Der Ungezogene
Bernie Sanders gewinnt die ersten drei Vorwahlen — das Establishment tobt.
Wenn es nicht so läuft, wie geplant, flippt der Mainstream regelmäßig aus. Aktuell kann das Parteiestablishment der Demokraten nicht fassen, was da vor ihren Augen geschieht. Ein selbsterklärter Sozialist dominiert die Vorwahlen in den USA. Er gewann erst Iowa, dann New Hampshire und räumte anschließend in Nevada mit 27 Prozent Vorsprung ab. Wird der Albtraum der Machtelite wahr? Oder wird es gelingen, Bernie Sanders zu stoppen? Der vermeintlich liberale Fernsehsender MSNBC tut da sein Möglichstes – und macht sich zunehmend zum Gespött.
Chris Matthews ist einer der kampferprobtesten Haudegen des US-Amerikanischen Kabelfernsehens. Seine Sendung bei der Microsoft/National Broadcasting Company, MSNBC, heißt nicht von ungefähr: „Hardball“. Denn Matthews interpretiert Politik als Kampfsport. Er moderiert mitunter wie der Kommentator eines Boxkampfs und gefällt sich seit jeher in einem ausgesprochen rabiaten Gesprächsstil mit seinen Interviewpartnern.
Nun gilt MSNBC als der liberale Sender der USA, als der Gegenpart zu Fox News. Diese Rollenverteilung klappte für MSNBC recht gut, so lange es mit George W. Bush ein klares Feindbild gab. Unter Barack Obama gab es dann die ersten Risse im liberalen Bild des Senders. Linke Obama-Kritiker wie Krystal Ball, Howard Schultz oder Cenk Uygur wurden vor die Tür gesetzt. Linke Aushängeschilder wie Rachel Maddow rückten derweil nach rechts und machten steile Karriere.
2016 schiffte sich der auf Linie gebrachte Sender dann mit Mann, Frau und Maus auf der MS Hillary Clinton ein – um gemeinsam mit ihr Schiffbruch zu erleiden. Anstatt die Niederlage gegen Donald Trump selbstkritisch zu analysieren, ging man aber lieber zu hysterischer Berichterstattung über die angebliche, geheime Übernahme der USA durch Putin und die Russen über. Alles in allem machte MSNBC dabei keine sonderlich gute Figur und verliert immer mehr Marktanteile – vor allem an das Internet.
Digitale Konkurrenz
Dort sind beispielsweise die von MSNBC verstoßenen Cenk Uygur und Krystal Ball ausgeprochen erfolgreich mit eigenen, unabhängigen Formaten. Ball moderiert gemeinsam mit dem unorthodoxen Trump-Unterstützer Saagar Enjeti die Frühstücksshow „Rising“. Rising ist ein Format des Onlinemagazins „The Hill“
„The Hill“ hatte sich bereits in den letzten Jahren zu einer vielgelesenen digitalen Nachrichtenquelle gemausert und immer entschiedener progressive Positionen eingenommen. Mit dem Format „Rising“ gelang eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. In weniger als einem Jahr stieg die Zahl der Youtube-Abonnennten von 0 auf 300.000. Die Bestsellerlisten stürmen Ball und Enjeti derzeit mit ihrem Buch „The Populist Guide to 2020“. Untertitel: „Eine neue Linke und eine neue Rechte steigen auf“.
Cenk Uygur ist demgegenüber ein altes Schlachtross des digitalen Journalismus. Sein Sender „The Young Turks“ ist das reichweitenstärkste digitale Medium der Welt. Seit 2005 haben die jungen Türken 38.000 einzelne Videos bei YouTube hochgeladen. Die Gesamtzugriffe bewegen sich in den Milliarden. Die Zahl der Abonnenten liegt bei knapp unter 5 Millionen. Aber die YouTube-Zahlen sind irreführend. Denn sowohl The Young Turks als auch Rising werden über zahlreiche Verbreitungswege außerhalb von YouTube von noch weitaus mehr Menschen gesehen.
Außer Rand und Band
Während der Online-Journalismus in den USA einen sehr starken progressiven und eine ebenso starken trumpianischen Pol ausgebildet hat, die immer stärker an der Meinungsführerschaft der etablierten Medien rütteln, kämpfen jene nicht nur um Zuschauer. Sie ringen zunehmen um Fassung angesichts einer politischen Entwicklung, die sie nicht auf der Uhr hatten und schier nicht ertragen können.
Zum Beispiel der eingangs erwähnte Chris Matthews und sein vermeintlich liberaler Sender MSNBC. Zunächst ist festzuhalten, dass sie analytisch zuverlässig grottenfalsch liegen. Hatte sie bereits die Wahlniederlage Clintons gegen Trump kalt erwischt, hinterlässt sie der Aufstieg von Bernie Sanders ratlos und zunehmend wütend.
So hatte MSNBC die Kandidatur von Sanders monatelang lächerlich gemacht oder komplett ignoriert, weil ohnehin aussichtslos. Nachdem Sanders einen Herzinfarkt erlitten hatte, hielt Chris Matthews bereits eine Grabrede auf ihn. Stattdessen galten ihm wechselseitig Joe Biden, Elisabeth Warren, Pete Buttegieg oder gar Amy Klobuchar als die ganz großen Favoriten. Alle eben, nur nicht Bernie Sanders.
Seit Sanders nun aber die ersten drei Vorwahlen für sich entschieden hat und in landesweiten Umfragen einen zweistelligen Vorsprung vor allen anderen Kandidaten herausgearbeitet hat, flippt Chris Matthews vor laufender Kamera regelmäßig derartig aus, dass man sich ernstlich um ihn sorgen muss.
So stellte Matthews etwa die gewagte Charaktereinschätzung in den Raum, wenn er mit einer Autopanne im Straßengraben liege, würden zwar Leute wie Joe Biden oder andere Kandidaten anhalten und helfen – Bernie Sanders aber nicht. Als Sanders weiter gewann, fantasierte Matthews, es werde im Falle einer Machtübernahme „der Roten“ zu öffentlichen Exekutionen im Central Park New Yorks kommen - und er, Matthews, werde zu den Opfern gehören, während Sanders dies bejubeln werde.
Schmutzkampagne ohne Wirkung
Den Vogel endgültig abgeschossen hat Matthews nunmehr in seiner Live-Berichterstattung zur Vorwahl in Nevada. Dieser krachende Sanderssieg mit mehr als 47 Prozent der Stimmen – vor dem zweitplatzierten Joe Biden mit 20 Prozent – war offensichtlich zuviel für den Mann: Er verglich Sanders Durchmarsch … mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich, 1940.
Lassen wir das kurz auf uns wirken: Ein amerikanischer Jude, dessen väterliche Familie im Holocaust vernichtet wurde, gewinnt die Vorwahl in Nevada haushoch. Und der "liberale" Moderator des "liberalen" Senders MSNBC vergleicht das mit dem Nazi-Überfall auf Frankreich.
Zuvor nannte Chuck Todd, ebenfalls MSNBC, Bernies Online-Community: "Digitale Braunhemden“. Der Journalistik-Professor Jason Johnson verstieg sich dann zu der Aussage, Sanders werde von „rassistischen, liberalen, weißen Amerikanern“ unterstützt.
Dass nun ausgesprochen viele Latinos und Afro-Amerikaner auf allen Ebenen der Sanders-Kampagne aktiv sind, dass Sanders in Nevada 73% der Latino-Stimmen abräumte und unter Afro-Amerikanern inzwischen führt, ficht Johnson nicht an. Bei Sanders afro-amerikanischen Kampagnenstars etwa handle es sich um „misfit black girls“ – in etwa: ungezogene, schwarze Mädels!
Dieser Jason Johnson ist nun regelmäßiger Gastkommentator auf: MSNBC. Und so hört sich das also an, wenn ein „liberaler“ Mainstream, der sich als Lordsiegelbewahrer des Anti-Sexismus, Anti-Rassismus und der fortschrittlichen Identitätspolitik inszeniert, einen Feind von links wittert. Da gibt es dann kein Halten mehr und man darf seinerseits offenbar problemlos in die Schmutzkisten des Antisemitismus, des Sexismus und des Rassismus greifen.
Putin liebt Sanders!
Und? Was fehlt da jetzt noch? Na, klar: der Russe fehlt da. Aber schon wird er aus dem Hut gezaubert und zwar von der Washington Post. Diese Zeitung ist zwar im Besitz von Jeff Bezos und sollte damit als ernstzunehmendes journalistisches Medium zumindest fragwürdig geworden sein. Zumal der betreffende Artikel für die Behauptung, die Russen würden sich Sanders als Kandidaten der Demokraten wünschen und ihn deshalb unterstützen, wie üblich keinerlei Belege aufzubieten hatte.
Aber das hinderte natürlich weder in Deutschland Spiegel, Süddeutsche, Welt und Co. daran, diesen Unsinn mit allerhand Konjunktiven wiederzukäuen. Sondern natürlich ging die faktenlose Behauptung auch in den USA durch alle entsprechenden Medien und wurde, wen wundert es, besonders bei MSNBC populär.
Den Sieg von Sanders etwa kommentierte dort der langjährige Clinton-Berater James Carville: Niemand sei glücklicher über Bernies Sieg in Nevada als Vladimir Putin.
Normalerweise schreibt man an dieser Stelle, dass dieserlei Vorgänge lustig wären, wenn sie nicht so traurig wären. Aber es verhält sich genau andersherum. Dieses Schmierentheater wäre nur dann traurig, wenn es nicht so lustig wäre. Das findet zumindest das amerikanische Internet, in dem Chris Matthews längst zur Lachnummer geworden ist und MSNBC mit Hohn und Spott bedacht wird.
Auch Glenn Greenwald sieht das so. Und er geht - auf Rising - noch einen Schritt weiter. Das Gute, sagt er, am überdrehten Bernie-Hass von MSNBC sei, dass nun auch der Letzte erkenne, dass dieser Sender nicht nur ein klein wenig fehlgeleitet sei, dass hier mit ein paar Kurskorrekturen eben nichts mehr zu retten sei. Vielmehr sei MSNBC eine feindliche Struktur, die völlig in der Hand der Machtelite sei - und das werde jetzt offenbar.
Unglaublich lustig ist dann dieser Bericht von Krystal Ball, wie sich die Verzweiflung bei MSNBC am Abend von Sanders großem Sieg in Nevada Schritt für Schritt entfaltete und in einem großen Wehklagen endete.
In der Tat scheinen die schrillen Attacken auf Sanders auch bei den Wählern immer weniger zu verfangen. Die Umfragewerte für den Sozialisten steigen kontinuierlich - und mit dem New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio hat nun auch der erste, prominente Mainstream-Demokrat die Zeichen der Zeit erkannt und seine Unterstützung hinter Sanders geworfen.
Am Samstag wird in South Carolina gewählt. Am 3. März werden dann ein Drittel aller demokratischen Delegiertenstimmen vergeben, wenn am "Super-Tuesday" in fünfzehn Bundesstaaten gleichzeitig gewählt wird.
In welche Katarakte des Irrsinns wird der gute Chris Matthews wohl stürzen, sollte Sanders dabei erwartungsgemäß gut abschneiden?
UPDATE
Nach einer Welle der Empörung über die jüngsten Ausfälle von Chris Matthews gegen Bernie Sanders und wachsenden Forderungen an MSNBC, die Zusammenarbeit mit Matthews zu beenden, hat sich derselbe soeben öffentlich ... entschuldigt. Siehe hier.