Der unendliche Ausnahmezustand
Der Staat führt die Bürger seit einem Jahr an der Nase herum, indem er verspricht, ihnen die Freiheit „später“ und unter bestimmten Bedingungen wiederzugeben. Exklusivabdruck aus „Herrschaft der Angst“.
Ein Ausnahmezustand sollte, wie der Name so schön sagt, die Ausnahme bleiben. Wird er zur Regel und hört er nicht mehr auf, muss etwas faul sein. Die Regierung ist seit März 2020 mit dem Rasenmäher über die Grundrechte gegangen. Die entrechtete Bevölkerung hat diese Maßnahmen überwiegend mitgetragen. Es ist den Initiatoren der großen Umgestaltung und den sie unterstützenden Medien gelungen, die Menschen mit Angst bei der Stange zu halten. Dies geschah teilweise auch durch „Deframing“ — indem der Kontext des Virusgeschehens verschleiert und zum Beispiel verschwiegen wurde, welche anderen, schlimmeren Krankheiten existieren. Politiker taten, was in ihrer Zunft durchaus Usus ist: Sie versuchten Stärke zu zeigen, ohne ihre Kraft in eine sinnvolle Richtung zu lenken.
Spätestens bis zum 31. März 2021 — nachdem dieser Text verfasst wurde — muss der Deutsche Bundestag wieder zusammentreten, um darüber zu beraten und zu entscheiden, ob immer noch eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ besteht. Dann läuft die Ermächtigungsgrundlage für die bisherigen Schutzmaßnahmen aus, die der erst im November 2020 hinzugefügte Paragraf 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) in 17 Punkten aufführt. Das Gesetz gibt nur eine schmale Hilfestellung zur Bestimmung der „Lage“. Sie liegt nach Paragraf 5 IfSG dann vor, „wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten BRD besteht“.
Folgt man dem Paragrafen 28a IfSG weiter in seine enggedruckten Absätze, so knüpft er diese „Gefahr“ an den Schwellenwert von Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, den sogenannten Inzidenzwert, der es zum Morgen- wie Abendgebet jeder Radiosendung gebracht hat. Liegt dieser Wert über 50, so können „umfassende Schutzmaßnahmen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“ verfügt werden. Sinkt er, bleibt aber über 35, so können immer noch „breit angelegte Schutzmaßnahmen, die eine schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen“, ergriffen werden.
Für die Bevölkerung macht das keinen Unterschied, der Lockdown wird einfach verlängert. Da die 17 Maßnahmen des Paragrafen 28a IfSG ohnehin kumulativ eingesetzt werden können (Absatz 6), ist er die einfachste Lösung eines Problems, das man eingestandener Weise immer noch nicht recht begriffen hat.
Sollte der Schwellenwert dann unter 35 sinken, so „können die in Bezug auf den jeweiligen Schwellenwert genannten Schutzmaßnahmen aufrechterhalten werden, so weit und solange es für die wirksame Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit 2019 (Covid-19) notwendig ist“, verheißt Absatz 6 Paragraf 28a IfSG. Die Drohung des Lockdowns bleibt also bestehen, und schon haben CDU/CSU und SPD am 9. Februar 2021 einen Gesetzesentwurf (1) im Bundestag vorgelegt, mit dem die Fortgeltung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ unabhängig von dem dann geltenden Inzidenzwert bis zum 31. März 2022 beschlossen werden soll.
Wer im deutschen Parlament hat sich klar gemacht, dass die kumulative Anordnung aller 17 Schutzmaßnahmen und der zusätzlichen in den Paragrafen 29 bis 31 IfSG die gesetzliche Ermächtigung für die totale Blockierung allen gesellschaftlichen Lebens, der totalen Ausnahmezustand ist? Eine Perspektive, die nicht nur den Juristen erschrecken lässt.
Der Weg des Einverständnisses
Die Gesellschaft steht seit dem ersten Lockdown vom 22. März 2020, der wie ein Rasenmäher über die Wiese unserer Grundrechte geht, unter permanentem Druck. Dennoch unterstützt sie die scharfen Einschnitte in ihr tägliches Leben, die an die ökonomische Existenz und psychische Gesundheit vieler Menschen geht, mit nahezu unverminderter Zustimmung. Wie ist ein derartiges Einverständnis zu erreichen?
Am Anfang war das Virus noch die unbekannte Gefahr mit tödlichem Ausgang und drastischen Bildern aus Bergamo in Italien. Als sich die Situation im Sommer 2020 entspannte und die Angst vor dem Virus sich legte, kam schon im August/September die Drohung mit der zweiten Welle. Am 16. Dezember 2020 wurde das Jahresende in Deutschland mit dem zweiten Lockdown lahmgelegt. Er sollte ursprünglich bis 10. Januar 2021 dauern.
Doch schon Anfang 2021 kam die weitere Drohung einer dritten Welle durch zwei in Großbritannien und Südafrika aufgetretene Mutationen, die um vieles ansteckender seien als das ursprüngliche Virus. Der Lockdown wurde zuerst bis zum 31. Januar, dann bis zum 14. Februar und dann bis zum 7. März 2021 verlängert. Bei Redaktionsschluss dieses Textes ist eine dritte Variante aus Brasilien aufgetaucht, und eine ZeroCovid-Bewegung, die einen totalen Lockdown bis unter den Schwellenwert 10 fordert, gewinnt nicht nur in den Parteien Zulauf, sondern ist schon bis in das Vorzimmer von Bundeskanzlerin Merkel vorgedrungen.
Die Hegemonie der Virologen wird uns mit den täglichen Infektions- und Todeszahlen präsentiert, ihr Inzidenzwert ist zum Maßstab der „öffentlichen Gesundheit“ geworden.
Ihrem Diktat mit dem Siegel der Wissenschaft stehen wir genauso ratlos gegenüber, wie den regelmäßig vorher oder nachher verkündeten Börsenkursen. Diese Verbindung nimmt ihnen aber nicht die Bedrohlichkeit, denn die Zahlen geben keine Auskunft über die Wirkung und Folgen der Infektion oder die wahre Todesursache. Der Inzidenzwert wird mit der „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ identifiziert, und spiegelt damit einen unantastbaren Entscheidungsmaßstab vor.
Der aber ist schon nach den Vorgaben des Paragrafen 28a IfSG falsch. Denn dieser Paragraf verlangt, dass bei den Entscheidungen über Schutzmaßnahmen „soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen einzubeziehen und zu berücksichtigen (sind), soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19) vereinbar ist“ (Absatz 6 Paragraf 28 a IfSG).
Das Gesetz bezieht sich damit auf den Begriff der Gesundheit, wie er in der Verfassung der World Health Organisation (WHO) von 1946 definiert worden ist: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
Die mageren Informationen über die Entscheidungsfindungen im Corona-Kabinett des Kanzleramts werden jedoch allein vom Inzidenzwert dominiert. Kritik in der Gesellschaft wurde alsbald mit Querdenkern, Verschwörungstheoretikern, Corona-Leugnern und AfD assoziiert und als unseriös ausgesondert. Der Diskursrahmen wurde zunehmend aggressiv verengt, da vor allem die meinungsbildenden Medien sich der Bedrohungsstrategie angeschlossen haben.
In einer Studie der Universität Passau (2) vom August 2020 haben Medienforscher der ARD und dem ZDF einseitige Berichterstattung vorgeworfen, eine thematische „Verengung der Welt und einen massenmedialen Tunnelblick“. Mit der zugespitzten Darstellung der Situation würden sie „permanente Krisen- und Bedrohungsszenarien“ senden und „Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen“ erzeugen. Dramatische Einzelfälle überlasteter Kliniken und immer wieder die Bilder von Intensivstationen treiben den emotionalen Pegel der Sorge und Angst bis zur Panik hoch.
Die Strategie der Angst
Es ist offensichtlich die Angst, die uns in diesen bedrückenden Ausnahmezustand getrieben hat, in dem ein unbelastetes Gespräch immer seltener wird. Kaum ist mehr zu trennen, ob es die Angst vor dem Virus, der möglichen Krankheit oder dem Tod, die Angst vor den unkalkulierbaren Eingriffen und Einschränkungen der Behörden oder die Angst vor den existenziellen Folgen der Politik ist.
Es ist offensichtlich ein Konglomerat sich überlagernder, diffuser, aber sich verstärkender Ängste, das sich lähmend auf die Gesellschaft legt und mehr Zustimmung als Widerstand erzeugt. Vor allem gab und gibt es noch immer keine verlässliche Perspektive, wie wir aus diesem Zwangskarussell wieder herauskommen.
Die Forderungen nach Evidenz und Kontrolle bestehen als uneinlösbare Schlagworte. Virologen und Regierung bleibt nur übrig, uns unablässig damit zu konfrontieren, dass das Virus in immer gefährlicheren Varianten mit einer dritten Welle zurückkommt und sich der Kontrolle entzieht. Die Notbremse der Ratlosigkeit ist der Ausnahmezustand des Lockdowns.
Dabei ist nicht zu bestreiten, dass das Coronavirus ein gefährlicher Krankheitserreger ist. Das war spätestens seit 2013 bekannt und sollte die Politik nicht überrascht haben, wie immer behauptet wird. Denn Anfang 2013 lag den Politikern des Bundestags eine Risikoanalyse des Robert Koch-Instituts (RKI) „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ (3) auf dem Tisch, in der weitgehend das vorausgesagt wurde, was auch sieben Jahre später eintrat:
„Die medizinische Versorgung bricht bundesweit zusammen. Die personellen und materiellen Kapazitäten reichen nicht aus, um die gewohnte Versorgung aufrecht zu erhalten. Der aktuellen Kapazität von 500.000 Krankenhausbetten (reine Bettenanzahl, von denen ein Teil bereits von anders Erkrankten belegt ist, die Bettenzahl ließe sich durch provisorische Maßnahmen leicht erhöhen) stehen im betrachteten Zeitraum (1. Welle) mehr als 4 Millionen Erkrankte gegenüber, die unter normalen Umständen im Krankenhaus behandelt werden müssten. Der überwiegende Teil der Erkrankten kann somit nicht adäquat versorgt werden, sodass die Versorgung der meisten Betroffenen zu Hause erfolgen muss. Notlazarette werden eingerichtet.“
Die sieben Jahre sind nicht dazu benutzt worden, die Gesundheitsvorsorge auf eine derartige Pandemie vorzubereiten. Stattdessen wurde die Privatisierung der Krankenhäuser vorangetrieben und der Empfehlung der Bertelsmann-Stiftung gefolgt, ihre Zahl zu reduzieren. Standen 1991 noch 661.000 Betten zur Verfügung, so waren es 2018 nur noch 498.000, die Anzahl der Kliniken sank von 2.411 auf 1.925. Das bedeutet einen Rückgang um 25 Prozent. Folgerichtig wurde der erste Lockdown mit der Gefahr der Überforderung des Gesundheitssystems begründet. Und dennoch sind im Pandemiejahr 2020 weitere 20 Krankenhäuser geschlossen worden. Wäre diese Entwicklung gestoppt worden und die Gesundheitsvorsorge auf eine Pandemie vorbereitet gewesen, hätte man auf die einschneidenden Maßnahmen in die Freiheitsrechte verzichten können.
Wo aber die Versäumnisse der Verwaltung und der Mangel zum Vorwurf gegen die Politik werden, braucht diese andere Mittel und Wege, um sich die Zustimmung der Bevölkerung zu sichern. Sie schürt die Angst, die ohnehin schon vorhanden ist, wenn es um Gesundheit und Leben geht. Zähe Recherchen haben einen umfangreichen Schriftwechsel zwischen dem Bundesinnenministerium (BMI) und dem RKI sowie mehreren Wirtschaftsforschungsinstituten zutage gefördert, in dem das BMI schon am 19. März 2020 Wissenschaftler um eine Expertise ersuchte, die Grundlage für „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ abgeben könnte, denn es gehe um die „Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Stabilität der öffentlichen Ordnung in Deutschland“ (4). In einem als geheim gestuften Gutachten wurde ein „Worst-Case-Szenario“ entwickelt, welches mehr als eine Million Tote prognostizierte, falls nichts unternommen würde:
„Der Worst Case ist mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich (…) zu verdeutlichen“, heißt es in dem Papier. „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden (…). Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst.“
Die Forscher beließen es nicht bei der Entfaltung eines Szenarios, sondern ergänzten es auch mit Empfehlungen: „Das sich ausbreitende Ohnmachtsgefühl muss wohl durch den Eindruck eines starken staatlichen Interventionismus in Schach gehalten werden.“
Eine alte politische Devise, dass man vor allem Handlungsfähigkeit beweisen muss, wenn man nicht weiß, was zu machen ist.
Diese Strategie der Angst wurde bis heute aufrechterhalten und sei es auch nur mit den täglichen Meldungen über neue Infektionszahlen und Corona-Toten, von den Medien unterlegt mit immer wieder auftauchenden besonders krassen Opferfällen und medizinischen Engpässen in Europa. Diesen Meldungen würde sehr viel von ihrer angsterhaltenden Wirkung genommen, würden sie in den Rahmen der sehr viel höheren Zahlen von Toten der Krebs- oder Kreislauferkrankungen und Krankenhausinfektionen (5) gestellt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Deutscher Bundestag, Drucksache 19/26545 vom 9. Februar 2021.
(2) Dennis Graf/Martin Hennig, https://www.welt.de/vermischtes/article213805128/Wissenschaftler-kritisieren-ARD-und-ZDF-fuer-Corona-Berichterstattung.html
(3) Vergleiche Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode Drucksache 17/12051/03012013 vom 3. Januar 2013, Seite 73.
(4) Vergleiche Anette Dowideit/Alexander Nabert, Maximale Kollaboration, in: Die Welt vom 7. Februar 2021.
(5) Laut Robert Koch-Institut (RKI) vom November 2019 etwa 20.000 Tote pro Jahr.