Der Weltpolizist
Welche Rolle spielt der Welt-Hegemon USA in unserer Zeit? Interview mit dem Historiker Hans-Heinrich Nolte, Teil 1.
Hans-Heinrich Nolte ist einer der bekanntesten Osteuropahistoriker Deutschlands. Er lehrte lange an den Universitäten in Hannover und Wien. Zudem ist er einer der Vorreiter im Forschungsfeld Weltgeschichte. Vor wenigen Monaten erschien sein neues Buch „Kurze Geschichte der Imperien“. Die Frage, ob sich die USA zu einem Imperium entwickelt haben, beantwortet Nolte mit nein. Nach geschichtswissenschaftlichen Kriterien seien die Vereinigten Staaten kein Imperium, sehr wohl aber der Hegemon der heutigen Welt. Mit ihm sprach Stefan Korinth.
Herr Nolte, Sie waren kürzlich an der Universität Wien und haben dort einen Vortrag zur Frage gehalten, ob die USA ein Imperium sind. Und wie lautet Ihre Antwort?
Das ist ja eine sehr kritische Frage, die etwa von der amerikanischen Linken immer affirmativ so auch bejaht wird. Etwa Noam Chomsky hat das gesagt: „Wir sind auf dem Weg zu einem Imperium. Wir beherrschen die Welt.“ Und die europäische Linke hat das auch immer entsprechend so aufgenommen. Jean Ziegler schreibt das. Oder in den USA schreibt es auch Barber: „Amerika ist ein Imperium der Schande“. Also die Kritik an diesem ganzen Konzept überwiegt. Es ist auch richtig, dass die Kritik überwiegt. An diesem Punkt habe ich aber überlegt, was war eigentlich ein Imperium historisch gesehen? Und zu einem Imperium gehört eine Reihe von Kategorien. Ich habe zwölf identifiziert, die wir jetzt nicht alle wiederholen können. Aber zum Imperium gehörte zum Beispiel eine Dynastie. Also es gibt kein Imperium ohne eine Dynastie. Es gibt verschiedene Formen der Dynastie: Es kann ein Erbimperium sein oder es kann eine Familie während des gesamten Imperiums herrschen, was aber selten ist. Die Osmanen haben das geschafft. Und das haben wir in allen Imperien, ich habe 14 untersucht. Historisch gesehen gibt es insgesamt über 30.
Und was zeichnet diese dynastisch-imperialen Familien aus?
Sie haben einen großen Anteil an der Ökonomie. Sie sind in aller Regel die reichsten Familien. Also das sind nicht einfach nur Dynastien im Sinne von schön und berühmt, sondern das sind Dynastien im Sinne von „Wir haben das Geld. Wir haben das Vermögen“. Oder in der Vor-Geld-Zeit: „Wir haben das Land und können das dann weiter ausgeben an die Leute, die uns folgen.“ Sie geben eben Mittel an die Klienten. Also vom Kaiser her gesehen an die Könige und Fürsten. Vom Fürsten aus gesehen an die Grafen und Freiherrn.
„Die Reichen in den USA würden keine imperiale Dynastie akzeptieren.“
Und das gehört zu den Sachen, die in Amerika verändert sind. Und zwar deshalb weil es dort einen viel breiteren Wohlstand gibt. Wir haben in den Vereinigten Staaten mehrere reiche Familien. Aber es sind so viele reiche Familien da, dass sie keinen unter sich als Imperator akzeptieren werden oder können – also etwa von den Kennedys oder Bushs. Das sind alles Milliardärsfamilien. Und weil sie das sind, können sie sehr wohl von Zeit zu Zeit einen von ihnen, wenn er begabt ist, in die Politik schicken. Eigentlich auch wenn er unbegabt ist. Aber es sind so viele reiche Familien da, dass man sich nur eine Republik vorstellen kann. Es ist nicht abzusehen, dass eine dieser Familien die anderen alle ausschaltet. Es ist auch von der Verfassung der Vereinigten Staaten her nicht denkbar. Die USA halten sich selbst für eine Nation und nicht für ein Imperium. Man müsste erstmal auch die allgemeine Meinung der Vereinigten Staaten ändern. Also ein Imperium hat zwar eine herrschende Schicht, aber es hat trotzdem die Idee, dass es alle Einwohner des Imperiums glücklich machen soll oder zumindest verhindern, dass sie einen Aufstand machen. Und auch das gibt es ja in Amerika nicht. Also es gibt nicht die Vorstellung: „Wir sorgen jetzt für den Rest der Welt. Dass uns alle Leute zustimmen, dass wir die Imperatoren sind.“
Also in den USA gibt es zu viele reiche Familien, als dass sich eine Dynastie entwickeln könnte? Aber Sie sagten ja, dass es in anderen Imperien außer dem Osmanischen Reich auch nicht nur eine mächtige Familie gab. Also wo ist da die Grenze, ab wann es zu viele reiche Familien sind?
Wenn Sie jetzt ein gutes historisches Beispiel wollen, dann müssen Sie Venedig nehmen oder auch Florenz vor den Medici. Also in Venedig sehen Sie, wir haben viele reiche Familien. Die einigen sich, indem sie alle paar Jahre einen Dogen wählen, einen Herzog. Das ist eine Wahlrepublik. Aber es ist eben eine Republik, die darauf besteht, es wird von Zeit zu Zeit mal wieder ein neuer gewählt, weil zu viele wohlhabende Familien da sind. Die muss ja irgendeinen Frieden machen zwischen diesen Familien. Und der geht nur so, dass man das, worüber man sich streitet, aufteilt. Und zwar chronologisch. Und so können Sie jetzt mal die Bushs und mal die Kennedys an der Regierung haben in Amerika. Manchmal sogar auch jemand, der ohne viel Geld dazwischenkommt. Das gibt es in den USA auch, das ist ja auch ein wichtiger Punkt.
Ohne eigenes Geld.
Ohne viel eigenes Geld. Dass er also Leute findet, die ihn finanzieren oder dass er sehr früh Geld macht. Bei den Clintons kann man das so zum Beispiel sagen. Sie haben sehr früh in Arkansas ein Vermögen gemacht. Und das haben sie dann politisch umgesetzt. Aber auch sie waren eben dran gebunden: keinesfalls mehr als zwei Wahlperioden.
Wenn es nach Bill auch Hillary geschafft hätte, dann wären es sogar vier Wahlperioden.
Mit ihr hat es ja nicht geklappt. Und sicherlich war es auch ein Grund, dass sie nicht noch einmal Clinton haben wollten. Ich glaube, das war schon ein Grund in der amerikanischen Öffentlichkeit. „Zwei Wahlperioden Clinton reichen uns.“ Und selbst die Unterstützung der weiblichen Wähler hat es nicht geschafft, die Hillary durchzubringen.
„Die USA sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Demokratie.“
Also Sie sagen, dass Florenz oder Venedig als historische Beispiele dem eher entsprechen, was die USA heute sind. Man hat eine Gruppe reicher Familien, die im republikanischen Rahmen einen Primus inter Pares wählen.
Ja, und diese Republik ist durch die Ausweitung der Wahlrechte sogar seit dem Anfang des letzten Jahrhunderts eine Demokratie. Sie müssen bedenken, als die Vereinigten Staaten gegründet wurden, hatten vielleicht zehn Prozent der heute wahlberechtigten Bevölkerung das Wahlrecht. Ausschließlich Reiche. Und die wurden unterschiedlich gezählt. Im Süden nach Bodenbesitz und im Norden nach Steuerleistung. Aber im 19. Jahrhundert fängt es an, dass erstmal alle weißen Männer das Wahlrecht haben. Das gibt es erst seit 1840 in Kentucky. 1870 erhielten die ehemaligen afroamerikanischen Sklaven das Wahlrecht. Im 20. Jahrhundert, 1920, kamen die Frauen hinzu, und 1924 – als letzte – „sogar“ die Indianer. Und der Wahlzensus wurde aufgehoben. Also die Demokratisierung dieser Republik ist noch ein weiterer Punkt. Sie müssten ja jetzt diese Demokratisierung wieder aufheben, wenn sie ein Imperium daraus machen wollten.
Was gibt es denn noch für imperiale Kriterien?
Ein anderes Kriterium ist geborener Adel. Sie haben in allen Imperien mit Ausnahme des chinesischen – das ist ein Sonderfall – einen geborenen Adel. Der bildet nochmal so eine mächtige Unterschicht, die aber auch abhängig ist von den Königen und Fürsten, weil sie geschenkten Grund und Boden braucht, um ihre zweiten und dritten Söhne zu ernähren. Oder bei den nomadischen Völkern um die zweiten und dritten Söhne standesgemäß auszustatten. In Amerika haben wir aber keinen geborenen Adel. Wir haben reiche Leute. Die können aber auch wieder arm werden. Die meisten Leute, wenn sie mal reich sind, bleiben auch reich, aber sie sind trotzdem verfassungsmäßig nicht als Sondergruppe definiert. Während der Adel ja verfassungsmäßig – in Deutschland etwa bis 1918 – eine Sondergruppe bildete. Wenn wir jetzt mal das Heilige Römische Reich nehmen, dann gibt es eben unterhalb der Fürsten den Adel als eigene Korporation mit eigenem Rechtssystem, mit eigener Rechtsprechung. Der Adel stand nicht vor dem gleichen Gericht wie der Bürger, sondern er hatte sein eigenes Gericht. Er konnte auch einklagen, dass er nur von eigenen Leuten also von anderen Adeligen verurteilt wurde. Das beeinflusst die Rechtsprechung schon sehr. Das ist schon ein Privileg. So gab es eben viele Privilegien des Adels.
Sie sagten auch, dass die USA von anderen Völkern der Welt nicht als Imperatoren gesehen werden wollen oder als imperiale Herrschaftsmacht nicht ihren Stempel aufdrücken wollen. Aber es gibt ja schon so eine „Demokratisierungsmission“, die die USA immer wieder hervorheben. Kann man das nicht als abgewandelte Form davon verstehen?
Die Zivilisierungsmission gilt ja für fast alle. Also die Republik Frankreich hat auch eine Zivilisierungsmission, ohne dass sie ein Imperium ist. Auch Deutschland hat mal eine Zivilisierungsmission für sich in Anspruch genommen. Also das gilt eigentlich für alle Staaten zumindest des europäischen Systems. Dieses System, in dem ja diese einzelnen Königreiche und Republiken miteinander in Konkurrenz lebten, die aber erstmal alle Christen sind, die hatten zum Beispiel auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit die Ausbreitung des Christentums als Mission. Diese Mission der Ausbreitung dessen, was man gerade als Idee und Konzept hat, die ist – glaube ich – unabdingbar für alle Gesellschaften, die aus dem Monotheismus kommen.
Also das wäre gar kein imperiales Kriterium?
Die ausbreitende Mission ist schon ein imperiales Kriterium, aber nicht alleinstellend. Sie müssen ja überlegen: Was unterscheidet jetzt die Imperien von den anderen Königreichen? Und wenn sie ein Königreich wie Portugal nehmen. Das hat wirklich eine riesige Expansion erlebt über ganz Asien hinweg bis Macau und zeitweise sogar bis Japan und bis Brasilien auf der anderen Seite. Es ist aber kein Imperium. Portugal nahm nie für sich in Anspruch, viele kleine Königreiche unter sich zu versammeln und ein Gesamtkonzept zu machen. Spanien hat das unter Karl V. eine kurze Zeit in Anspruch genommen, aber nach dessen Abdanken hat Spanien darauf verzichtet, diese imperiale Rolle zu spielen. Das war auch eine Nation, die andere Königreiche unterworfen hat – also ein zusammengesetzter Staat. Aber es nahm nach Karl V. nicht den Titel Imperium für sich in Anspruch.
„Imperien rufen sich selbst als solche aus.“
Also man muss selbst auch Imperium sein wollen und das so kommunizieren?
Ja, wenn sie ein Imperium sein wollen, dann sagen sie das auch. „Wir sind Herrscher über viele Staaten, eigentlich über die ganze Welt.“ Das ist eigentlich das Konzept. Dann muss man zwar akzeptieren, dass es noch andere Welten gibt. Zum Beispiel selbst Rom musste akzeptieren, die Parther werden nie besiegt. Persien bleibt eine eigene Welt. Also insofern mussten die das früh einschränken. Trotzdem war Rom immer noch ein Imperium. Wenn man Rom nicht als Imperium bezeichnet, was ist dann ein Imperium? Aber die Mission an sich, die würde etwa in der antiken Zeit auch die Griechen in Athen übernehmen, die mit Sicherheit kein Imperium waren. Also die Ausbreitung der eigenen Regierungsform und des eigenen Glaubens gehört schon mit dazu. Das tun die Amis auch, keine Frage. Sie verbreiten in der Welt, dass die amerikanische Verfassung die beste ist von allen. Dass sie allen nur empfehlen können: „Werdet auch Demokratien.“ Die sie auch unterstützen, wenn irgendwo eine demokratische Bewegung ist und sogar diese Interventionsbewegung der letzten Jahre unterstützt haben – zum Teil geht die von den USA ja auch aus, diese Vorstellung: „Wir intervenieren in anderen Staaten, um Demokratie zu fördern.“ Aber die Amerikaner haben dabei nicht gesagt: „Wir machen anschließend eine Ordnung, in der wir entscheiden, was in der Welt passiert.“ Sondern sie haben versucht, nationale Bündnisse zu machen, wie die Nato zum Beispiel. Also die USA sind ein Hegemon – ein dominanter, führender Staat – aber kein Imperator. Hegemone im System gibt es schon von Anfang an. Sagen wir mal im 17. Jahrhundert: Da waren die Niederländer der Hegemon des europäischen Systems. Solche Hegemone sind fast immer da. Sie setzen sich durch. Im 18. Jahrhundert war es Großbritannien in Auseinandersetzung mit Frankreich allerdings. Und im 19. Jahrhundert war es Großbritannien allein und dann kam Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts und wollte auch gern Hegemon werden. Aber eine Hegemonie ist etwas anderes als ein Imperium.
Was unterscheidet diese denn voneinander?
Im Imperium haben Sie eine Zentralgewalt, die Befehle ausgibt. Zumindest in gewissen Grenzbereichen muss es eine befehlsgebende Zentrale geben. Ein Kriterium, das ich zum Beispiel für das Buch genommen habe, ist zentrale Steuereinziehung. Das ist auch ein ökonomisch wichtiges Kriterium. Also im Imperium haben sie immer eine zentrale Steuereinziehung. Sagen wir mal China. Das hat ein sehr gutes zentrales System. Oder das Römische Reich oder Russland. In Russland gab es schon vom 17. Jahrhundert an zentrale Steuern. In jedem anderen Staat gibt es auch zentrale Steuern, aber ein normales Königreich würde eben an seinen Grenzen bleiben und versuchen, den nächsten Staat zu erobern und nicht versuchen, eine Gesamtherrschaft zu errichten, wie Karl V. es versucht hat und daran gescheitert ist. Die letzten, die das in Europa gemacht haben, sind eben die deutschen Kaiser gewesen, bis zu den Staufern. Die hatten nochmal versucht, die ganze Christenheit in einem Imperium zusammenzufassen.
„Gerade die Amerikaner sind ja gegen weltweit zentralen Steuereinzug.“
So und was jetzt die Steuern anlangt, manche Staaten wehren sich ja jetzt dagegen, dass etwa die Vereinten Nationen Steuerkapazität bekommen. So wie auch Deutschland sich dagegen wehrt, dass die Europäische Union Steuerhoheit bekommt. Das ist ein ökonomisch zentraler Punkt, es wird ja im Augenblick viel diskutiert, weil internationales Kapital der Steuer ausweichen kann. Weil damit Prozesse gemacht werden können, die der einzelne Staat nicht mehr kontrollieren kann. Das ist aber auch eine alte Diskussion. Im 18. Jahrhundert war das der Prozess, in dem holländisches Kapital nach England ging. Weil die holländischen Kapitalbesitzer sagten: „Wir gewinnen für unser Geld in England mehr.“ Und sie kauften dann englische Staatsanleihen auf und gingen auch direkt mit Anleihen nach England. Das konnte der niederländische Staat dann nicht mehr steuern. Und genauso wäre das heute. Wenn es gelingen würde, dass wir eine Gesamtgesellschaft hätten, die sagen würde: „Wir erheben Steuern im globalen Maßstab.“ Dann würden sich auch die ökonomischen Verhältnisse ändern, weil dann eben das internationale Kapital keinen Spielraum mehr hätte. Aber noch hat es das. Noch gibt es keine Zentrale und gerade die Amerikaner wären nicht dabei, das internationale Kapital einzugrenzen. Das wäre ja gerade gegen die Politik, die sie betreiben.
Die USA haben aber schon eine gewisse Finanzmacht in der Welt. Also sie haben die Leitwährung, und sie haben Kontrolle beim IWF, da geht ja gegen ihr Veto gar nichts. Oder die tonangebenden Ratingagenturen sind ja auch US-amerikanische.
Aber es ist nicht der Staat. Beim IWF spielt der Staat schon eine Rolle, aber der IWF hat ja nicht die Funktion, die Weltwirtschaftsströme zu lenken, sondern dem Kapital überall Zugang zu verschaffen. Dass man mit Währungen arbeitet, mit denen Vergleichbarkeit erreicht wird. Wo dann auch jeder investieren kann in einem anderen Land, ganz egal ob das Land das auch selber möchte. Das setzt ja der IWF – wenn auch sehr langsam – aber doch durch. Und dieses System von Bretton Woods, was ja 1944 eingerichtet worden ist, da haben die Amerikaner schon eine entscheidende Rolle gespielt. Das ist schon richtig, aber sie haben nicht institutionalisiert: „Wir zahlen jetzt für den Rest der Welt.“ Das haben sie mit dem Marshall-Plan ja zum Teil gemacht. Aber nicht als zentrale Institution, sondern als Entscheidung der Nation USA. Es wäre ja ein leichtes gewesen, als man die UNO gegründet hat, der UNO ein Besteuerungsrecht zu geben, aber genau dieses steht eben nicht in der UNO-Satzung drin.
Sie sagen letztlich, die USA sind der global führende Staat, der Hegemon des Weltsystems...
…im Augenblick ja…
Was zeichnet diesen Hegemon denn aus? Nach welchen Kriterien kann man den dann identifizieren?
Die Vereinigten Staaten sind die einzigen die in der Lage sind, auf der gesamten Welt militärisch zu intervenieren. Sie sind auch derjenige Staat, der Gesamtkapitalflüsse sichert. Er ist nicht derjenige, der das Kapital selber hat, sondern der Staat, der durchsetzt, dass man überall investieren kann. Das kann man so nicht überall durchsetzen, aber das ist ein Ziel der Vereinigten Staaten. Es ist auch der Staat, der das Vetorecht für seine eigenen Aktionen sehr häufig in Anspruch nimmt. Der also seine eigenen Interventionen macht auch ohne Zustimmung der Vereinten Nationen. Das machen auch die Russen und andere, keine Frage. Aber der zweite Irakkrieg war eben ein Angriff ohne Zustimmung der Vereinten Nationen und nicht nach der UNO-Satzung. Diese sieht ja eigentlich vor, dass alle solche Fälle vom Sicherheitsrat entschieden werden sollen. Und die Vetomächte sind natürlich machtmäßig ausgenommen aus dieser Realität. Und alle fünf Vetomächte benutzen das auch. Selbst Frankreich, das bei Weitem nicht so stark ist wie die USA, hat die Tatsache, dass es unangreifbar ist über den Sicherheitsrat zum Beispiel benutzt, als es in Libyen interveniert hat. Da haben die Franzosen ohne Zustimmung des Sicherheitsrates mit ihrer Luftwaffe interveniert.
„Die USA können sich mit ihren Diensten am besten über die Welt informieren.“
Und das ist, um jetzt zur Hegemonie zurückzukommen, schon ein entscheidender Punkt. Die Amerikaner sind auch diejenigen, die nach allem, was man zumindest darüber erfahren kann, sich am besten über ihre internationalen Nachrichtendienste und Cyber-Institutionen über die Welt informieren können. Die am besten Nachrichten sammeln können aus fast allen Ländern der Welt. Ich glaube, dass nur Russland und China sich dem entziehen können. Damit kann man auch Dinge bewirken. Also wenn Sie daran denken, dass es den Vereinigten Staaten wohl im Bündnis mit Israel gelungen ist, in die persischen Bemühungen, eine Atombombe zu bauen, einzugreifen. Dadurch dass sie in die persischen EDV-Rechner eben entsprechende Fehler einschleusen konnten. Das geht schon sehr weit. Das ist ein militärisch und machtmäßig interessanter Punkt, der natürlich auch den anderen Staaten zeigt, was die USA können. In Deutschland ist der krasseste Fall natürlich, dass sie auch die Bundeskanzlerin abhören. Und man kann schon annehmen, wenn die Amerikaner so beherrschend sind in der ganzen EDV-Frage, dass ihre Informationsmöglichkeiten viel weiter gehen, als sich nur darüber zu informieren, was Angela Merkel denkt.
Sie reden so in der Gegenwart davon. Damals hat Obama ja gesagt, Merkels Handy soll nicht weiter überwacht werden. Glauben Sie, das ist trotzdem noch der Fall?
Das mag sein oder nicht. Ich kann das nicht beurteilen. Aber ich gehe davon aus, dass die USA das beste Informationssystem der Welt haben. Das Problem besteht für sie in der Bewertung der Masse an Informationen. Das sind so viele Informationen, dass man doch nicht alles richtig auswerten kann. Aber erstmal sind die Amerikaner diejenigen, die am besten informiert sind über den Rest der Welt. Das gehört zur Hegemonie dazu, sie wissen sehr viel davon, was der andere eigentlich will. Ich weiß nicht, wie gut sie das für China und Russland können, aber meine Vermutung wäre, dass sie auch da sehr weit hineinreichen.
Imperien haben ja Staaten, Unterkönigreiche, Vasallen, die sie kontrollieren. Gibt es das bei Hegemonen auch?
Ja, ohne Frage. Eben die, die sich in Bündnissen wie in der Nato befinden. Die Nato ist ja ein Bündnis, das bewusst von den Vereinigten Staaten geführt wird. Der leitende General muss immer ein Amerikaner sein. Natürlich gibt es gewisse selbstständige Räume unterhalb für die Verbündeten. Einige von ihnen haben ja auch Sondereinheiten, die außerhalb des Bündnisses sind, also Frankreich zum Beispiel. Deutschland nicht. Die Hegemonie würde aber weitergehen als nur das Bündnis. Das Bündnis wäre nur ein innerer Teil. Die Amerikaner haben ja auch viele Bündnisse, die nicht über die Nato laufen. Sagen wir mal mit Südkorea. Ohne Frage ist Südkorea ein wichtiger Partner in der Welt, ein ökonomisch und politisch wichtiges Land. Aber eindeutig ist, dass die Südkoreaner in ihrer Politik gegenüber den Vereinigten Staaten immer vorsichtig sein werden, weil sie auf das Bündnis angewiesen sind. Es ist ein ungleiches Bündnis. Die Südkoreaner brauchen die Amerikaner zum Schutz des eigenen Landes. Oder zumindest glauben sie das. Also wie auch immer die Realität ist, der Punkt ist, wie die Intention über das Verhalten des Anderen ist. Denn was im koreanischen Fall jetzt Nordkorea oder im russischen Fall, was Putin will. Das ist ja immer eine Frage, wo die verschiedenen Geheimdienste unsicher sein müssen. Niemand kann wirklich sicher sein, was der andere will, solange ich nicht sein Handy abhöre. Das kann, soweit ich weiß, Deutschland nur mit wenigen machen. Wir haben mit unseren Geheimdiensten aus der EU auch einige Leute abgehört. Aber ich glaube nicht, dass wir in der Lage wären, in Putins entsprechenden Informationskreis einzudringen.
Das können aber auch die USA nicht, sagten Sie.
Das weiß ich nicht. Das werden aber auch die Amerikaner nie zugeben, wenn sie es können. Wenn sie es nicht können, ist es ja für sie machtmäßig immerhin noch besser, sie halten Putin in dem Glauben, sie können es. Das wissen nur sehr wenige Leute.
Es gibt ja einige Ereignisse, bei denen man sich fragt, warum wird denn die Beweiskette nicht vorgelegt, wenn man doch behauptet, man habe sie. Wie etwa bei dem Abschuss von MH17 in der Ukraine. John Kerry behauptete ja damals etwa, die USA hätten die Aufnahmen vom Raketenstart und dass sie nachweisen könnten, von wo sie kamen und wer die abgeschossen hat. Die Bilder wurden aber nicht öffentlich vorgelegt.
Weil Wissen Macht ist. Ein anderer Fall, der ähnlich spannend wäre, ist der Verlust des malaysischen Flugzeuges über dem Indischen Ozean. Ich glaube nicht, dass die entsprechenden internationalen Spionage-Organisationen das nicht von oben fotografiert haben. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es gibt ja so 40 oder 50 von diesen Spionage-Satelliten, die um die Erde kreisen. Sicher war auch mindestens einer da. Trotzdem erfahren wir es nicht, weil diejenigen, die es wissen, kein Interesse daran haben. Und da kann man wenig dran machen. Und im Fall des Abschusses in der Ukraine wäre ja das einfachste zu sagen, die Russen sollen ihre Daten vorlegen. Aber jeder ist bemüht, zu verheimlichen, wo er was weiß, um die Sicherheit seiner Informationskanäle zu sichern.
„Jeder Staat verdeckt seine Informationskanäle.“
Dafür gibt es ein ganz krasses historisches Beispiel. Die Engländer haben im Zweiten Weltkrieg von Anfang 1941 an den Funkverkehr der SS-Einheiten im Osten und dem Reichssicherheitshauptamt abgehört. Nicht alles, aber doch sehr viel. Sie waren also von Anfang an informiert, dass es sich hier um einen Massenmord, um einen Genozid handelt. Ab September 1941 muss man von einem richtigen Genozid sprechen. Ich meine jetzt mit Genozid im Unterschied zu den Pogromen, dass die jüdische Gesamtbevölkerung umgebracht wurde. Und das wussten die Engländer von da an, sie haben es aber nicht bekannt gemacht. Und dann haben sie diese Daten, als die Amerikaner in den Krieg eingetreten sind, den Amerikanern gegeben. Haben dazu aber auch gesagt, es darf nie bekannt gemacht werden, dass wir das schon wussten. Und dann hat ein Amerikaner, ein Historiker namens Breitman, eine wissenschaftliche Arbeit dazu geschrieben und hat einen Prozess geführt vor einem amerikanischen Gericht als diese 30-Jahres-Frist vorbei war. Und er hat erreicht, dass er diese Akten tatsächlich bekommt. Und heute sind sie frei zugänglich. Aber das Spannende in unserem Kontext ist ja, die Engländer haben den Amerikanern gesagt: „Ihr dürft nie sagen, dass ihr das wisst, weil damit der Gegner rauskriegen kann, wie wir es erfahren haben.“ Aber diese Regel ist auch erhalten geblieben, als es Nazi-Deutschland schon gar nicht mehr gab. Aber so ist es natürlich heute auch: Kein mächtiger Mensch gibt gern bekannt, wie er was erfahren hat.
Aber zurück zu den Allianzen: Bündnis hört sich ja nach Augenhöhe an, alle Beteiligten hätten dieselben Interessen und Rechte. Aber Sie sagten ja schon am Beispiel Südkorea, dass das nicht so ist. Also diese Hegemonialbündnisse sind dann in Ihrem Sinne schon Dinge, wo einer oben drüber sitzt – also hier die USA – und die anderen den Anweisungen folgen müssen.
Für die Nato gibt es schon Gremien und in diesen wird auch diskutiert, aber es gibt eben auch sozusagen ein Arcanum (Geheimnis) der Macht. Und das ist die Tatsache, dass die Amerikaner immer eingreifen können. Also bei militärischen Entscheidungen können die Amerikaner immer sagen: „Das machen wir nicht!“ Weil ein Amerikaner immer der Chef ist. Wir können nicht einen Deutschen oder Franzosen oder Engländer zum militärischen Chef der Nato wählen.
Es gibt auf dem Buchmarkt seit Jahren Werke, in denen die Rede davon ist, dass die USA kollabieren als Imperium. Nun sind die USA ihrer Meinung nach nur ein Super-Hegemon, aber gibt es diesen Zusammenbruch beziehungsweise die Schrumpfung des US-Einflusses?
Die amerikanische Macht nimmt ab, die amerikanische Ökonomie nimmt ab. Und damit nimmt auch die Kapazität ab, mit ökonomischen Mitteln weltweit zu intervenieren, was sie ja zum Beispiel über den IWF tun. Aber ich sehe nirgendwo, dass das ein Zusammenbruch wird. Es ist eher ein Prozess, bei dem eine Macht nicht mehr die Rolle von früher spielt, die zum Beispiel gegenüber China viel Industrie verloren hat. Die USA sind militärisch immer noch die erste Macht in der Welt, müssen aber zunehmend mit anderen verhandeln. Trump verhandelt ja mit China derzeit darüber, wie können wir den Anteil amerikanischer Industrie wieder erhöhen, damit die Arbeitslosigkeit in den USA wieder gemindert wird, was im Interesse der dortigen Mittelschicht ist. Aber einen Zusammenbruch sehe ich nicht. Auch nicht bei der Nato. Das ist ja das Ergebnis von 1990 gewesen: dass die Nato nicht zusammengebrochen ist, obwohl der Gegner plötzlich nicht mehr da war. Die alte Begründung war ja: „Wir müssen Europa gegen die Sowjetunion verteidigen und gegen den Kommunismus.“ Das ist nun alles nicht mehr da. Und das heutige Russland kann auch niemals die Sowjetunion nachmachen sozusagen. Der Aufstieg Japans und Deutschlands hat diese amerikanische Vormacht in der ökonomischen Frage ja schon in den 1970er Jahren verändert.
„US-Universitäten bieten Wissenschaftlern weltweit die besten Forschungsmöglichkeiten.“
Ein Argument gegen den Zusammenbruch wäre zum Beispiel: Die Amerikaner haben eindeutig die acht besten Universitäten der Welt. Das ist ein wichtiger Punkt, weil die Masse der Forschung in den USA passiert. Also die Zeiten, in denen die Kaiser-Wilhelm-Institute die großen weltbewegenden Erfindungen gemacht haben, die sind ja vorbei. Die großen Erfindungen werden heute in Harvard oder in Berkeley gemacht oder am Massachusetts Institute of Technology. Von dort aus gehen sie dann in die amerikanische Industrie beziehungsweise in die amerikanische tertiäre Wirtschaft. Und die Amerikaner sind immer noch führend im Bereich der weltweiten Innovationen. Das finde ich schon bemerkenswert. Wenn ein Deutscher einen Nobelpreis kriegt, dann weil er in den USA an einem Institut arbeitet. Also nicht mehr weil er hier irgendwo am Max-Planck-Institut forscht oder so. Ich habe mal ein halbes Jahr in Oslo am Nobel-Institut gearbeitet. Und das Spannende war, dass ganz viele Delegationen kamen, um den Friedensnobelpreis vorzubereiten. An sich kann jeder jemanden vorschlagen, der Professor ist. Aber das lohnt nicht. Denn wenn Sie da sind in Oslo, dann sehen Sie, dass da ganz viele Leute sich die Klinke in die Hand geben, um freundliche Beziehungen mit dem Oslo-Institut aufzunehmen. Zum Beispiel habe ich da zum einzigen Mal in meinem Leben Herrn Brzeziński erlebt bei einem Vortrag und konnte auch so mit ihm schwätzen, weil er in Oslo war, um die Friedensnobelpreisdiskussion für Amerika vorzubereiten, um gut Wetter zu machen. Denn das gehört zu den Mächten, die die Skandinavier haben, dass sie durch die Nobelpreise die internationale Meinung beeinflussen können.
Die besten Universitäten – das wäre also noch ein Kriterium für den Welt-Hegemon. Also in diesem Moment haben die USA auch die Fähigkeit so einen „brain drain“ zu organisieren – aus anderen Ländern die besten Wissenschaftler an ihre Unis zu holen.
Das hatte der Brzeziński damals auch gesagt in Oslo. Seine Rede war sehr spannend. „Wenn wir irgendwo feststellen, dass es einen wirklich genialen Kopf gibt, dann machen wir ihm ein Angebot, zu dem er nicht nein sagen kann.“ Also nicht als Regierung, sondern als Universität. Sie können natürlich einem deutschen Wissenschaftler in Deutschland anbieten: „Ja, Du kriegst eine Professur und ein Institut.“ Aber sie können ihm schon nicht mehr anbieten: „Du kriegst ein Institut mit hundert Leuten.“ Das ist einfach im deutschen Universitätssystem nicht drin. Das kann nur das englische oder amerikanische System machen, weil das über privates Kapital geht, über Boards. Und ein Board kann ohne weiteres sagen: „Dem fällt wirklich was ein? Also holen wir ihn her. Ganz egal was er haben will.“ Es geht nicht um die persönlichen Gehälter, das ist nicht der Punkt. Aber ein Wissenschaftler kann schlecht nein sagen, wenn sie ihm ein Institut mit fünfzig oder hundert Leuten anbieten. Eine solche Chance nutzt man.
Aber wenn Brzeziński das sagt, heißt das auch, dass dahinter ein größeres Interesse steht als nur das Interesse an dem, was der einzelne Wissenschaftler da jetzt gerade erforscht, sondern dass man wirklich diese intellektuellen Kapazitäten bei sich im Land haben will, um Hegemon zu bleiben?
Natürlich. Das würde man bei Brzeziński bestimmt so sagen können. Das hat er ja auch offen so geschrieben, dass die Amerikaner der Hegemon sind. Ganz sicher gehört einfach Wissenschaft zu Teilen der Macht. Rein ökonomisch ist es so, wenn sie die besten Wissenschaftler in ihrem Lande haben, dann werden die auch in erster Linie mit Unternehmen in ihrem Lande zusammenarbeiten. Man ist gegenseitig in der Nähe, man kennt sich, es gibt oft auch Drittmittel. Also die Wahrscheinlichkeit, dass von sehr guter Wissenschaft auch viel in die Ökonomie fließt, ist groß. Und der nächste Punkt ist natürlich, wenn sie schon mal die besten Universitäten haben, dann gehen auch die besten Studenten dahin. Also Harvard ist ja schrecklich teuer, wenn Sie da als Student leben wollen. Der Durchschnitt bei uns könnte sich das gar nicht leisten. Jetzt würden aber die sehr guten Leute unter Umständen ein Stipendium kriegen und nach Harvard gehen. Weil es auch für uns wichtig ist, dass einige von uns mal in diesen Zentren gewesen sind. Sonst kann man auch gar keine Konkurrenz machen, wenn man keine Vorstellung davon hat, wie das da drüben läuft. Übrigens, die zwei anderen unter den zehn weltbesten Universitäten sind Oxford und Cambridge. Also die Engländer haben auch etwas in diesem Range. Es ist keine deutsche Universität darunter.
War der politische Anspruch in Deutschland aber nicht auch lange ein anderer? Also allen einen Zugang zum Studium zu ermöglichen, der an diesen Eliteuniversitäten wegen der hohen finanziellen Zugangsbarrieren nicht da ist.
Ja, aber der deutsche Anspruch war schon auch immer, Universitäten oder Institute zu haben, die Weltklasse sind. Dafür gibt es ja eben das Max-Planck-Institut, wo ja auch nicht jeder reinkommt, sondern wo man eben die entsprechenden Vorkenntnisse haben muss. Trotzdem ist einfach mehr Geld in Amerika in der Forschung als bei uns. Da kommt natürlich die ganze Föderalismusfrage bei uns dazu, der Bund zahlt zwar jetzt Gelder in die Forschung. Aber das ist auch eine Frage des wie viel. Noch jedenfalls hat Deutschland nur wenige Möglichkeiten, auf dieser Ebene mitzureden.
Im zweiten und letzten Teil des Interviews geht es um die unterschiedlichen Machtpositionen, Interessen und Optionen der Großmächte Russland, China, der USA sowie der EU.
Hans-Heinrich Nolte ist ein Historiker und emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind osteuropäische Geschichte, insbesondere Russlands und der UdSSR sowie Weltgeschichte.