Der verarmte Diskurs

Die Erzeugnisse der „Leitmedien“ wirken zunehmend wie aus einem Guss — diese Eindimensionalität gefährdet mittlerweile die Demokratie.

„Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten — wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten —, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit“, so George Orwell in „1984“. Diversität sucht man in der Leitmedienlandschaft vergebens. Immer mehr Zeitungen finden sich in den Händen weniger und einflussreicher Medienunternehmen wieder. Entsprechend eintönig lesen sich die Artikel, die augenscheinlich der gleichen Textbaustein-Schmiede entstammen. Das Problem dabei ist nicht nur die mediale Ödnis, die entsteht, wenn von der Nordsee bis zu den Alpen alle Zeitungen im Gleichklang publizieren; auch der für eine Demokratie so notwendige, facettenreiche und vielseitige Diskurs geht verloren. Das birgt eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Statt also nur über die Medieninhalte zu sprechen, müssen wir wieder damit anfangen, eine Debatte über Medienkonzentration zu führen. Ein Kommentar von Michael Meyen, Autor des Spiegel-Bestsellers „Die Propaganda-Matrix“.

Die Achtundsechziger haben es noch gewusst. Wir müssen uns um die Medien kümmern, um die Presse vor allem und um die, denen die Zeitungen gehören. Enteignet Springer! Bild hat mitgeschossen! Die Fotos von damals wirken heute wie aus der Zeit gefallen. Feuer im Westberliner Springer-Hochhaus. Demos auch in Hamburg, München, Stuttgart, Frankfurt. Wasserwerfer, Gummiknüppel, Polizeiketten. Es ging um die Schüsse auf Rudi Dutschke, natürlich, und um die Frage nach den geistigen Brandstiftern. Wut, die sich im April 1968 auf den Straßen entlud.

Da war aber mehr. Goebbels, der Stürmer, der Völkische Beobachter: Das ist in diesen Ostertagen noch nicht einmal 30 Jahre her. Auf einem der Plakate sieht man eine Formel. Judenmord. Studentenmord.

Das kollektive Gedächtnis weiß noch, was eine Presse anrichten kann, die im Gleichschritt marschiert.

Pressekonzentration ist ein Thema für die Linken. Man diskutiert über demokratische Kontrolle der Meinungsmaschinen, über Informationsmonopole, über Redaktionsstatute. Wenn man den Verlegern ihre Goldesel schon nicht wegnehmen kann, dann sollen die Journalisten wenigstens schreiben dürfen, was sie für richtig halten — ohne am nächsten Tag gleich vor die Tür gesetzt werden zu können.

Vorbei. Wir stärken den „Medienstandort Ostbayern“, schreibt die Passauer Neue Presse vor ein paar Tagen und verkündet stolz, dass nun auch die Mittelbayerische Zeitung in Regensburg zum Verlag gehört. Von Protesten keine Spur. Niemand ist mit Fackeln vor das „Medienzentrum“ in Passau gezogen, niemand hat sich vor die Autos gelegt, die die Zeitungen aufs Land bringen, niemand hat eine Redaktionstür eingetreten. Wobei: Selbst wenn so etwas passiert wäre, hätten wir es vermutlich nicht erfahren. Der Verlagsgruppe Passau gehört seit 2016 auch der Donaukurier in Ingolstadt.

Der Verlagsgruppe Passau gehören fast alle Anzeigenblätter, die zwischen Eichstätt und Bad Reichenhall verteilt werden. Der Verlagsgruppe Passau gehören viele der Webseiten, die sich mit der Region beschäftigen. Und die Verlagsgruppe Passau hat ihre Finger auch im Lokalfunk. Galaxy und Unser Radio, in Passau und in Deggendorf. Es gibt niemanden mehr, der uns berichten dürfte, dass die Passauer Neue Presse gestürmt wurde. Das ist ein bisschen wie im Märchen vom gestiefelten Kater. Wohin man auch schaut: Alles gehört dem Herrn Grafen.

Wer sich heute wundert über den Einheitsbrei, der uns auf allen Kanälen beschallt, hat hier eine erste Antwort. Wir überlassen den Auftrag Öffentlichkeit Unternehmen, die unsere Brieftasche sehen und sonst nichts und die Vielfalt schon deshalb bekämpfen müssen, weil jeder Konkurrent den Gewinn schmälert. Wachstum, hat Simone Tucci-Diekmann gesagt, die Verlegerin der Passauer Neuen Presse, als sie vor Jahren nach ihren Zielen gefragt wurde. Heute sagt sie, dass der Kauf der Mittelbayerischen Zeitung ein logischer Schritt sei und die „perfekte Ergänzung“ zu allem, was ihr Haus sonst so tue. Werbekunden könne man nun ein „noch zielgenaueres, Regionen übergreifendes Angebot“ machen. Im Klartext: Wenn jemand den Menschen in Ostbayern etwas mitteilen oder verkaufen möchte, dann muss er zu ihr kommen, zu Simone Tucci-Diekmann. Aus dem gestiefelten Kater ist in diesem Landstrich eine Katze geworden.

Passau ist überall

Ich würde hier nicht über Passau schreiben, über Regensburg und Ingolstadt, wenn dieser Deal hinter den sieben Bergen nicht symptomatisch wäre für das, was sich in der deutschen Tagespresse gerade abspielt. Groß frisst klein. Wahlweise frisst klein auch noch kleiner und wird dadurch ein bisschen größer.

Axel Springer, das Schreckgespenst von Achtundsechzig, ist dabei längst Geschichte und selbst die Bildzeitung nur noch ein Schatten ihrer selbst. Heute kann Julian Reichelt, der Chefredakteur, über die Coronapolitik wettern oder seine besten Leute #allesdichtmachen feiern lassen — und die Karawane zieht trotzdem einfach weiter.

Springer hat all seine Anteile an regionalen Abozeitungen verkauft. Ein bisschen Boulevard, ein bisschen TV (BILD Live), ein bisschen große Politik. That‘s it. Die Welt, das einstige Flaggschiff des Konzerns, ist ein Kahn kurz vor dem Untergang. Auflage 2016: knapp 200.000 Exemplare. 2020: rund 85.000.

Die Musik spielt heute woanders, in der Südwestdeutschen Medienholding zum Beispiel, bei einem Ungeheuer, das so viele Arme hat, dass allein die Aufzählung aller Namen den Rubikon zum Überlaufen bringen würde. Süddeutsche Zeitung, die Blätter in Stuttgart, die Rheinpfalz in Ludwigshafen, dazu etliche Titel im Osten. Dahinter wachsen Unternehmen, die vor zehn Jahren niemand auf dem Schirm hatte, wenn es um die Meinungsmacht im Land ging. Ippen, Funke, Madsack, Augsburger Allgemeine, Neue Osnabrücker Zeitung. Man muss schon Insider sein oder Experte, um die Raubtiere zu kennen, die nun schauen werden, was da im Osten Bayerns gerade aus dem Schatten kriecht. Wer weiß, wen es als nächstes trifft.

Sicher ist nur, dass es jemanden trifft. Der Anzeigenmarkt ist 2020 so stark eingebrochen wie lange nicht, trotz der Regierungskampagnen, die uns einhämmern wollten, zu Hause zu bleiben und uns spritzen zu lassen. Die Zahlen für die Tagespresse: 2019 rund 2,08 Milliarden Euro Werbeeinnahmen, 2020 rund 1,71 Milliarden Euro. Das ist allein bei den Anzeigen ein Minus von 370 Millionen Euro. Auch die Auflagen sinken weiter. 2020: 12,5 Millionen Exemplare und damit eine Million weniger als 2019.

Medienfinanzierung

Ich weiß schon: Zu viele Zahlen verderben den Brei. Zu viele Namen sowieso. Pressekonzentration, mein Gott. Lass uns lieber über den Leitartikel von diesem Typ da meckern oder über den Demobericht von neulich. Können wir machen, klar. Das eine hängt aber mit dem anderen zusammen. Wer sich Wachstum auf die Fahnen schreibt wie Simone Tucci-Diekmann in Passau, der ist erpressbar — erst recht, wenn er sieht, dass es eigentlich an allen Ecken schrumpft. Der Gesundheitsminister mit seinen vielen Anzeigen, die ganze Seiten füllen, ist dabei nur das, was jeder sofort sieht. Die Verlage hängen nicht nur von den Märkten auf der grünen Wiese ab, sondern noch mehr vom Staat. Und: Die Politik weiß das und kauft sich einen Journalismus, der im Gleichschritt mit den Entscheidern marschiert.

2020 ist in Deutschland (fast) das Tabu Pressesubvention gefallen. 220 Millionen Euro, die im Sommer ohne große Debatte in einem Nachtragshaushalt des Bundes auftauchten und größtenteils noch 2021 ausgezahlt werden sollten, gekoppelt an die Auflage. Je größer die Zeitung, desto mehr Geld. Dieser Plan ist zwar im April 2021 gestorben, das wichtigste Gegenargument war aber nicht Staatsferne, sondern Wettbewerbsverzerrung. Die Online-Plattform Krautreporter hatte mit dem Gericht gedroht, wenn nur Printverlage gefördert werden — unter dem Deckmantel digitale Transformation —, und sich auch nicht damit abfinden wollen, die 220 Millionen Euro zu Corona-Soforthilfen umzuwidmen.

Ganz unabhängig von diesem Ausgang: Simone Tucci-Diekmann und ihre Kollegen wissen spätestens jetzt, wer sie im Zweifel retten wird. Wahrscheinlich wissen sie das viel besser als wir. Das Land Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat im Sommer 2020 zwei Millionen Euro aus einem „Corona-Schutzfonds“ an die drei Tageszeitungsverlage im Land überwiesen, für Digital-Abos an den Schulen. Glücklich die 13-Jährige, die jetzt endlich die Schweriner Volkszeitung oder den Nordkurier online lesen darf.

Der Pressekodex, sicher. Das habe ich fast vergessen. Ziffer 7 ist da eindeutig. Verleger und Redakteure „achten auf eine klare Trennung zwischen redaktionellem Text und Veröffentlichungen zu werblichen Zwecken“ und wehren alle Versuche ab, die Journalistinnen und Journalisten zu beeinflussen. Falls jemand die Geschichte vom gestiefelten Kater neu auflegen mag: Hier wäre der Stoff für ein weiteres Märchen.

Innere Pressefreiheit

Kurz vor Corona habe ich Maria interviewt, eine Politikjournalistin, die lieber anonym bleiben wollte, weil sie sich auch nach 30 Jahren Betriebszugehörigkeit nicht sicher fühlt, wenn sie ihren Verlag kritisiert. O-Ton Maria:

„Ob ich den Journalismus machen kann, den ich mir wünsche? Das geht nicht mehr ohne weiteres. Im Lokalen ist die Personaldecke sehr dünn. Das ist eine brutale Schufterei geworden. Überregional haben wir heute eine andere Form von Bevormundung, die der in der DDR ein wenig ähnelt. In der DDR gab es die Direktive vom Herausgeber. SED-Bezirksleitung, SED-Kreisleitung. Heute gibt es Druck von den Gesellschaftern. Wirtschaftliche Interessen, vermittelt durch die Geschäftsführung. Wir haben zum Beispiel einen Postvertrieb. Also berichten wir nicht gut über die Post. Wir haben kein Interesse, dass der Mindestlohn steigt. Dementsprechend berichten wir. So gibt es etliche Themen, die entweder tabuisiert oder in eine bestimmte Richtung gedrängt werden.“

Innere Pressefreiheit? Redaktionen, die mit möglichst allen Seiten sprechen und dann nach bestem Wissen und Gewissen das berichten, was sie bei ihren Recherchen erfahren haben? Das ist kein Märchen, sondern eher ein Wunschzettel für den Weihnachtsmann. Die Mittelbayerische Zeitung in Regensburg hat schon vor zehn Jahren die Tarifbindung gekappt, der Donaukurier in Ingolstadt noch ein wenig früher. Man kann sich das auf den Webseiten der Gewerkschaften anschauen, unter der Überschrift „Verlage auf der (Tarif)Flucht“. Die Liste ist kaum noch überschaubar. Für die Passauer Neue Presse, den neuen kleinen Riesen im Osten Bayerns, steht dort: „Neueinstellungen erfolgen deutlich unter den Redakteurstarifen. Die Redakteure arbeiten in fünf verschiedenen GmbHs.“ Je kleiner die Zahl der Beschäftigten, desto geringer die Chance auf Mitbestimmung.

Zentralisierung der Medien

Die Menschen in Regensburg müssen keine Angst haben. Sie werden weiter eine Mittelbayerische Zeitung im Kasten liegen haben, auch wenn viele Texte vielleicht schon bald aus Passau kommen. Man kennt das von den anderen Raubtieren: Wie die Zeitungen der Funke-Mediengruppe erfahren haben ... Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet ... Die Abkürzung RND steht für einen Riesenladen, der gut 200 Menschen beschäftigt und nicht nur die Madsack-Zeitungen beliefert wie Hannoversche Allgemeine, LVZ, Märkische Allgemeine, Lübecker Nachrichten, Ostsee-Zeitung. Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Reise, Mode und so weiter. Alles, was nicht an den Erscheinungsort gebunden ist. Das Versprechen, so Ressourcen für die Lokalberichterstattung zu gewinnen, wird schnell hohl, wenn man um die Ost-West-Unterschiede in der Sprache weiß oder um die Kraft regionaler Traditionen. Der Leserin der Leipziger Volkszeitung ist nicht wirklich geholfen mit Reportagen aus Schulen in Niedersachsen.

Und dem Diskurs im Land tut es nicht gut, wenn alle Stimmen aus der gleichen Textbaustein-Schmiede kommen.

Wir stärken den „Medienstandort Ostbayern“, schreibt die Passauer Neue Presse vor ein paar Tagen und meint eigentlich: Wir schwächen die demokratische Öffentlichkeit oder das, was davon noch übrig ist. Simone Tucci-Diekmann hat vollkommen Recht: Der Kauf der Mittelbayerischen Zeitung ist ein logischer Schritt. Mehr, immer mehr. So will es der Kapitalismus. Wir können unsere Medien ruhig weiter denen überlassen, für die Gewinnmaximierung alles ist und alles andere nichts. Dann sollten wir uns aber nicht wundern, wenn diese Medien den Staat heiraten und sich so den größten potenziellen Gegner lieber ins Bett holen, als weiter fürchten zu müssen, reguliert, zerschlagen, enteignet zu werden. Wie gesagt: Die Achtundsechziger haben das noch gewusst.