Der unterforderte Zuschauer
Die mediale Wissensvermittlung ist nicht daran interessiert, ein tieferes Verständnis zu vermitteln — sie will den Konsumenten mit seichter Kost überwältigen.
Kommunikationsmedien kommunizieren auf verschiedene Weise, jedoch nicht auf Augenhöhe. Die Rezipienten werden nicht mehr dazu angehalten, kraft ihrer eigenen Gedanken in einen Prozess des Verstehens zu kommen. Wissensvermittelnde Autoritäten trauen ihren Rezipienten nicht nur wenig zu, sie sehen sich regelrecht in der Verpflichtung, diese an die Hand zu nehmen und ihnen die Welt zu erklären. Der Zuschauer soll mit Bildern überwältigt werden, statt ihm die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild zu machen. Das ist nicht nur Ausdruck einer unverhohlenen Respektlosigkeit der Medienmacher gegenüber ihren Rezipienten, es kommt auch einer Entmündigung des Menschen gleich. So wird die angeblich geringe Auffassungsgabe, die Medienschaffende ihrem Publikum unterstellen, durch die anspruchslosen Stilmittel teilweise erst hervorgerufen. Zugleich fällt es leichter, Menschen mittels unterkomplexer Botschaften zu überwältigen.
Als ehemaliger Dozent im Bereich DAF (Deutsch als Fremdsprache) erinnere ich mich an eine Situation, in der ich Migranten die Vorsilbe „ver“ bei bestimmten Verben zu erklären versuchte. Meistens hat die Silbe ja eine negative Konnotation wie etwa bei verlieren, vergessen, verderben. In diesem Zusammenhang wies mich eine iranische Schülerin auf das Wort verstehen hin: was sei denn daran so negativ?
Irgendwie begegnete ich dem im Raum stehenden Widerspruch mit einem Bild: Verstehen bedeutet ein Stehen oder Stehenbleiben, das einerseits mit der Zeit verschwenderisch umgehe und deshalb negativ anmute; zum anderen aber ermögliche gerade dieser verzögernde Akt genau das, was man mit „verstehen“ meint — im Sinne eines Innehaltens, eines Auf-der-Stelle-Tretens, das sich der Maxime des unbeirrbaren Weitermachens und Weitergehens entgegenstellt. Wer etwas verstehen will, muss stehen bleiben. Etwas im Vorbeigehen wahrnehmen oder gar erhaschen, bedeutet noch lange nicht, es zu verstehen oder gar zu erkennen. Dazu braucht es Zeit, vielleicht auch ein bisschen von jenem Zustand, den man als aus der Welt gefallen bezeichnen könnte.
Der Philosoph Hans Blumenberg beschreibt und kommentiert in einem Essay eine berühmte Episode aus der Antike, die uns dazu etwas sagen könnte. Es ist die Episode von dem „Lachen der thrakischen Magd“. Diese bricht in ein Gelächter aus, als sie sieht, wie ein Philosoph beim Grübeln über ein mathematisches Problem vergisst, dass er unterwegs und eben in der Welt ist. So merkt er nicht, dass er sich einem Wasserloch nähert, in das er dann auch geradewegs hineinfällt, was in der Magd das besagte Lachen auslöst.
Blumenberg erkennt in der Episode zwei Formen von Weltaneignung: Die Magd steht für den normalen Menschenverstand und hält so die Welt im Gleichgewicht; der Philosoph hingegen überschreitet die Grenzen dieses Alltagswissens, was ihm spürbaren Ärger einbringt; aber ohne Menschen wie ihn würde Stillstand in der Welt eintreten. Er bewegt etwas, indem er sich aus den Motivketten des normalen Lebensvollzugs ausklingt.
Mehr noch aber interessiert sich Blumenberg an dieser Stelle für das Lachen der Magd: Wie ist dieses Lachen zu deuten? Höhnisch und abwertend oder eher verständlich aus der Komik der Situation heraus? Bricht es einfach und ohne Tücke aus ihr heraus oder sucht sie schon nach anderen Menschen, mit denen sie in einer Art verschwörerischer Kumpanei den Triumph des Normalen über das Unnormale abfeiern kann — das Normale hier gemeint als eine Art Verständigungsmodell, das das Nicht-Normale als das „Andere“ und letztlich Aussätzige qualifiziert? Und wie steht der Philosoph zur Magd? Zieht er sich in Folge des Ausgelacht-Werdens verletzt zurück, was dann auch sein weiteres Denken nachhaltig negativ beeinflussen könnte, oder kann er nach kurzem Schrecken gar einstimmen in ihr Lachen und damit in ein Lachen über sich selbst, was sein Denken nachhaltig positiv stimmen könnte.
Blumenberg plädiert letztlich für eine gegenseitige Rücksichtnahme. Der Magd wird das Lachen zugebilligt, wie dem Zuschauer das Lachen über Charlie Chaplin oder den sprichwörtlich gewordenen zerstreuten Professor, aber sie bezeugt auch Respekt vor dem, der nachdenkt über etwas, das sie direkt nicht versteht. Und der Philosoph akzeptiert seinerseits, dass der gesunde Menschenverstand eine Bedingung darstellt, ohne die er nicht langfristig überleben könnte. So begegnen sie sich trotz der Unterschiede in der intellektuellen Durchdringung der Welt auf Augenhöhe.
Ist es Zufall, dass gegen diesen Befund einer Differenz heute ein schrilles Veto erhoben wird, ja ein Aufschrei, gleichwohl mit Bedacht intoniert von einer Stimme ganz im Stile des Zeitgeists: Sollte sich nicht der Philosoph — fordert sie — darum bemühen, seine Erkenntnisse so zu erklären, dass sie der Magd verständlich werden?
Im Whirlpool eines assoziativ arbeitenden Hirns verdichtet sich diese scheinbar plausible Forderung zu einer Terra-X-Szene im Fernsehen: Ein wissenschaftlich gebildeter Journalist spielt darin eine heute sehr angesagte Rolle. Er spielt gegenüber dem Publikum den Staunenden und zugleich Erklärenden. Fast ein wenig wie Sokrates in den platonischen Dialogen. Es geht in diesem konkreten Fall um das Wirken von Masse und Energie im Kosmos. Offensichtlich gelingt es dem Kommunikator mit seiner Performance, den Zuschauer einzufangen oder, wie es heute heißt, an die Hand zu nehmen, mit Hilfe eines eindringlichen Blicks auf ihn und mehr noch eines wahren Bildspektakels im Hintergrund: vorschießende Leuchtpfeile, verlangsamte um sich selbst kreisende Kugeln, gekrümmte gitterartige Matten, zuletzt sogar alles in sich einspeisende schwarze Löcher — ein grandioses Spiel aus Bewegung und Farben. Es geht also. Aber was geht?
Die Frage ist, welche Kräfte, Intentionen und Formen der Rezeption sind hier im Spiel, um das „Werk“ des Verstehens als gelungen erscheinen zu lassen? Gelingt das Verstehen denn überhaupt, und will man es?
Die Sendung „Terra X“ ist bekanntlich sehr erfolgreich, ja sie ist mit ihren vielen Ablegern wie „Terra mater” und „Wunder der Erde” gar zu einem mit Drohnen und Unterwasserkameras bestückten Genre aufgestiegen.
Sie erinnert allerdings kaum an das, was oben als Verstehensprozess beschrieben wurde. Statt Innehalten und Ver-Stehen eher Suggestion, Überwältigung, Verblüffung, das dem Zuschauer entlockt wird kraft mächtiger Impulsgeber, vor allem der Bilder, die vorschießen in die Augen wie ein Flächenbombardement, das im Hirn keine Differenzen schafft oder gar eine reflektierende Distanz. Der zugleich sich inszenierende und beschreibend erklärende Mediator erinnert denn auch wenig an den Philosophen im obigen Beispiel. Als weltfremd erscheint er im Übrigen ganz und gar nicht, eher als eine Art Gesandter von oben, einer, der strategisch vorgeht und sich zugleich erfolgreich in den gesunden Menschenverstand einschmeichelt, um ihn dann doch zu lenken. Liegt ihm wirklich daran, verstanden zu werden? Liegt ihm am Zuschauer?
Aber auch der Zuschauer erinnert in diesem Reiz-Reaktions-Spiel wenig an die thrakische Magd. Er ist überwältigt und das entringt ihm alles andere als ein Lachen über einen Weltfremden. Mediatoren dieser Couleur gegenüber zeigt er sich eher devot und klatschbereit. Diese wirkkräftigen Kommunikatoren, die heute auf den Bildschirmen so gefragt erscheinen, sind allerdings auch weit entfernt von jener Tollpatschigkeit, über die man lachen könnte — zumal die Armada aus visuellen Reizen und dantesk inszenierten Sounds den Erfolg dieses Transfers vom Macher hin zum Kunden garantieren.
Wer nimmt euch an die Hand?
Wer ist heute zuständig für Weltaneignung und Verstehen? Wie definiert man den Prozess des Verstehens, an dessen Ende das steht, was man früher einmal Erkennen genannt hat? Und noch eins: Wer entscheidet, was auf diesem Feld gilt? Für einige wenige — die Anbieter, Programmgestalter und Regulierer — dürfte Verstehen gegenwärtig einen anderen Sinn haben als für die vielen, die man in einer Art luzider Abstraktion Menschen nennt. Spätestens wenn der Zuschauer von Mediatoren so angesprochen und umdefiniert wird, ist Vorsicht geboten.
Im Begriff des Menschen hat sich inzwischen eine Universalmoral eingenistet, die verdeckt, dass sie eigentlich selektiv verfährt.
Ebenso ist in diesem vermeintlichen Humanum eine Vagheit angelegt, die man in manipulativer Absicht mit Anregungen und Erregungen füllen kann. Wie Friedrich Nietzsche uns klargemacht hat, sind beide, die Moral wie die Vagheit, konstitutiv für den Objektstatus und die Selbstwahrnehmung eines Sklaven.
„Nichts” — so meint denn auch der Philosoph David Hume — „erscheint denjenigen, die sich mit den menschlichen Angelegenheiten befassen, überraschender, als die Leichtigkeit, mit der die vielen von den wenigen beherrscht werden.” Ohne Machtgefälle — so steht auch hier zu vermuten — geht nichts ab im Medienspiel, genauso selten wie es ein wirklich freies Lachen gibt, in das alle, Mediatoren wie Zuschauer, einstimmen könnten.
Mir fällt an dieser Stelle mein Vater ein, ein Metallarbeiter, der zur Selbstversorgung auch noch eine kleine Landwirtschaft betrieb. Dem Treiben seiner drei Söhne während deren schulischen und später universitären Ausbildung sah er beiläufig bis erstaunt zu. Was auffiel: Er zeigte einen gehörigen Respekt vor den „Studeierten“ (Sauerländer Platt), vor Büchern und Theorie — auch vor dem, was er nicht verstand.
In einer merkwürdigen Kontinuität dieser Respekthaltung vor dem Schwierigen, Komplexen verblieb auch sein Sohn, als er später nach Rauswurf aus verschiedenen Schulen als Nachtpfleger in der Psychiatrie arbeitete. Während er nächtens im Pflegedienstzimmer durch eine riesige Glasfront auf die „Insassen“ im großen Schlafsaal blickte, las er in einem Buch, das er zuvor irgendwo aufgelesen hatte: Es handelte sich um die von Horkheimer und Adorno verfasste Schrift „Die Dialektik der Aufklärung“. Natürlich verstand er kaum etwas, aber das reizte ihn gerade, weil es in der nächtlichen Anstalt Impulse und Motive in ihm freilegte, von denen er nichts wusste.
Das Leseerlebnis damals wirkte wie eine Initiation, in die eine heftige Irritation eingebaut war, ein Riss im gesunden Menschenverstand — was natürlich dadurch begünstigt wurde, dass Normalität in diesem klinischen Umfeld ohnehin als überdehnt und fast surreal erschien. Was Adorno /Horkheimer da über die Geschichte der abendländischen Vernunft bis hin zur Katastrophe von Auschwitz schrieben, trieb einen Keil in sein Hirn. Er verstand wenig, ahnte aber viel von dem, was da in den Lagern von Auschwitz geschehen war und was auf eine undeutliche Weise bis in den großen Schlafsaal der sogenannten „Irren“ reichte. Rückblickend betrachtet bildete gerade dieses Ineinander unterschiedlichen Raum- und Zeiterlebens, von Lektüre, Irritation und Ahnung, den Anfang eines Verstehens.
Den Zuschauer — den Menschen — abholen von dort, wo er steht, ihn mitnehmen, an die Hand nehmen — so lauten heute die Maximen.
Wer steht hinter diesen sanften Einflüsterungen eines in mediale Machtspiele getauchten Zeitgeistes? Viel Vertrauen in die Souveränität dieses Zuschauers ist daraus nicht abzuleiten, ja, wer genauer hinhört und hinsieht, ist an jene besondere Art von Verachtung erinnert, die man denen entgegenbringt, deren Bedürfnisse man als gegeben ansieht, um sie dann in vorgesehene Bahnen zu lenken. Der Zuschauer — in diesem Falle weniger ein Kunde, eher ein Gefühls- und Befriedigungscontainer — wird angesiedelt zwischen mehreren ihm zugeschriebenen Wünschen: Er möchte leichte Kost, aber auch durchweg von dem, was er sieht und hört, überwältigt werden.
Was auf den ersten Blick als unvereinbar erscheint, zeigt sich unter einem speziellen Blickwinkel als durchaus miteinander kompatibel.
Konkret:
Wo die leichte Kost die allgemeine menschliche Fähigkeit auf Verstehen kaum einfordert, stark einschränkt, geradezu in bewusster Absicht der medialen Anbieter minimiert, da wird ihm ein Überwältigtwerden zugemutet, das den Prozess jeglichen wirklichen Verstehens abwürgt.
Es geht in einem Falle um das bewusst gewollte Verschwinden eines in der Distanz gewachsenen Verstehens und im anderen Falle um eine Ansammlung von fragmentierten Effekten, die ebenfalls bewusst inszeniert werden und die realiter jedes Maß an Verstehbarkeit weit überschreiten, weil Zusammenhänge dabei schon lange keine Rolle mehr spielen.
Um es an einem Exempel zu verdeutlichen: Redakteure kreuzen dem Autor eines Dokumentarfilms inzwischen jedes Kommentar-Wort rot an, das nicht direkt in ein banales fast tautologisches Verstanden-werden-müssen-Format passt. Aber niemand aus der Kaste der inzwischen als „Offiziere der Kultur” auftretenden Vermittler schert sich darum, wenn sich wieder einmal ein „Tatort“ allein aus den verschlungenen Phantasien von Machern nährt und an manchen Sonntagabenden 80 Prozent der Zuschauer mit einem Wulst von Effekten allein gelassen werden. Post coitum animal triste — et solus: dieses zurückbleibende Gefühl folgt dann oft vor dem Zubettgehen. Aber es geht ja weiter. Es gibt hier offensichtlich einen programmatisch verordneten Flow, in dem der Zuschauer mitschwimmt, ja mitschwimmen soll jenseits aller Maße und Ausmaße von Verstehen. Darum geht es gar nicht.
Welches mediale Programm will heute noch, dass der Kunde, der Zuschauer, etwas versteht — oder gar erkennt?
Drei kleine Geschichten zum filmischen Verstehen
Der ungarische Filmtheoretiker Bela Balazs berichtet in seinen Erinnerungen von einer Begebenheit aus den frühen Tagen des Films.
Bei einer Vorführung eines Eisensteinfilms in einem Kinosaal hört er den Entsetzensschrei einer Zuschauerin, die — so bekommt er trotz Dunkelheit mit — bald darauf von Panik getrieben aus dem Saal stürzt. Balazs fragt sie später nach dem Grund ihres Entsetzens. Sie, noch unter dem Eindruck des Erlebten stehend, antwortet, sie habe im Kino halbe Menschen gesehen, abgeschnittene Köpfe und Hände.
Eisensteins Revolution der Montagetechnik und eine aufs fragmentierte Objekt fokussierte Kamera hatten in der Frau eine massive Irritation ausgelöst, die im Entsetzen mündete. Es war ihr in diesem Falle ein zwanghaftes Innehalten verordnet worden, das irgendwo im leeren Raum zwischen Filmerleben und ihrem Alltagserleben das innere Erstarren hervortrieb. Offen bleibt die Frage, wie die Zuschauerin später diesen Schock, den wir heute in unserer medialen Sozialisation und Zurichtung so gar nicht mehr nachvollziehen können — ja worüber wir wie die thrakische Magd lachen könnten —, verarbeitet. Kann sie diesen Schock in Verstehbarkeit und gar Erkenntnis überführen oder passt sie sich nur an Wahrnehmungsformate an, in denen Abschwächung, Verdrängung und Routine den Ton angeben? So wie bei den vielen anderen — einschließlich uns?
Pulp Fiction? — Kein Problem
In dem Film „Pulp Fiction” gibt es eine Sequenz, die viele, vor allem professionelle Kritiker und Intellektuelle, tief beeindruckt hat. Zwei Protagonisten im Film dringen im Auftrag ihres Bosses in eine Wohnung ein, in der eher unbedeutende Dealer wohnen. Diese haben gegenüber dem Boss kleine Betrügereien vorgenommen und sollen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. So etwas ist schon unzählige Male im Film Thema gewesen. Was diese Szene aber nun heraushebt aus der Fülle ähnlicher Sequenzen: Bevor einer der Protagonisten, ein Farbiger mit Locken, die Betrüger erschießt, lässt er sich zu einem Wortschwall hinreißen, der an apokalyptische biblische Richter und Propheten erinnert. Vielleicht auch an das Jüngste Gericht als Tag des Zornes und der Schreckensstunde. Kurz zuvor hatten die beiden Männer im Auto noch von zu leckenden Mösen gesprochen — klinkten sich damit ganz in den Habitus und das Sprachspiel der 1980er- und 90er-Jahre ein, in denen der Film spielt.
Die Frage hier ist: Wieso konnte diese Filmszene quasi als ein Mythos ins Bewusstsein der jüngeren Filmgeschichte gerückt werden, ein Mythos, der noch den Schrecken dieser Morde in ein ästhetisches Artefakt überführt? — Und was hat das noch mit „Verstehen” zu tun? Was soll hier überhaupt verstanden werden? Augenscheinlich hat der Regisseur bestimmte Formen aus altreligiöser Tradition in den coolen Zeitgeist eingespeist in einer sehr effektvollen filmischen Vermittlung — und es funktioniert:
Man ist erschreckt, man ist aber auch schnell befriedigt, man wähnt sich in einem Flow des allgemeinen Verstehens, fühlt sich mitgenommen. In lustvoller Intensität kann man sich noch darüber unterhalten, wie der Film zu interpretieren sei. Am besten schneiden dabei Versuche ab, mit vielen Argumenten einen Raum zwischen der Leere der (Post-)Moderne und dem wiedergekehrten Mythos zu erobern. Der häufigste Befund lautet indes: Du hast den Film nicht wirklich verstanden.
Die Sprache des Todes
Vor einigen Jahren wurde der Pilotfilm zu einer Philosophiereihe auf Arte von der PR in Straßburg abgelehnt. Es ging speziell in diesem Film um das Thema Tod. Der Film lebt von verschiedenen Bild- und Sprachebenen, die irgendwie komplementär ineinandergreifen und einen Dialog miteinander führen. Eine Mustersequenz daraus wurde dabei von den Juroren als dem Zuschauer nicht zumutbar herausgehoben.
Darin sehen wir wechselweise zwei Schauspieler — männlich und weiblich — vor einer Leinwand stehen, auf der einmal ein moderner Klinikflur und ein anderes Mal eine Fahrt durch eine dunkle norddeutsche Landschaft zu sehen sind. Die Schauspieler sind einander zugewandt und führen einen Dialog, der sich einmal aus Versatzstücken des heutigen Redens über den Tod nährt, zum anderen den berühmten Dialog des Ackermanns aus Böhmen mit dem Tod wiedergibt — ein Dialog, der vor 600 Jahren geführt wurde.
Man kann es als eine Art Sprachspiel vor wechselndem Bildhintergrund betrachten, ein Musterdialog: In ihm artikuliert sich eine moderne Todessemantik, die wir wohl gerne ableugnen. Etwa wenn die Schauspielerin sagt: „Die Leber kommt zur Obduktion”, damit aber ein toter Mensch gemeint ist, der an einem Leberleiden gestorben ist. Davon hebt sich vor dem dunklen Schatten einer Baumallee die alte Sprache des Todes ab, die so sinnlich wie lebensnah ist und uns schreckhaft bewusst macht, dass für uns heute der Tod verwildert und wenig greifbar in unserem Rücken steht — so sieht es auch Phillip Aries —, den wir letztlich nicht mehr verstehen. Es entsteht so ein Clash, ein Riss durch Sprache und Bilder, der durch dunkle Landschaft und grelle Klinikflure noch verschärft wird.
Es ist erhellend, wie eine Redakteurin diese Sequenzen beurteilte und ihnen mit einem charakteristischen Einwand begegnete: das sei zu brutal und einige ihrer Mitarbeiter hätten dies nach der Sichtung des Films bestätigt. Sie seien regelrecht schockiert gewesen. Was wohl heißen könnte:
Wenn ich einen nackten, grell beleuchteten Klinikflur zeige und davor zwei Schauspieler einen stilisierten Dialog führen lasse, in der sich realiter unsere Sprache des Todes dokumentiert, dann wirkt das brutaler als die besagte Szene in „Pulp-Fiction” und natürlich gefühlte zehntausend Szenen aus heutigen Tatorten und Vorabendserien mit einem bestimmten täglichen Quantum Mord.
Andererseits versicherte mir dieselbe Redakteurin aber auch dies: Vor fünfzehn Jahren hätte Arte diesen Pilotfilm und damit die Serie noch mit Kusshand genommen. Was muten wir uns zu, wenn es ums Verstehen geht? Gibt es da inzwischen Tabus, die es vor Jahren noch nicht gab? Wer könnte daran interessiert sein, sie zu errichten?
Wir treffen im Bereich der visuellen Medien offensichtlich auf eine Elite, die vorgibt, ein gesichertes Wissen vom Zuschauer zu haben.
Diese Elite fühlt sich einerseits in diesen Zuschauer hinein — und etabliert andererseits hierbei eine Macht-Differenz, die den Zuschauer zum Objekt degradiert: Er wird entmündigt, indem man für ihn einsteht und dessen Interessen zu vertreten vorgibt.
Man dünkt sich als „Pate”, der aufpasst, dass es nicht zu kompliziert wird — was eine prinzipielle Bildhoheit generiert.
So haben wir es inzwischen dahin gebracht, das Verhältnis von Bild und Wort manipulativ zu vereinseitigen. Das Wort wird mehr und mehr zur Dienstmagd effektvoll inszenierter Bilder — und wenn es sich etwa als essayistische, reflexive oder kontemplative Kraft zu äußern sucht, wird ihm der Hahn abgedreht mit dem Hinweis: zu komplex, schwer verständlich. Man ist da redaktionell inzwischen geradezu kleinlich geworden. Der essayistische Film, sofern er nicht ohnehin schon als reiner Bildfilm jedem Worteinfluss entrissen wird, ist insofern nicht mehr möglich, weil der noch auf einen komplementären Dialog zwischen Bild und Wort setzt. Dieser Dialog, auf Augenhöhe, wenn er denn spannungsreich angelegt wäre, könnte zu einem Verstehen führen — aber genau das will man offensichtlich nicht. Vielleicht ist einer der verhängnisvollsten Sätze heute im medialen Wirrwarr gerade dieser:
Die Bilder sprechen für sich. Und ein anderer erscheint indes ebenso verheerend: Alles lässt sich sprachlich einfach ausdrücken.
Es war der Lyriker Paul Celan, der insbesondere die einfache Sprache als hochkompliziertes Metapherngestöber entlarvte und den Bildern ohne poetisch reflexive Distanz zutiefst misstraute. Die heute TV-medial verordnete Sprache wird indes ohne jede Distanz den Bildern zugeordnet; am besten schneiden dabei die Autoren und Regisseure ab, die den Text ganz zuletzt — quasi über Nacht — den Bildern geradezu plakativ anfügen.
Die eigentlich wichtige redaktionelle Abnahme der Filme findet nahezu ohne Text statt. Der kommt dann irgendwie später noch in die Wertung — als eine Art Appendix zu den Bildern und als Prüfobjekt für Advokaten der zuschauerfreundlichen Sprache. Das gilt für alle Non-Fiction-Filme — zeigt aber auch seine Wirkung bei vielen TV-Spielfilmen, in denen sich die Dialoge im Anspruch auf Authentizität gerade in Rülpsern und Stereotypen erschöpfen. Und dies — wie man vorgibt — zu Nutzen des Zuschauers.
Vom (Un-)Wesen der Quote und einer Expertenkultur
Hinter dem Bild des so abgeschätzten und medial zugerichteten Zuschauers taucht eine magische Matrix auf: die Quote.
Je höher die Zuschauer-Quote, die eine Sendung erfährt, desto mehr spricht das für ihre Qualität.
Das klingt banal. Weniger banal dürfte folgende Ableitung dazu sein: Je höher die Quote ausfällt, desto unverhohlener billigt man dem Sendeprodukt in unverblümter Art auch das Prädikat Verstehbarkeit zu. So verschwimmen die Grenzen zwischen Verstehbarkeit und Akzeptanz. Zu einem dialektischen Wirrwarr gerät es dann vollends, wenn die Faktoren Aufklärung und Unterhaltung als Zielorientierungen hinzutreten. Es wird offensichtlich, dass all diese Faktoren heutzutage auf das Quotenziel hin eingeschworen werden. Das offenbart wohl den wahren Sinn des medialen Imperativs: den Zuschauer an die Hand nehmen.
Noch ein Wort zur Theorie — und wie sie heute verhandelt und verbandelt wird im Umkreis des Themas Verstehen.
Theorie wird inzwischen als Relikt aus vergangenen Tagen betrachtet. Einst in den frühen 1970er-Jahren wurde sie noch mit einem Eros verbunden, das heute für Jüngere kaum noch nachvollziehbar erscheint. Die schwarzen Suhrkamp-Reihen, die blauen Marx-Bände und die gelben von Hanser erinnerten noch an die speckige Tasche, mit der Rudi Dutschke damals in Berlin auf seinem Fahrrad unterwegs war. Diese Tasche — so berichtet später Gretchen Dutschke, seine Frau — war immer vollgepackt mit Büchern, eine Ansammlung von berstender Theorie, die für ihn zu jeder Zeit abrufbar sein muss.
Mit diesen goldenen Zeiten der Theorie und auch Kritik will man heute vor allem in den Medien nichts mehr zu tun haben. Schon aus dem simplen Grund, dass gerade diese mit Lesen verbundenen Disziplinen zu komplex, zu schwierig, zu unverständlich daherkommen — angereichert wird die Verdammung des Theoretischen mit dem Vorwurf mangelnder Lebensnähe und Authentizität.
Aber es gibt da noch einen weiteren Eingriff in den Kampf um die Oberhoheit über den Begriff des Verstehens. Registriert werden muss inzwischen eine jovial sich äußernde Mentalität, besonders ausgeprägt auf den Redaktionsfluren, die sich geradezu etwas darauf einbildet, dem Theoretischen zu entsagen — um sich andererseits aber tief vor einem Fachwissen zu verneigen. Entstanden ist dabei eine Expertenkultur im TV-Format: Leute vom Fach im Gespräch mit Mediatoren.
Diese Experten sind aber nicht mehr an einer wirklichen kontextuellen Vermittlung von Wissen interessiert, sondern treten als Autoritäten für fragmentiertes Wissen auf, die dem gemeinen Volk etwas sagen, was deren Horizont nicht übersteigt, gewisse dumpfe Bedürfnisse aber gleichwohl befriedigt.
Als Beispiel mag hier der heute so stark aufgewertete Politikwissenschaftler angeführt werden, der paradigmatisch die Rolle übernommen hat, die einst in den 1970er-Jahren noch der kritische Soziologe innehatte. Dieser Politikwissenschaftler erklärt den „Menschen” die Politik allein als ein strategisches Spiel von Politikern und Parteien — mit leichtem Skandalgeruch. Derlei ist leicht zu verstehen und dimmt das Aufklärungsinteresse des Publikums auf eine banale und eher harmlose Meinungsvielfalt herunter. Vordergründig versteht man, aber was wahre gesellschaftspolitische Hintergründe angeht, lässt der Experte alles im Vagen und fühlt sich nicht zuständig. Also versteht man letztlich gar nichts und surft doch wieder auf dem allgemeinen Flow einer allseits anerkannten „Weltaneignung”, von der am Anfang die Rede war.
Im Whirlpool meines assoziationsbereiten Hirns stellt sich zuletzt wieder das Anfangsbild ein: Der etwas weltfremde, aber für die Gesamtentwicklung der Welt so notwendige Philosoph und die thrakische Magd: Sie wurden beschrieben als Protagonisten zweier unterschiedlicher Weltaneignungen, die sich indes auf Augenhöhe begegnen. Im positiven Sinne ein Glücksfall.
Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt auf, dass heute zwischen beide Weltaneignungssubjekte ein mächtiger Mediator und Vermittler hineingestoßen ist, der die Voraussetzungen für das Aufeinandertreffen und auch für das Einander-Ver-Stehen drastisch verändert. Er sorgt dafür, dass es kein Innehalten mehr gibt und vieles im Rausch von Effekten verloren geht.
Der etwas weltfremde Philosoph ist dabei auf das Niveau eines Lebensberaters heruntergestuft worden — ein Experte, der alles Widerständige abräumt und der der Magd banale Happen von Wissen verordnet. Eine Komik kann sich da kaum noch entfalten — aber auch kein Respekt vor dem Anderssein.