Jene Menschen, die in professioneller Begleitung diese Gefühle wiedererleben, wissen um die Bedeutsamkeit und den starken Einfluss dieser Erfahrungen auf ihr Leben. Sie haben aus ihrer Geschichte gelernt und sind dafür sensibilisiert, die eigenen Kinder anders zu behandeln. Genau wie die oben benannten Zellen reagiert der Zellverbund Mensch also von Anfang an auf die ihn umgebende Umwelt. Bei dieser Aussage besteht die Möglichkeit als Eltern zum Beispiel Schuld zu empfinden und sich angegriffen zu fühlen, da der Gedanke aufkommen könnte, etwas falsch gemacht zu haben. Es geht hierbei aber nicht um das Aufzeigen von Fehlern oder Schuld, sondern um die Erlangung eines Verständnisses bestehender Wechselwirkungen.
„Wie wir im Mutterleib Beine, Arme und Hände entwickeln, so bilden wir dort auch bereits unsere basale Affektivität als Antwort auf unsere Umwelt aus.“ (Thomas Verny, Pränatalpsychologe).
Das Menschenkind fühlt von Anfang an, und wenn es mit schmerzhaften Erfahrungen konfrontiert ist, die seine Psyche überfordern, dann spaltet es diese ab. Die Erfahrungen werden verdrängt und sind dem normalen Bewusstsein nicht mehr zugänglich. Diese Erfahrungen wirken jedoch trotzdem weiter und melden sich bei emotionaler Berührung durch Partnerschaft oder Familie.
„Wie die epigenetische Gedächtnisbildung eines frühen Stresserlebnisses im Mausgehirn aussieht, konnten wir in der Arbeitsgruppe Neuroendokrinologie im Detail aufklären. Werden neugeborene Mäuse von der Mutter für kurze Zeit getrennt, dann können sich diese Tiere ihr Leben lang nur schlecht an Stresssituationen anpassen. Ihr Gedächtnis, ihr Antrieb und ihre Emotion sind gestört. Auch die Stresshormone sind erhöht, weil im Gehirn der traumatisierten Mäuse das Eiweißmolekül Vasopressin (AVP) überproduziert wird“ (7).
Wahrscheinlich wird ein Teil der Leser das nicht glauben können, und das finde ich verständlich. Ich hätte es vor zehn Jahren auch nicht geglaubt. Nun begleite ich regelmäßig Menschen, die aufgrund prägender Erfahrungen in der Kindheit Verhaltensweisen und Gefühlsmuster entwickelten, die ihr ganzes Leben beeinflussen. Hier präsentiere ich beispielhaft eine kleine Auswahl möglicher Erkenntnisse von Menschen, die mit primären Erfahrungen in Kontakt gekommen sind (linke Seite) und diese durch die Gefühls- und Körperarbeit in ihr Leben integrieren konnten. Im Anschluss an diese Erkenntnis beginnt durch das Erleben einer nährenden Erfahrung im persönlichen Prozess eine Transformation, die es ermöglicht, ein neues Lebensgefühl und lebensfördernde Lebenseinstellungen zu entwickeln (siehe rechte Seite).
Mit Wissen um frühkindliche Erfahrungen zu einer besseren Welt
Ich finde es ist an der Zeit, dass das Wissen um die Auswirkungen frühkindlicher Erfahrungen auf das Individuum — aber auch auf die Gesellschaft — zu einem zentralen Thema im aktuellen Wandlungsprozess wird. Es ist fast nicht mehr zu leugnen, dass Friedfertigkeit, Mitgefühl, innere Fülle, Beziehungsfähigkeit, emotionale und körperliche Gesundheit ihre Basis in unseren ersten Lebensjahren haben. Neben der Analyse der Missstände unserer Zeit birgt die Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte ein enormes Wachstumspotenzial und vielleicht den nachhaltigsten Schritt zu einer besseren Welt.
Aber nicht nur das: mit dem angesprochenen Wissen halten wir auch genügend Informationen in der Hand, um präventiv dafür zu sorgen, dass eine Gesellschaft mit weniger abgespaltenem Schmerz entsteht, indem wir es Familien ermöglichen, dass sie ihre zur Welt kommenden Kinder mit Liebe und Geborgenheit empfangen und begleiten können. Dafür braucht es finanzielle Sicherheit für Eltern, eine adäquate Betreuung der Schwangerschaft durch Hebammen — den Expertinnen für alles rund um die Geburt — und Betreuungsmöglichkeiten, die Kindern die Möglichkeit geben sicher gebunden ins Leben zu gehen.
Dazu ist zu sagen, dass die Geburtshilfe gerade vor unseren Augen den Bach runtergeht und die Geburt in die Krankenhäuser genötigt wird. Das natürliche Phänomen einer Geburt wird in 98 Prozent der Fälle in Deutschland im Krankenhaus erlebt und es gibt bundesweite einen eklatanten Mangel an Hebammen, so dass Geburten nicht adäquat begleitet werden können und systematisch Familien keinen optimalen Start ins Leben erleben. Der Verein Mother Hood e.V. fasst es so zusammen:
„Diese unzureichende Betreuung während der Geburt gefährdet Mutter und Kind. Komplikationen werden erst spät erkannt. Ein Resultat sind mehr Interventionen und steigende Kaiserschnittraten.“ Er führt dann weiter aus: „Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte warnt explizit, dass der Hebammenmangel die Gesundheit Neugeborener gefährdet“ (8).
Im Wissen um diesen Notstand und darum, wie einfach und auch finanziell machbar hier ein Wandel möglich ist, empfinde ich manchmal Ohnmacht den Menschen gegenüber, die sich dann für die effizientere Gestaltung der Geburtshilfe einsetzen und weder übermäßige Medikamentengabe noch eine Kaiserschnittrate von 30 Prozent in Frage stellen. Die wahren Kosten dieser menschenunwürdigen Geburtshilfe bleiben den meisten Menschen verborgen und werden als „so ist der Mensch halt“ abgetan. Zum Thema Kaiserschnitt gäbe es zu sagen, dass Dr. Alfred Rockenschaub, der 20 Jahre Chefarzt der Geburtshilfe an der Ignaz-Semmelweiß Klinik in Wien war, eine Kaiserschnittrate von 1,05 Prozent erreichte und dass selbst die WHO eine Kaiserschnittrate von unter 15 Prozent empfiehlt.
Und nun traue ich mich nachträglich, noch Albert Einsteins Eingangsfrage zu beantworten:
„Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung des Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hassens und Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?“
Lieber Albert, wie oben beschrieben wäre es eigentlich ganz leicht, und ich bin mir sicher, dein wacher Geist ist fähig, das zu verstehen. Menschen wiederholen das im Leben, was ihnen angetan wird und so wiederholen sie ihre eigene Geschichte individuell aber auch kollektiv.
Deshalb braucht es die individuelle Aufarbeitung eigener prägender Erfahrungen und die Sicherstellung, dass die Kinder einer Gesellschaft mit so wenig Ohnmacht, Verlassenheit, Trauer, Gewalt und Schmerz wie möglich in diese hineinwachsen dürfen.
Das ist übrigens keine neue Erkenntnis, denn indigene Kulturen, manche nennen sie Primitive, wussten das schon vor Tausenden von Jahren. Auch hier lohnt sich der Blick in die Geschichte.
„Für die traditionellen Nuu-cha-nuth beginnt der Einfluss auf das Leben (Anm. d. Übersetzers: eines Menschen) nicht bei der Geburt, sondern in der Gebärmutter. An diesem warmen und dunklen Ort in der Mutter beginnen die Lehren die Identität zu formen“ (9).
Es würde mich freuen, wenn wir zusammen daran arbeiten, das oben Beschriebene umzusetzen und damit einen wichtigen Beitrag zu einer friedvollen Welt leisten.
Mit erwartungsvollen Grüßen
Bastian Barucker, Pulow 2019
Quellen und Anmerkungen:
(1) Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud aus dem Jahre 1932: https://ittybyte.files.wordpress.com/2015/03/einstein-albert-warum-krieg.pdf
(2) Brutkastenlüge — Wikipedia-Artikel:
https://de.wikipedia.org/wiki/Brutkastenl%C3%BCge
(3) Ludwig Janus QUELLE NICHT ANGEGEBEN
(4) Welt Artikel zur Schmerzempfindung bei Kindern. https://www.welt.de/gesundheit/article140798874/Schon-Ungeborene-koennen-Schmerz-empfinden.html
(5) Willi Maurer — Der erste Augenblick des Lebens, Drachen Verlag
(6) Bruce Lipton: Intelligente Zellen: Wie Erfahrungen unsere Gene steuern, Koha-Verlag
(7) Dr. Dietmar Spengler — Gene Lernen aus Stress: https://www.mpg.de/431776/forschungsSchwerpunkt
(8) Aktuelle Situation der Geburtshilfe:
https://www.mother-hood.de/sichere-geburt/aktuelle-situation-der-geburtshilfe.html
(9) E. Richard Alteo — Tsawalk, A Nuu-chah-nulth Worldview, UBC Press