Der unsichtbare Feind

Die Angst vor einer nicht greifbaren Gefahr bewirkt, dass sich Menschen nur noch mit einer bedrohlichen Außenwelt beschäftigen, statt sich selbst zu vertrauen.

Da unser Wahrnehmungsvermögen eingeschränkt ist, sehen wir immer nur einen Bruchteil der Wirklichkeit. Hätten wir das Sehvermögen eines Adlers oder den Geruchssinn eines Hundes, würden wir die Welt völlig anders wahrnehmen. Eben weil wir ahnen, dass da mehr ist, als wir überblicken können, macht uns dies unsicher. Deshalb bilden wir uns manchmal vorschnell ein Urteil oder sind angewiesen auf die Einschätzung anderer. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Wahrnehmung der Menschen unendlich unterschiedlich ist. Aus dieser Unsicherheit heraus werden wir ängstlich und suchen Halt. Wir wollen Gleichgesinnte treffen, die wenigstens halbwegs die eigene Wahrnehmungsweise teilen, zumindest bei einigen Themen. Somit bilden sich Gruppen heraus, und dieses Gruppengefühl gibt den Mitgliedern Stabilität. Doch in unserer Kultur brauchen viele Menschen das nicht Sichtbare, das sie zum Feind erklären können, um das Gruppengefüge zu stabilisieren. Somit sind der Paranoia, dem Kontrollzwang, der Vernichtung ebenjenes unsichtbaren Feindes Tür und Tor geöffnet. Keine Wissenschaft, keine Philosophie, keine Technik kann dies verhindern. Die Filmindustrie nützt diese Unsicherheit, indem sie für diese diffusen Ängste Bilder kreiert. Angefangen beim „Weißen Hai“, über „Alien“ bis hin zu den unerträglichen Endzeitfilmen Hollywoods dienen sie der Angsterzeugung mit Blick auf einen unsichtbaren Feind. Arbeitet die Nachrichtenwelt nicht genauso? Besonders irritierend ist, dass oft sogar die Wissenschaft solche Feindbilder erschafft und weiter anheizt. Durch dieses Training der Paranoia über die Jahrzehnte hinweg gerät unser Gefühlshaushalt völlig durcheinander. Wir vermuten dann den Feind überall. Einzig ein Weltvertrauen, ein Vertrauen dem Menschen gegenüber, eine fast schon naiv zu nennende Einfühlung in die gesellschaftlichen Prozesse können dem entgegenwirken.

Die digitale Welt ist ein idealer Gestalter des unsichtbaren Feindes. Durch ihre unermessliche Dehnbarkeit und Flexibilität, durch ihre Möglichkeit, destruktive Gefühle zu verbildlichen und die Ängste der Menschen zu schüren und sie damit zu fesseln, ist ihr Einfluss enorm. Neben den Nachrichtenmedien entstellt die Filmkultur die Gefühle so extrem, dass die Menschen die filmisch erzeugten Gefühle in ihr Leben projizieren, das dadurch deformiert, im schlimmsten Fall zerstört wird.

Für die Kraft des unsichtbaren Feindes gibt es in der Geschichte unzählige Beispiele: Angefangen von der Pest, der Hexenverfolgung, über den „bösen“ Kapitalisten oder (je nach System) den Kommunisten, bis hin zum slawischen oder jüdischen Untermenschen der Nationalsozialisten.

Wer den medial erzeugten Feind als besonders empfindet, sucht Abstand zu der Bedrohung und eine Nähe zu Gleichgesinnten. Doch durch diese Nähe werden manche vollkommen vereinnahmt, wenn in der Gruppe die Angst immer weiter geschürt wird, sodass sie nicht mehr auf ihre eigene Wahrnehmung vertrauen. Eine reflektierte Ausgewogenheit ist nur durch eine gewisse Distanz möglich. Viele Menschen erkennen das nicht, sondern ergreifen nicht selten hemmungslos Partei und ihre ungebremste Angst kann bis zum Genozid der angeblichen Feinde gehen.

Der unsichtbare Feind ist überall. Man kann fragen, woher er kommt, wer ihn braucht, wer ihn kreiert, wer ihn als Machtmittel missbraucht. Das ist alles möglich. Wichtig jedoch ist, dass man der Gruppe, die den vermeintlichen Feind bekämpft, mit einem gründlichen Zweifel begegnet, einen Abstand einhält, damit man die Fallstricke erkennt — denn es gibt immer welche — und sie benennt.

Man kann weiterhin seinen Gewohnheiten nachgehen, wie man einem Feldweg folgt, in der Hoffnung, er führe auf eine befahrene Straße. Hinter dem Satz „Das kann nicht sein“ verbirgt sich die Angst, das eigene Weltbild stürze ein, wenn man nur eine einzige der eigenen „Wahrheiten“ infrage stellt. Deshalb sind die Gewohnheit und der unerträgliche moralische Idealismus der Anfang, die Ursache sich anbahnender Katastrophen.

Der Mensch kann nicht lernen, wenn die Gefühle die Herrschaft über ihn erlangt haben. Da hilft kein kategorischer Imperativ mehr, oder eine vernünftige Diskurskultur. Deshalb flüchtet er sich in die Masse, dort fühlt er sich aufgehoben, gerade wenn sie homogen und einer Meinung ist. Unerträglich für solche Menschen ist das „sowohl als auch“. Für sie gilt das „entweder/oder“. Entweder du gehörst zu uns oder nicht. Wenn nicht, wirst du beschimpft, ausgestoßen, existenziell und körperlich bedroht.

Und diesen Prozess erleben wir derzeit wieder. Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg fast 80 Jahre Aufklärung und wissenschaftlicher Diskurs stattfanden, hat sich das Verhalten der meisten Menschen nicht geändert. Es ist so, als befänden wir uns im Jahr 1914 oder am Anfang der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts. Da wurden neue unsichtbare Feinde geschaffen.

Und was tut die Wissenschaft? Die Sozialwissenschaften haben auf der ganzen Linie versagt, man kann es nicht anders sagen. Und sich jetzt auf eine traumatisierte Gesellschaft zu berufen, klingt wie ein Offenbarungseid. Im Vokabular der Sozialwissenschaften kommt meistens die innere, seltener die äußere Freiheit vor. Ein Beispiel ist die Verhaltenstherapie, die oft nur ein wohlfeiles Mittel ist, die Menschen wieder in das System zurückzubringen, das sie vorher krank gemacht hat. Aber wen interessiert das Leid des Menschen, solange man die eigene Leistung bei der Krankenkasse abrechnen kann? Ich weiß, das ist böse und unfair. Es gibt viele Therapeuten, die gute Arbeit leisten, doch offensichtlich führen alle die Menschen nicht in die Freiheit, sondern wollen aus ihnen ein angepasstes Rädchen in einer ungerechten Gesellschaft machen.

Auch die Abhängigkeitssymbiose der Psychoanalyse, bei der zuerst eine Abhängigkeit geschaffen wird, um dem Patienten näher zu kommen, ist perfide, weil sie der Manipulation Tür und Tor öffnet. Greift sie doch mit einer fadenscheinigen Argumentation auf die ersten vier Lebensjahre zurück, um mit den wildesten Theorien Menschen in jahrelanger Abhängigkeit zu halten. Ich weiß, auch dieses Urteil ist ungerecht, denn es gibt wirklich aufrechte Psychoanalytiker. Aber wenn wir die heutige Welt betrachten, hat die Arbeit der vielen Psychologen aus meiner Sicht so gut wie nichts bewirkt.

Eine andere Sichtweise

Der deutsche Philosoph Hermann Schmitz (1928 bis 2021) hat eine Leib-, Gefühls- und Atmosphärenphilosophie entwickelt, in der er von Introjektion spricht. Der Glaube, alle Wahrnehmung käme aus der inneren Welt des Individuums, sei ein Irrglaube, so Schmitz. Er schreibt, dies sei eine historische Verkennung, die seit Sokrates und Platon ihren Lauf genommen habe.

Schmitz legt dar, dass wir nicht nur von unserem Innenleben beeinflusst sind, sondern noch viel stärker durch unsere leibliche Verfasstheit, durch Atmosphären und Gefühlsfelder, die von außen und von innen geformt werden und ineinander übergehen. In der Verallgemeinerung, beispielsweise in den Versuchsreihen in der Psychologie, würden wir nur einen Teil der Individuation erkennen. Nur im Erfassen der sich unendlich aneinanderreihenden Situationen — dem Augenblick —, sind wir in der Lage, uns ganzheitlich zu erkennen.

Vielleicht müssen wir einen neuen Mythos erzählen, den Mythos des universalen Menschen — keines globalen —, mit dem wir alle gemeint sind. Denn uns alle, auf der ganzen Welt, treibt die Angst, der Schmerz und die Lust an, oder sie hemmen uns.

Befinden wir uns nicht in der Starrheit der eigenen Wahrnehmung, die vor allem durch Aufmerksamkeit und nicht durch Achtsamkeit erzeugt wird, denn die Aufmerksamkeit weist nach außen, die Achtsamkeit nach innen, können wir uns selbst erkennen. So wie es der weise Lehrer Krishnamurti erkannt hat:

„Nur wenn man sich nicht spalten lässt in den Beobachter und den Beobachtenden, den Betrachter und den Betrachtenden, das Du und das Ich, wo der Konflikt schwelt wie ein Weltenbrand, so lange finden wir nicht die wahre Natur des Menschen. So lange bleiben wir im Gefängnis des unsichtbaren Feindes, des ewigen Konflikts zwischen dem Außen und dem Innen gefangen, und damit in der Macht, die uns umfängt.“

Darum geht es: Dass wir uns selbst so sehen, wie wir sind, nicht wie ein Zweiter, das Über-Ich oder der andere mich sieht. Sieh dich genau an, reflektiere, was tu tust, und finde eigene Lösungen, die dir inhärent sind, weil sie in dir sind. Jedoch führt zu dieser Freiheit kein Pfad. Kein Guru, keine Religion, kein Experte kann den Weg weisen. Es ist ein Erkennen deines Selbst durch unendlich viele Eindrücke.

Jagt die klugen Ratgeber zum Teufel, ignoriert sie, sie wissen nicht, wer du bist. Sie kennen dich nicht. Sie wollen sich an dir nur bereichern. Nur du alleine weißt, wer du bist. Scheue nicht den direkten Blick auf dich, ohne Umwege, ohne den Besserwissersumpf der akademischen Feuchtgebiete. Ich weiß, ich gebe gerade selbst Ratschläge …

Für mich ist die Kunst — und ich rede hier nicht von Entertainment — ein solches Erkenntnisfeld, weil viele Künstler durch ihre Ausdruckskraft diese vorher genannte Freiheit imaginieren. Jeder Künstler weiß, was es heißt, zu finden, ohne zu suchen. Nur da werden wir auf uns selbst zurückgeworfen, da erahnen wir etwas von einer Freiheit, die jeder von uns leben könnte, wenn wir nur aus unserer eigenen Konfliktsphäre heraustreten würden. In welcher Form auch immer. Künstler erweitern den Wahrnehmungsraum, ohne in einen Konflikt zu treten. Kunst ist nicht dazu da, Wände zu schmücken oder als Investment zu dienen. Eine Gesellschaft, die ihre Künstler achtet und vor allem wahrnimmt, ist eine wärmere, sich selbst erneuernde Gesellschaft.

In diesem Grundvertrauen bleiben wir lebendig, so wie wir jeden Tag darauf vertrauen, dass die Sonne aufgeht, der Regen fällt, die Jahreszeiten wechseln.


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