Der verweigerte Handschlag

Wladimir Putins Vorschläge zur gegenseitigen Annäherung in seiner Rede in Yad Vashem werden einmal mehr vom Westen diskreditiert.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat am 23. Januar 2020 in Jerusalem im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem einen wichtigen Vorschlag an die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates unterbreitet, der im Westen auf harsche Kritik stieß. Diese Kritik kann sich bei der gegenwärtigen Weltlage als hochgefährlich und unverantwortlich erweisen.

Nach Auffassung führender Nuklearwissenschaftler stellt sich die Lage der Menschheit aktuell als in höchstem Maße gefährdet dar, wobei diese Gefährdung Resultat der Handlungen von Menschen ist. Das „Bulletin of Atomic Scientists“ berichtet, dass die sogenannte Weltuntergangsuhr aktuell auf 100 Sekunden vor Mitternacht steht. So knapp vor Mitternacht stand die Uhr, die vor der Auslöschung der Menschheit warnt, noch nie. Die Organisation der kritischen Wissenschaftler hatte die Uhr im Jahr 1947 in Reaktion auf die Nuklearrüstung eingeführt. Damals stand sie auf sieben Minuten vor Mitternacht.

Es folgten Zeiten, in denen die Menschheit knapp am nuklearen Inferno, also an der finalen Katastrophe vorbeischlitterte. Die Kubakrise 1962 gilt als gefährlichster Augenblick der Geschichte: Die Weigerung des sowjetischen Marineoffiziers Wassili Archipow, einen nuklearen Torpedo in Reaktion auf ein Unterwassertorpedo der US-Marine abzufeuern, rettete damals die Menschheit vor dem Atomkrieg, der unser aller Schicksal hätte besiegeln können (1).

Archipow setzte seine Zivilcourage über die Vorgaben. Auf ein vergleichbares Glück darf sich die Menschheit nicht verlassen. Der Atomwaffenverbotsvertrag der UNO wäre ein wichtiges Instrument zur Rettung der Erde, doch ohne Annäherung der Atommächte wird es keine Lösung geben.

Im Jahr 2019 stand die Weltuntergangsuhr noch bei zwei Minuten vor zwölf, im Januar 2020 wurde sie nun erneut vorgestellt. Die Begründung dafür ist Anlass zu größter Sorge um den Frieden und um den Lebensraum der Menschheit.

Die Gefahr, dass die Menschheit durch einen Atomkrieg oder durch den Klimawandel ausgelöscht wird, sei „so groß wie seit Erfindung der Uhr im Jahr 1947 nicht“, teilten die Wissenschaftler mit.

„Wir haben es jetzt mit einem echten Notfall zu tun — einem absolut inakzeptablen Zustand der Welt“, sagte Rachel Bronson, Direktorin des „Bulletin of the Atomic Scientists“ (2).

Weltweite Partnerschaft angemahnt

In dieser Lage der Menschheit gewinnen die Worte des damaligen Generalsekretärs der UNO Sithu U Thant von 1969 dringliche Relevanz: „(...) nach den Informationen, die mir (...) zugehen, haben nach meiner Schätzung die Mitglieder dieses Gremiums (er meint den Weltsicherheitsrat, B.T.) noch etwa ein Jahrzehnt zur Verfügung, (...) eine weltweite Zusammenarbeit zu beginnen, um das Wettrüsten zu stoppen, den menschlichen Lebensraum zu verbessern (...) und den notwendigen Impuls zur Entwicklung zu geben. Wenn eine solche weltweite Partnerschaft innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht zustande kommt, so werden, fürchte ich, die (...) Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt“ (3).

Seit dieser Äußerung ist mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen. Versuche, eine weltweite Kooperation zu etablieren, wurden von den NATO-Staaten systematisch abgewehrt. Diese Staaten haben die Vereinbarungen gebrochen, denen zufolge sich das westliche Militärbündnis nicht nach Osten und schon gar nicht auf das Gebiet der ehemaligen UdSSR ausdehnt (4). Ein besonderes Dokument ist in diesem Zusammenhang die Rede des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher in Tutzing 1990, zu der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen war:

„Am 31. Januar 1990 in der Evangelischen Akademie in Tutzing sah Genscher die Gelegenheit gekommen. Seine Rede, die nicht mit Bundeskanzler Kohl abgesprochen war, enthielt die an die Nato gerichtete Forderung, eindeutig zu erklären, was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben‘. Diese Sicherheitsgarantie sei für die Sowjetunion bedeutsam, denn der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess dürften ‚nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen‘. Genscher führte zudem aus, das Gebiet der DDR solle nicht in die militärischen Strukturen der Nato einbezogen werden — da dies wegen zu erwartender Widerstände der Sowjetunion die Einigung blockieren würde“ (5).

Wie diese Sicherheitsinteressen durch die massive NATO-Osterweiterung wieder und wieder missachtet wurden, ist bekannt. Jahrzehnte später kam Wladimir Putin in einer Rede zum Ukrainekonflikt zu der Aussage, die Kollegen im Westen hätten wiederholt gelogen, sie „haben Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, uns vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es bei der Osterweiterung der Nato und dem Ausbau militärischer Einrichtungen an unseren Grenzen“ (6).

Doch anstatt Gleiches mit Gleichem zu beantworten und so die internationalen Spannungen immer weiter in den Bereich der höchsten Gefahrenstufe zu steigern, versucht Putin, Spannungen mit Vorschlägen an die „Kollegen im Westen“ zu deeskalieren und den Weg in eine internationale Friedensordnung zu eröffnen, der die Überlebenschancen der Menschheit steigern könnte. Wladimir Putin leitete seine Vorschläge aus der Verantwortung in der Folge des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte ab:

„Heute vereint uns bei dem Weltforum, das der Erinnerung an die Opfer des Holocaust gewidmet ist, eine gemeinsame Verantwortung und eine Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft. Wir trauern um alle Opfer des Nationalsozialismus, darunter sechs Millionen Juden, die in Ghettos und Konzentrationslagern zu Tode gefoltert und bei Tötungsaktionen brutal ermordet wurden. 40 Prozent der Opfer sind Bürger der ehemaligen Sowjetunion, deshalb war und bleibt der Holocaust für uns eine tiefe Wunde, eine Tragödie, an die wir uns immer erinnern werden. (...) In den besetzten Gebieten der Sowjetunion (...) wurde die größte Anzahl von Juden getötet. So sind in der Ukraine etwa 1,4 Millionen Juden ums Leben gekommen. In Litauen wurden 220.000 Menschen ermordet. Das sind (...) 95 Prozent der gesamtjüdischen Bevölkerung dieses Landes vor dem Zweiten Weltkrieg. In Lettland — 77.000. Nur wenige Hundert lettischer Juden hatten den Holocaust überlebt. Der Holocaust ist die systematische Vernichtung von Menschen. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass die Nazis das gleiche Schicksal auch vielen anderen Völkern bereiten wollten: Zu ‚Untermenschen‘ wurden Russen, Weißrussen, Ukrainer, Polen sowie Vertreter vieler anderer Nationalitäten erklärt. (...) Das sowjetische Volk verteidigte (...) sowohl sein Vaterland als brachte es auch Europa die Befreiung vom Nationalsozialismus. Wir haben dafür einen solchen Preis gezahlt, wie es sich kein Volk zuvor, selbst in den schrecklichsten Albträumen, hätte träumen lassen — 27 Millionen Todesopfer“ (7).

Vorschlag zur Verständigung

Aus diesem Gedenken an die Verbrechen Nazideutschlands leitete Wladimir Putin seinen Vorschlag zu einer weltweiten Verständigung im Sinne der Verteidigung des Friedens ab. Er führte zunächst aus:

„(...) die Pflicht der gegenwärtigen und zukünftigen Politiker, der staatlichen und öffentlichen Persönlichkeiten, ist, (...) alle Mittel zu nutzen: Information, Politik, Kultur, Autorität und Einfluss unserer Länder in der Welt. (...) wir alle tragen die Verantwortung dafür, dass die schrecklichen Tragödien jenes Krieges sich niemals wiederholen und dafür, dass die zukünftigen Generationen sich an das Grauen des Holocausts, der Todeslager und der Blockade von Leningrad erinnern“ (8).

Darauf aufbauend entwickelte Putin seinen Vorschlag: Er forderte zum Mut auf, nicht nur darüber zu reden, „sondern alles zu tun, um den Frieden zu schützen und zu verteidigen“. Der Rahmen dafür könnten die „fünf Großmächte“ unter den Gründungsstaaten der Vereinten Nationen sein, da sie „eine besondere Verantwortung für die Erhaltung der Zivilisation tragen“ — er meinte Russland, China, USA, Frankreich und Großbritannien (9). Er begründete das unter anderem mit diesen Worten:

„Ein Gipfeltreffen der Länder, die den wichtigsten Beitrag zur Zerschlagung des Aggressors und zur Schaffung eines Systems der Nachkriegsweltordnung geleistet hatten, würde eine große Rolle bei der Suche nach kollektiven Antworten auf moderne Herausforderungen und Bedrohungen spielen“ (10).

Angesichts des verlorenen halben Jahrhunderts seit Sithu U Thants eindringlichem Appell zur weltweiten Kooperation, um die Zukunftsgefährdungen in einem Bereich menschlicher Kontrollierbarkeit zu halten, bieten diese Vorschläge für das Überleben der Gattung Mensch eine Gelegenheit, die die Krisenmanager der Staaten nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Unsere Generation hat kein Recht, angesichts der Weltlage auf Zeit zu spielen.

Geschichte wird umgeschrieben

Stattdessen erfährt Wladimir Putin für sein Auftreten auf der Gedenkfeier für die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Westen unverantwortliche Häme, Kritik und Ablehnung. In der Tageszeitung Die Welt las man am 23. Januar 2020:

„Zudem rückte Putin zuletzt die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Auschwitz und beim Sieg über Nazi-Deutschland in den Vordergrund, während er gleichzeitig die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 — als die Sowjetunion und Hitler-Deutschland sich kurzzeitig für die Invasion Polens verbündeten — in Abrede stellte“ (11).

Es ist eine neue Methode der psychologischen Strategie im Westen, die Geschichte umzuschreiben und die Eskalation der Spannungen gegen Russland mit einer gemeinsamen Verantwortung der Sowjetunion und Nazideutschlands für den Zweiten Weltkrieg abzustützen.

Eine besonders krasse Form dieser Propaganda stellt die Resolution des EU-Parlaments vom 19. September 2019 dar, in der rechtsextreme, konservative, liberale und zum Teil auch sozialdemokratische Abgeordnete diesen Vorwurf gegen die Sowjetunion hoffähig machten. Sie blendeten damit wesentliche Entwicklungen vor dem Zweiten Weltkrieg aus, so etwa das Münchner Abkommen, mit dem Frankreich und Großbritannien Nazideutschland gestatteten, in die Tschechoslowakei einzufallen. Ebenso erfolgt kein Wort über die an Wohlwollen grenzende Gleichgültigkeit westlicher Mächte über den Zusammenbruch der spanischen Republik, der mit der Unterstützung Hitlerdeutschlands erfolgte.

Die Resolution des EU-Parlaments entlastet den deutschen Faschismus in seiner Kriegsschuld und revidiert so auch die Nürnberger Prozesse, die noch im Herbst 1945 begannen. Dort ging es um diese Anklagepunkte: Die angeklagten Nazi-Größen wurden mit vier Hauptvorwürfen konfrontiert. Auf der Liste ganz oben stand ‚Verschwörung gegen den Weltfrieden‘. Außerdem: ‚Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskrieges‘, ‚Verbrechen und Verstöße gegen das Kriegsrecht‘ und ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ (12). Derartige Vorwürfe erhoben die Richter damals gegen keinen anderen Staat.

Das internationale Klima erweist sich angesichts dieser ungeheuerlichen Geschichtsumkehr, angesichts der Hochrüstung, angesichts des Bruchs der Vereinbarungen des Westens mit Michail Gorbatschow und angesichts der Gefahren, die sich aus der Klima- und Umweltkrise ergeben, als so fragil, dass es eine Verpflichtung für die Bewältigung der weltweiten Aufgaben der Menschheit ist, die Vorschläge Wladimir Putins aufzugreifen, solange das überhaupt noch geht. Der Frieden ist nicht alles, sagte Willy Brandt, aber ohne den Frieden ist alles nichts.

Den NATO-Strategen und allen Militärs, die von der Erfüllung ihres Berufes träumen, ist zu sagen: Kriege enden heute nicht im Frieden. Und im 21. Jahrhundert ist jeder Krieg unter Beteiligung der Großmächte ein Szenario, das in einem Weltuntergang zu enden droht. Deshalb ist nur eine Politik im Sinne der Worte Sithu U Thants überhaupt noch zu verantworten. Die Menschen unserer Zeit stehen vor der Aufgabe, das einzufordern und durchzusetzen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.nzz.ch/heisse_tage_im_oktober_1962-1.1840279
(2) https://www.zdf.de/nachrichten/heute/100-sekunden-vor-mitternacht--weltuntergangsuhr--tickt-weiter-100.html
(3) https://www.1000dokumente.de/index.html/index.html?c=dokument_de&dokument=0073_gwa&object=translation
(4) https://www.faz.net/aktuell/politik/ost-erweiterung-der-nato-was-versprach-genscher-12902411.html
(5) ebenda
(6) https://www.nzz.ch/putins-rede-an-die-welt-1.18268565
(7) https://www.youtube.com/watch?v=NY1rz6jET84
(8), (9) und (10)ebenda
(11) https://www.welt.de/politik/ausland/article205287363/Yad-Vashem-Putin-Meister-des-hybriden-Umgangs-mit-der-Wahrheit.html
(12) https://www.br.de/franken/inhalt/zeitgeschichte/nuernberger-prozesse-angeklagten100.html