Der Wertewesten schafft sich ab
Der Fall Assange ist ein Kristallisationspunkt für die Dekadenz der Demokratie: Entweder hat der Bürger Entscheidungsmacht auf Basis transparenter Informationen, oder er ist Untertan.
Dissidenten sind bei westlichen Politikern sehr beliebt. Alexej Nawalny zum Beispiel oder Ai Wei Wei. Unverdrossen feuert man sie von der Seitenlinie aus an: Dann rebelliert mal schön! Anders sieht es aus, wenn jemand das amerikanische Imperium selbst infrage stellt. Dann drohen ihm psychologische Folter und sogar der Tod. Der Fall Julian Assange ist mitnichten nur „Privatsache“. Auch nicht allein eine Angelegenheit der alternativen Presse. Die Demokratie selbst steht auf dem Spiel, wenn USA und Großbritannien mit ihrer Methode der Vernichtung eines aufrechten Journalisten durchkommen. Denn Demokratie kann nur auf der Basis funktionieren, dass die Bürger einen Zugang zur Wahrheit haben. Wird diese unterdrückt, gibt es keine Freiheit mehr.
Letztens fuhr ich auf dem Motorrad zwischen Zug und Schwyz an einem Haus vorbei und hatte sofort ein Lächeln im Gesicht. „Free Assange“ stand da auf einem Schild. Wie lange es wohl schon da steht? Wie lange es wohl noch stehen muss? Manche Texte lese ich heute wieder und denke mir: Das kann doch nicht sein, dass sich in vier Jahren nichts geändert hat! Diese Kolumne erschien zuerst in der NZZ und wollte erstmals nicht so leicht durchgehen beziehungsweise erschien nach etwas Hin und Her schließlich in einer redigierten Form. Hier bringe ich die Originalfassung.
1971 veröffentlichten die New York Times und die Washington Post Geheimdokumente der US-Regierung über den Vietnamkrieg. Der brisante Inhalt: Die Regierung rechnete nicht mit einem Sieg in Vietnam, war aber bereit, weiter amerikanische Bürger zu verheizen. Die Veröffentlichung der „Pentagon Papers“ half den Krieg zu beenden, auf die Journalisten regnete es Pulitzer-Preise, und insgesamt war es ein Sieg der Wahrheit über die offizielle Propaganda.
Derartige Sternstunden sind heute selten geworden. Gut, wir erfuhren, dass der US-Geheimdienst eigene Bürger und befreundete Staats- und Regierungschefs abhörte, von weißer Folter, Guantánamo und von zahlreichen Kriegsverbrechen, wie im Fall von US-Soldaten, die von Hubschraubern aus irakische Zivilisten und zwei Reuters-Journalisten abknallten, als wäre es Counterstrike. Doch das meiste davon erfuhr man nicht zuerst aus Qualitätsmedien, sondern von Wikileaks. Und für all diese unzähligen Dokumente — ohne einen Fall von Fake News — über Verbrechen der Mächtigen droht Julian Assange jetzt in den USA eine Haftstrafe von 175 Jahren. Erstmals könnte ein Publizist dort wegen Spionage verurteilt werden.
Im Kern geht es im Fall Assange um die Existenz der westlichen Demokratie. In der echten Demokratie ist jeder Bürger ein Fürst, auch und gerade der Dissident. Der Bürger hat als Souverän die Entscheidungsmacht. Entscheidungen kann er jedoch nur auf Basis von wahren Informationen treffen. Werden ihm diese vorenthalten, verwandelt sich Demokratie in eine Plutokratie und der Bürger in ein unter Kuratel stehendes Kind, einen Untertan mit Konsumrecht. Der Staat darf Feinde belügen, nicht aber den eigenen Bürger — es sei denn, er betrachtet ihn als Feind.
Durch das Prisma von Wikileaks offenbaren sich die USA als Schurkenstaat mit freiheitlicher Maske, in dem ein militärisch-industrieller Korporatismus zusammen mit Big Finance und orwellschen Internetgiganten gegen den Bürger regieren, getragen von pseudofreiheitlichen Unterwerfungspublizisten, die Dissidenten wie Ai Wei Wei hochleben lassen, während ihnen bei Assange die Tastatur klemmt.
Klingt zu dick aufgetragen? „Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, dann werden wir von Verbrechern regiert“, meinte Edward Snowden. Die USA sehen Wikileaks als „feindlichen Geheimdienst“ — was ist dann bitte die National Security Agency (NSA, Auslandsnachrichtendienst der USA), die gesetzeswidrig eigene Bürger bespitzelt? Je höher der Preis für die Wahrheitsfindung, desto kleiner die Freiheit. Dass sich Wladimir Putin mit dem Asyl für Snowden nun selbst als ihr Beschützer aufschwingt, ist ein Dilemma, das freiheitliche Staaten, wie etwa die Schweiz, jederzeit auflösen könnten, indem sie Whistleblowern Schutz gewährten.
Dass Assange seit je mit Falschbeschuldigungen überhäuft wird, ist dabei Teil des Spiels, das ihn zum Aussätzigen machen soll. Publizisten wie Mathias Bröckers („Freiheit für Julian Assange“, Westend Verlag) widerlegen diese Verleumdungen, und auch der UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, gab kürzlich bekannt, Propaganda erlegen zu sein. Er sieht in Assange ein Opfer psychologischer Folter, einen Präzedenzfall für staatliche Zusammenarbeit, um den Überbringer unangenehmer Wahrheiten zu erledigen. Der Fall Assange bringt die Krise der westlichen Wertegemeinschaft — also von uns — nicht nur ans Licht, sondern stellt die Frage, ob es diese Wertegemeinschaft überhaupt noch gibt. Wo bleibt der Aufschrei?
Vermutlich meinte Dante uns, als er schrieb:
„Der heißeste Platz der Hölle ist für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben.“
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Causa Julian Assange: Der Wertewesten schafft sich ab“ auf freischwebende-intelligenz.org.