Der vergessene Lehrmeister
Die Lehren Mahatma Gandhis erweisen sich in der Coronakrise als zeitlos und können helfen, uns aus einer Situation der Unterdrückung zu befreien.
Mahatma Gandhi war ein Querdenker, lange bevor dieser Begriff populär wurde. Er galt als erleuchtete Seele, als weiser Mann, der es wie fast kein Zweiter verstand, friedlich Widerstand zu leisten. Es ist mehr als lohnend, im Corona-Jahr 2021 nochmals einen Blick auf die Lehren Gandhis zu werfen. Was seinerzeit Indien und natürlich auch andere britische Kolonien betraf, erstreckt sich nun — wenn auch in einem anderen Gewand — auf nahezu die gesamte Menschheit: Unterdrückung! Umgekehrt gilt: Was damals in Indien möglich war, kann auch heute wieder geschehen — weltweit! Viele Widerstandsbewegungen laufen Gefahr, sich in den Sackgassen eines gegen etwas gerichteten Kampfes zu verlieren. All jene, die sich in diesen Tagen für Freiheit und Menschenwürde einsetzen, tun deshalb gut daran, sich in ihrem widerständigen Bestreben an den Lehren Gandhis neu zu orientieren.
„Maha Atman“ — die große Seele
Mahatma Gandhi ist durch die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen sowohl als Mahner als auch als Vorbild für strikte Gewaltlosigkeit wieder in die Aufmerksamkeit gerückt. Viele haben dabei bemerkt, dass allein der Anblick dieses außerordentlichen Menschen eine Art Freude und Zuversicht spendet. Dieses Gesicht berührt wohl jeden Menschen. Natürlich gibt es Unterschiede, wie sehr diese Berührung zu Bewusstsein kommt und was sie auslöst. Von Winston Churchill ist seine Abneigung gegen den „aufrührerischen Fakir“ bekannt, der es wagte, „halb nackt“ mit den Kolonialherren zu verhandeln.
Mit der Betrachtung seiner Person, seiner Rolle und den Umständen seiner Wirksamkeit möchte ich in diesem Text ausgewählte Aspekte herausarbeiten, die wir in die Gegenwart übertragen können.
Was tat Gandhi? Es ist wohl tatsächlich sehr wesentlich ihm zu verdanken, dass die Kolonialherrschaft Englands über Indien so schnell und relativ unblutig endete. Der gewaltlose Widerstand und seine moralische und ethische Überlegenheit gegenüber Gewalt spielten dabei eine zentrale Rolle. Gandhi nahm sich die Freiheit — man kann auch sagen, er hatte den enormen Mut —, den anderen, den Gegner, ebenso wie sich selbst als Menschen zu betrachten. Mahatma Gandhi setzte in diesem Sinn nicht auf Kampf, sondern auf Entwicklung — und zwar primär auf spirituelle Entwicklung.
„Du und ich: Wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.“
Um dies zu verdeutlichen, möchte ich hier eine Aussage Gandhis als zentralen Satz herausgreifen: „Du und ich: Wir sind eins. Ich kann dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.“ Damit formulierte er eine tiefe Sicht auf das, was die indische Philosophie und Spiritualität als Selbst, als Seele, als Atman bezeichnet. Der Gandhi verliehene Ehrentitel „Mahatma“ bedeutet Maha Atman, Große Seele, im Sinne dessen, was man vielleicht als Erleuchtung, als eine Stufe der spirituellen Verwirklichung bezeichnen kann.
Gandhi betrachtete die Behandlung der Inder durch die Engländer als Verletzung eines universalen Gesetzes. Dieses besagt, dass der Mensch durch seine Seele nicht rein irdisch-materiellen, sondern höheren Zielen geweiht ist.
Diese immanente Göttlichkeit des Menschen könnte man als einen Kernaspekt der Würde bezeichnen. Gandhi empfand — um es unseren Termini anzunähern — durch die Herrschaft der Engländer über die Inder die Würde verletzt. Die Würde ist nicht materiell, sie beschreibt einen universellen und universalen Wert.
Im herkömmlichen Verständnis würden wir diagnostizieren, dass die Kolonialmacht dem beherrschten Volk durch Steuern, durch Unterdrückung, dadurch, dass der Mensch zum Objekt degradiert wird, und so weiter die Würde raubt. Daraus ergibt sich das Recht der Unterdrückten, für die Würde zu kämpfen und die Unterdrücker in die Schranken zu weisen.
Eine ähnliche Argumentation verfolgt Amerika, wenn es sich als Bote von Freiheit und Demokratie geriert; im Grunde sollen jedoch eigene, egoistische und jegliche seelische Wirklichkeit negierende Ziele durchgesetzt werden. Amerika tritt moralisierend auf und kompensiert; es exportiert damit im Grunde das eigene Leid des Lebenssinnverlustes, das eines zu einseitig materialistischen Menschenbildes. Der Unterschied zwischen solchen moralisierenden Forderungen und wirklicher Moral ist aber nicht nur groß — es besteht sogar ein diametrales Verhältnis.
Gandhi aber dachte tiefer, er drang tiefer in die spirituellen Dimensionen des Menschseins vor. Er erkannte, dass jener, der andere entwürdigt, damit unumgänglich vor allem sich selbst entwürdigt. Der Unterdrücker definiert primär sich selbst nicht als Mensch im tieferen, wirklich moralischen Sinn.
Derjenige, der anderen nicht auf Augenhöhe, nicht als Mensch unter Menschen begegnet, macht dies darum, weil er selbst wesentliche Aspekte des Menschseins verloren hat.
Er projiziert eigentlich seine eigene seelische Verlorenheit, seinen grundlegenden Irrtum oder auch seine Unfähigkeit auf andere. Weil man aber durch sein Menschsein mit allen Menschen verbunden ist, besteht daher die — seelisch-spirituelle — Pflicht, diese hohen Aspekte des Menscheins menschlich und moralisch aufzurichten.
Unterlässt man dies, setzt man einen Teufelskreis der Anti-Entwicklung in Gang.
Gandhi richtete seinen Kampf nicht gegen Menschen, sondern zu einem höheren Ideal
Der Kampf im Sinne Gandhis ist damit nicht gegen Menschen gerichtet, er richtet sich auf ein gemeinsames, höheres Ideal. Würde man sich aus Gründen wie Angst der Unterdrückung fügen, so würde man dem „Bruder“ damit zugestehen, sich in seiner Würde noch mehr zu beschädigen.
Hätten die Inder die Kolonialmacht weiter hingenommen, hätten sie im spirituell-menschlichen Sinn nicht nur sich selbst, sondern auch den Engländern die Möglichkeit zu einer besseren, würdigeren Stellung verwehrt.
Umgekehrt schwächt eine aggressive Auflehnung gegen Missstände die Umsetzung des angestrebten Ideals noch mehr. Der eigentliche Kampf ist kein äußerer Kampf, sondern ein Kampf um die Entwicklung eines Idealbilds.
So gedacht liegt das Ziel darin, die Schwächen des Gegners in sich selbst zu überwinden und die vom Gegner unentwickelte Idealvorstellung umso mehr selbst zu erringen.
Zu dieser eigenen Entwicklung ist man frei und — von seelischer Warte aus gesehen — auch verpflichtet.
Das Streben nach einem höheren Ideal kann nur dann authentisch von anderen gefordert und schließlich Wirklichkeit werden, wenn es mit bester Bemühung dort, wo man selbst die größten Möglichkeiten und die größte Verantwortung hat, nämlich bei sich selbst, bestmöglich gefördert und entwickelt wird. Auf diese Weise wird eine spirituelle Bemühung sozial und gesellschaftlich wirksam. Die Politik wird gewissermaßen mit den Forderungen der seelisch-geistigen Entwicklung synchronisiert. Daraus ergab sich — zumindest in Indien — der Erfolg. Die Freiheit, welche Indien unter Mahatma Gandhi vom irrtümlichen Glauben der wertenden Trennung zwischen Menschen errang, drückte sich darin aus, dass eine spirituelle Unmöglichkeit, die sich als unmoralisches und unethisches Kolonialwesen manifestierte, nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Gandhis Wirkung und seine Zeitgenossen
Gandhi war zwar das Gesicht des friedlichen Freiheitskampfes, aber er führte diesen vor dem Hintergrund eines dem Zeitgeist entsprechend größeren spirituellen Interesses. Viele Menschen dieser Zeit bewegte ein Bedürfnis nach Entwicklung und Spiritualität. Die ungerechte, gewaltvolle Haltung der Engländer als Reaktion auf Gandhis „Salzmarsch“ wurde auf der ganzen Welt wahrgenommen und abgelehnt. Sie wurde von einer öffentlichen Mehrheit abgelehnt, weil eine differenzierte Wahrnehmung für richtig und falsch bestand. In anderen Worten ausgedrückt könnte man sagen, Entwicklungsnotwendigkeit und Entwicklungshemmnisse der Zeit wurden wahrgenommen.
Andere große spirituelle Bemühungen, die verborgener, aber vielleicht sogar kraftvoller und konzentrierter als Gandhis populäres und bekannteres Wirken waren, möchte ich daher ebenfalls erwähnen. Sri Aurobindo entwarf den „Integralen Yoga“ und damit ein Konzept zur Transformation des Menschen. Auch er verkörperte ein großartiges Ideal des Menschseins und auch er sah in der Kolonialpolitik Englands einen Widerspruch zu den Forderungen der Entwicklung des „Supramentals“, der seelisch-geistigen Verwirklichung des Menschen. Am gesamten politischen Weltgeschehen nahm er intensivst Anteil. Swami Sivananda war ein weiterer Yogameister und Geistlehrer mit großer internationaler Ausstrahlung. Zeitgleich wirkte Ramana Maharshi in Tiruvannamalai, nahe Madras.
Originäre spirituelle Impulse sind mir in Europa durch den großartigen Arzt und Heiler Edward Bach, dem Begründer der Bach-Blüten-Therapie (1), und durch Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, bekannt. Stellt man sich vor, die Heilansätze Edward Bachs und die im Buch „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ dargelegte Idee der sozialen Dreigliederung (2) wären so erfolgreich gewesen wie der Freiheitskampf Gandhis, wäre eine Corona-Epidemie gänzlich unvorstellbar.
Was unterscheidet das damalige Indien vom heutigen Europa?
Gerade die Tatsache, dass spirituelle Impulse in Europa bekämpft werden, hat dazu geführt, dass der Materialismus allbestimmend geworden ist. Es bestehen jedoch Kenntnisse über die wirklichen Bedürfnisse der Entwicklung sowohl des individuellen Menschen als auch der Gesellschaft. Rudolf Steiner zum Beispiel gelang das Meisterwerk, die Ideale der französischen Revolution — Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit —, die mit der Überwindung monarchischer und klerikaler Strukturen durchaus als universale und universelle Ideale zur Geburt gebracht wurden, zeitgemäß und konkret zu formulieren. Ausgehend von den Entwicklungs- und Ordnungsbedürfnissen des Menschen in spiritueller Hinsicht wies er die Freiheit dem Kultur- und Geistesleben, die Gleichheit dem Rechtsleben und die — nach Gender-Sprachgebrauch — „Geschwisterlichkeit“ dem Wirtschaftsleben zu.
Die Krise der Gegenwart liegt in der Verbindlichkeit des Materialismus
Die Krise der Gegenwart zeigt sich für mich in der Absicht, den Menschen auf den physischen Körper zu reduzieren und damit den Materialismus allgemeingültig und umfänglich verbindlich zu machen. Dieser Zweck scheint mir gleichzeitig die Ursache der Krise zu sein: Weil eine spirituelle Impulsierung fehlt, werden große und zentrale Irrtümer über Welt, Mensch und Leben zentral und bestimmend. Der Mensch verliert sich dabei selbst. Wird die Forderung der Entwicklung negiert, beginnt der Mensch, wie Rudolf Steiner sagte, „gegen sich selbst zu wüten“.
Anders als in Indien zur Zeit Gandhis gibt es heute mit Corona keine konkrete, äußere Besatzungsmacht. Die Besetzung ist weit mehr nach innen, in die menschliche, eigentlich die entmenschlichte, Selbstwahrnehmung verlagert.
Daher wird ein Kampf gegen äußere Umstände meiner Einschätzung nach nicht unbedingt wirksam werden.
Viele engagierte Menschen stehen vor dem Phänomen oder Rätsel, warum rationale und beste Argumente, die hervorragenden Bemühungen um Aufklärung nicht wahrgenommen, aufgenommen und wirksam werden. Die auffällig einseitige Übereinstimmung in der Berichterstattung der Medien in dieser Hinsicht würde ich sowohl als Symptom als auch als Verstärkung der Ursache bewerten. Der Kampf „gegen das System“ wird nur sehr schwer positiv zu gestalten sein, weil dessen Narrative wie in den Menschen eingesickert sind. Andererseits — und dies scheint mir bedeutsam — sind die äußeren Umstände in dieser Hinsicht mehr wie ein Spiegelbild der inneren Verhältnisse zu werten. Sie drücken die Verlorenheit des Menschen aus, der keine substanziellen Erkenntnisse über das Leben erringt und keine Entwicklungsmöglichkeiten in seelisch-geistiger Hinsicht sieht.
Synthese von Spiritualität und Welt heute: Heinz Grill
Heinz Grill, der sein Leben der zeitgemäßen Synthese der Spiritualität von Ost und West, von Materie und Geist, von Individuum und Sozialität widmet, hat aus seiner Sichtweise auch einige — mir sehr zentral erscheinende — Aufsätze und Interviews zum Themenkreis Corona veröffentlicht (3).
Eine wichtige Aussage leitet er aus dem Wort „demonstrieren“ im Sinne von „darlegen, anschaulich vorführen“ ab. Seiner Einschätzung nach könnten die Demonstrationen und Bemühungen gegen die Corona-Maßnahmen dann wirksam und erfolgreich sein, wenn dabei konstruktive, spirituell oder kulturell hochwertige Inhalte geschaffen werden. Diese Ideale würden das Interesse des Erzengels erwecken.
Dieser Begriff des Erzengels stellt für manchen Leser möglicherweise eine gewisse Schwierigkeit dar, weil er mit den darüber bestehenden, eigenen Vorstellungen besetzt ist. So stolpert man darüber, wenn man eine kirchliche oder esoterische Deutung damit verbindet und eine solche mit klarer Ratio und Logik nur schwer in Übereinstimmung zu bringen vermag. Ergründet man den Begriff dieses „Himmelsboten“ aber im Sinne der Aussage, so ist damit eine durchaus konkrete Instanz bezeichnet, die sich allerdings tatsächlich auf einen übersinnlichen, also seelisch-geistigen Bereich bezieht.
Geht man von einem moralischen oder ethischen Entwicklungswunsch sowohl des Individuums als auch einer Kultur aus, so handelt es sich dabei ebenfalls um eine seelisch-geistige Dimension des Menschseins. Auch der Begriff der Würde kann genau genommen nur auf dieser Ebene einer Idee, eines menschlichen Ideals erfasst werden. Die Würde muss daher sowohl universal, also für jeden zutreffend, als auch universell, also nicht rein materiell definierbar, sondern eben seelisch-geistig, als tiefere menschliche Seinsebene gedacht werden.
Dem Begriff des Erzengels kann man sich daher sehr gut annähern, wenn man sich vorstellt, wie die gegenwärtige Krise tatsächlich zu einer Entwicklung auffordert, bei der das Individuum eben beispielsweise im Hinblick auf die Wirtschaft nicht nur zurück zur bisherigen Normalität und eigenen Sicherheit, sondern im Sinne der Dreigliederung Rudolf Steiners zu einer wirklichen Brüderlichkeit fortschreiten möchte. Das ist nicht nur ein individueller Wunsch, sondern eine buchstäbliche Notwendigkeit der Zeit und ganzer Völker. Dieses wartende Ideal, diese kosmisch-menschliche Möglichkeit und Hoffnung der Entwicklung zu einer ganzheitlicheren, ich möchte fast sagen: heileren Kultur kann man sich als die Dimension des Erzengels vorstellen.
„Den Erzengel interessiert das Werden einer wirklichen Kultur, eines Inhaltes für die Seele, die sich nicht nur zum persönlichen Heilwerden des Einzelnen ausspricht, sondern zum Wohl eines Ganzen. Die individuelle Natur des Menschen soll durch einen seelischen Reichtum zur Erhebung und Beglückung einer ganzen Gruppe, Nation oder Zeitepoche werden. (...) Diesen Himmelsboten, der eine Führerschaft über die Menschheit ausdrückt und fördert, bewegen alle praktischen, spirituellen, wahrheitsgetreuen und polaritätsfreien Inhalte, und er nimmt sie wie mit Flügeln auf, die er über die Menschheit hinüberschwingt“ (4).
Diese Aussagen machten für mich das durch Gandhi in Indien wirksam gewordene Prinzip gedanklich greifbar. Ich erkenne darin, dass der grundlegende Ansatz zum Widerstand gegen einen Missstand mit den spirituellen Entwicklungsbedürfnissen der Zeit und Kultur übereinstimmen muss. Für einen Erfolg ist es unabdingbar, Entwicklungsimpulse zur Wirksamkeit zu bringen.
Ähnlich also, wie Gandhi seine Handlungen zur Befreiung Indiens gemäß den spirituellen Bedürfnissen und Notwendigkeiten ansetzte, kann auch innerhalb der Coronakrise, welche ja unübersehbar eine Entwicklungskrise von erheblichem Ausmaß darstellt, ein universales und universelles Ideal den Kern der Bemühung bilden.
Demonstrieren: individuell und exemplarisch Entwicklung verwirklichen
Als praktischen, individuellen Ansatz, um die Aufforderung zu mehr Freiheit und Schöpferkraft positiv gestalten zu lernen, möchte ich abschließend eine sogenannte Seelenübung vorstellen, welche Heinz Grill unter der Bezeichnung „Das rechte Urteil“ beschrieben hat (5). Sie scheint mir sehr geeignet, um innerhalb der gegenwärtigen Anforderungen und auch der Fülle an Informationen mehr zu einer Zentrierung bei sich selbst zu gelangen und eigene Empfindungen zu anderen, auch zu feindlich erscheinenden Menschen zu fördern.
Beim rechten Urteil geht es im Kern darum, eine andere Person in den Mittelpunkt einer ruhigen, beobachtenden Wahrnehmung zu stellen und diese Wahrnehmung mit einer konkreten Fragestellung nach bestimmten Kriterien zu verbinden. Diese Kriterien kann man sich selbst schaffen, was für sich schon ein anspruchsvoller und ungewöhnlicher Prozess ist. Man kann sich die Frage stellen, wie es sich in einer Person oder auch Sache mit den Werten des Schönen, Wahren und Guten, wie es sich mit der Authentizität verhält et cetera. Allein diese Bemühung um geeignete Kriterien zu einer objektivierenden Sichtweise regt die Fantasie und Aufmerksamkeit schon sehr stark an.
Von der gewöhnlichen Begegnung mit einem Menschen unterscheidet sich ein solches Vorgehen dadurch, dass man nicht in einen kommunikativen oder körperlichen Austausch tritt, sondern mit größtmöglicher Aufmerksamkeit aus einer gewissen Distanz auf den Menschen blickt. Durch die ruhige, fragende und beobachtende Haltung eröffnet man dem Gegenüber einen Raum, sich selbst „auszusprechen“. Auf diese Weise, wenn eigene Urteile, Emotionen und Willensimpulse zurückgehalten werden, kann man objektivere Eindrücke vom Gegenüber gewinnen (6).
Dieses Vorgehen kann erstaunliche positive Wirkungen im zwischenmenschlichen Bereich hervorbringen. Es wirkt nicht nur auf den Betrachtenden ordnend, sondern es hat auch eine befreiende Wirkung auf das Objekt beziehungsweise Subjekt der Betrachtung.
Es ist ein sehr gutes Instrument, um die eigentlich tragenden Motive und Bezüge eines Menschen aus einem durch Emotionen, Mediensuggestionen, Lügen oder Projektionen — verwenden wir ganz allgemein den Begriff des Wesens — fremdbestimmten Bild herauszuarbeiten. Anwendbar ist dies im eigenen Beziehungsgeflecht, aber genauso im Bereich von Persönlichkeiten und Ereignissen im öffentlichen Leben.
Man gewinnt auf diese Weise ein besseres Verständnis für den anderen Menschen und dessen Motive. Ebenso kann man mit dieser Übung eine bessere Unterscheidung zwischen anhaftenden Ängsten, Traumen und Projektionen und dem eigentlichen individuellen Persönlichkeitskern treffen.
Wie Heinz Grill darlegt, verlieren destruktive Wesen an zerstörerischer Wirksamkeit, wenn sie im tieferen, wahrhaftigen Sinn bewusst erkannt werden. „Eine reife Urteilsbildung des Individuums kann in jedem Falle die Friedenspolitik fördern“, schreibt Heinz Grill, der das Konzept der „Übungen für die Seele“ entwickelt hat, in einem Aufsatz aus dem Jahr 2017 im Hinblick auf Vladimir Putin und das deutsche Verhältnis zu Russland (7). Auch dieser Aufsatz ist gerade im Hinblick auf die gegenwärtigen Ereignisse um Alexej Nawalny sehr aktuell und interessant.
Gandhi, Quelle: WikiCommons
Salzmarsch: Am 12. März 1930 brach Gandhi von seinem Wohnort zum knapp 400 km entfernten Dandi am arabischen Meer auf. Dort hob er als Symbolhandlung einige Körner Salz auf, um damit gegen das britische Salzmonopol zu demonstrieren. In der Folge wurden etwa 50.000 Inder verhaftet, Quelle: WikiCommons
Heinz Grill („Die Kunst des Demonstrierens“) im Interview mit Martin Sinzinger, Quelle: Martin Sinzinger.
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Edward Bach, Martin Sinzinger: Bachblüten — Blumen, die durch die Seele heilen. Die Bachblüten als bewusstes Gegenüber, stw-Verlag, 2020
(2) Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage, Rudolf-Steiner-Verlag, 2014
Rudolf Steiner: Wirtschaft — Ideen zur Neugestaltung, Verlag Freies Geistesleben, 2011
Prof. Dr. Christian Kreiß und Heinz Grill: Gesundes Wirtschaften, Tagungsmitschnitt vom 3. Oktober 2020, https://www.youtube.com/watch?v=t8ZGEgy9lT0
(3) Homepage von Heinz Grill, www.heinz-grill.de
(4) Heinz Grill im Interview mit Martin Sinzinger: Die Wirksamkeit des Erzengels, 9. Juli 2020,
https://spiritualität-im-öffentlichen-dialog.eu/2021/01/31/interview/
(5) Heinz Grill: Übungen für die Seele, Synergia-Verlag, 2017
(6) Beispiel für die Erarbeitung eines „rechten Urteils“: Heinz Grill im Interview mit Stephan Wunderlich: Wie Angela Merkel den Bürgerkrieg provoziert, 7. Februar 2021, https://www.youtube.com/watch?v=q4XciJ8GaEw
(7) Heinz Grill: Deutschland und Putin, Aufsatz vom 3. Dezember 2017, veröffentlicht unter www.heinz-grill.de