Der übertölpelte Arbeitnehmer

Aktionäre und Investoren greifen sich einen großen Teil der von den Arbeitern erwirtschafteten Gewinne als leistungsloses Einkommen.

„Guter Lohn für gute Arbeit“ — dieser Satz ist die Lebenslüge kapitalistischer Produktion. Denn so wie es das Motto suggeriert, ist es nur in den seltensten Fällen. Arbeit und Vergütung sind vielfach voneinander getrennte Bereiche. Wer Geld auf sein Konto gespült bekommt, arbeitet oft nicht, und wer arbeitet, bekommt nur einen Teil dessen ausgezahlt, was an Werten als Folge seiner Anstrengungen entstanden ist. In manchen Fällen geht ein Drittel des Lohns, den Arbeiter gerechterweise bekommen sollten, in Form von Dividenden an Aktionäre, die die Fabrikhalle nie von innen gesehen haben. Und das Risiko tragen nicht, wie oft behauptet wird, nur die „Geldgeber“ — auch Arbeitende sind bei Misserfolgen von Job- und Einkommensverlust bedroht. Diese ungerechte Dynamik wird in alltäglichen Diskursen über Wirtschaftsfragen in der Regel verschleiert und sollte beendet werden. Wie lohnabhängige Beschäftigte zur Kasse gebeten werden, zeigt der Autor hier am Beispiel von Mercedes Benz.

Fragestellung

In dem Artikel „Die Umverteilungsagenda“ wurde beschrieben, dass die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen in den letzten 30 bis 40 Jahren stark zugenommen hat. Hauptgrund dafür sind die sogenannten leistungslosen, passiven beziehungsweise Nicht-Arbeits-Einkommen aus Mieten, Pachten, Dividenden und Zinsen.

Pro Jahr fließen derzeit in den USA vielleicht 9.000 bis 10.000 Milliarden Dollar oder etwa ein Drittel des US-Sozialproduktes in Form von Nicht-Arbeits- oder Renteneinkommen an die glücklichen Wohlhabenden des Landes, vor allem an die oberen 1 bis 10 Prozent der Menschen. Ähnliches gilt, wenn auch in unterschiedlicher Größenordnung, für fast alle Industrie- und sehr viele Entwicklungsländer. Meistens ist es in den Entwicklungsländern noch deutlich schlimmer als in den Industrieländern.

In dem Artikel wurde auf die Empfänger abgestellt, diejenigen relativ wenigen privilegierten Wohlhabenden, an die dieser enorme Geldstrom leistungsloser Nicht-Arbeits-Einkommen fließt. Jetzt soll der Blick auf diejenigen gerichtet werden, die die Gelder zahlen: Wie finden diese reichlich asozialen Geldströme konkret statt?

Dazu sollen die Zahlen aus den letzten Geschäftsberichten von Mercedes Benz untersucht werden. Mercedes unterscheidet sich darin wenig von den anderen börsennotierten Unternehmen. Die Zahlen von Mercedes werden rein exemplarisch, lediglich zur Veranschaulichung herangezogen. Mercedes ist in dieser Beziehung weder viel besser noch viel schlechter als andere börsennotierte Unternehmen, sowohl national wie international.

Hohe Gewinne bei Mercedes-Benz seit 2021

Die letzten drei Jahre waren für Mercedes Benz unter Ertragsgesichtspunkten ausgezeichnete Geschäftsjahre. 2021 war das beste Jahr in der Unternehmensgeschichte. Bei einem Umsatz von 168 Milliarden Euro wurde ein Nettogewinn nach Steuern von 23,4 Milliarden Euro erzielt (1). 2022, nach der Abspaltung der LKW-Sparte Daimler Trucks, belief sich der Gewinn nach Steuern auf 14,8 Milliarden Euro, 2023 betrug er 14,5 Milliarden In den 10 Jahren von 2011 bis 2020 lag das Konzernergebnis nach Steuern (inklusive LKWs) zwischen 2,7 und 10,6 Milliarden Euro ( 2).

Daran gemessen waren die Geschäftsjahre 2021 bis 2023 also wirklich hervorragend. Die Netto-Umsatzrendite, also die Gewinne im Verhältnis zum Umsatz lagen in den beiden letzten Jahren etwas unter 10 Prozent. Zum Vergleich: bei US-Unternehmen liegen sie derzeit bei etwas über 10 Prozent (3). Also im Vergleich mit den USA sind die Gewinnmargen bei Mercedes nicht besonders hoch, sind sogar leicht unter dem Durchschnitt.

Wer bekommt die Gewinne?

Aufgrund der erfreulichen Ertragslage konnte Mercedes in den letzten drei Jahren gute Dividenden ausschütten. Für 2021 wurden 5 Euro Dividende ausgeschüttet, für 2022 5,2 Euro und für 2023 5,3 Euro. Das sind die mit Abstand höchsten Dividenden der letzten 15 Jahre (4). In absoluten Beträgen waren das etwa 5,35 Milliarden Euro für 2021, 5,6 Milliarden für 2022 und knapp 5,7 Milliarden für 2023 (5).

Wer bekam das viele Geld? Die größten Aktionäre von Mercedes sind die chinesische BAIC Group mit 9,98 Prozent aller Aktien sowie der chinesische Anleger Li Shufu, der über eine Holdinggesellschaft (Tenaciou 3) 9,69 Prozent an Mercedes hält (6). Drittgrößter Aktieneigentümer ist die Kuwait Investment Authority mit 5,57 Prozent aller Mercedes-Aktien.

Der Rest sind zum größten Teil sogenannte Institutionelle Investoren, das sind internationale Großanleger wie BlackRock, Vanguard, DWS und so weiter 6,5 Prozent aller Aktien werden von deutschen Anlegern gehalten, 93,5 Prozent von internationalen Eigentümern (7). Also die meisten Aktionäre wissen vermutlich nicht so genau, wie man „Sindelfingen“ oder „Untertürkheim“ buchstabiert und dürften die Werke selten oder nie von innen gesehen haben.

Wer hat Gewinn und Wertschöpfung erarbeitet?

Mercedes beschäftigte 2021 im Jahresdurchschnitt etwa 251.000 Menschen, inklusive LKW-Sparte. 2022 waren es 171.400 — ohne LKWs, 2023 168.300 (8). Die Lohn- und Gehaltssumme belief sich 2021 auf 22,9 Milliarden Euro, 2022 betrug sie 16,5 Milliarden, 2023 16,6 Milliarden (9). Die Beschäftigten sind die Menschen, die die Autos geplant und gebaut haben, die die Wertschöpfung des Konzerns erbracht und für den Gewinn gesorgt haben.

Hätte man die Dividende statt an die Aktionäre an die Werktätigen ausgezahlt, die die Wertschöpfung erbracht haben, hätte jeder bei Mercedes beschäftigte Mensch 2021 eine Lohnerhöhung von 23,4 Prozent bekommen können. 2022 und 2023 hätte man die Löhne und Gehälter jedes Beschäftigten um etwa 34 Prozent erhöhen können.

Anders ausgedrückt: Man hat den Beschäftigten etwa ein Drittel ihres Lohnes vorenthalten, um ihn den Aktionären auszuschütten, die die Werke kaum oder nie von innen sehen.

Definiert man die Wertschöpfung eines Unternehmens als die Summe aus Löhnen und Gehältern und der Gewinne nach Steuern, so hatte Mercedes 2021 eine Wertschöpfung von 46,3 Milliarden Euro, 2022 31,3 Milliarden und 2023 30,1 Milliarden. Das ist der Wert, den die arbeitenden Menschen bei Mercedes geschaffen haben. Von dieser Wertschöpfung bekamen die Arbeitenden 2021 49,5 Prozent, 2022 52,7 Prozent und 2023 53,4 Prozent, also gut die Hälfte.

Betrachtet man also alle Gewinne, nicht nur den ausgeschütteten Teil, so wurde den arbeitenden Menschen bei Mercedes in den letzten drei Jahren knapp die Hälfte ihres Lohnes abgenommen und den Aktionären übertragen, die meist gar nicht so genau wissen, wo die Werke eigentlich liegen und was mit ihrem Geld dort eigentlich gemacht wird.

Der Beitrag, den der Aktionär leistet, besteht darin, dass er einmalig für einen Geldbetrag Aktien kauft und dann, solange das Unternehmen existiert, einen Dividendenstrom bekommt. Kauft man ETFs (Exchange Traded Funds) (10) auf Aktienindizes, so ist dieser Dividendenstrom tatsächlich ewig. Denn jedes Mal wenn ein Unternehmen underperformed, wird es aus dem Index entfernt und durch ein gewinnstärkeres ersetzt. Kauft man sich heute in einen Aktienindex ein, bekommt man also buchstäblich ewige Renten. Auch die Urenkel brauchen dann nur die Hand aufzuhalten beziehungsweise das Geld vom Konto abzuheben. Das sind leistungslose Einkommen in Reinform. Sie laufen ewig.

Lohn- und Gehaltsabschläge für die Beschäftigten

Wer zahlt also diese leistungslosen Einkommen für die Anleger? Die Beschäftigten. Sie bekommen einen entsprechenden Lohnabschlag, denn sonst käme ja der Gewinn für die Dividende nicht zustande. Das kann man für jedes Jahr und für jedes Unternehmen ausrechnen.

Konkret heißt das:

Wenn eine Mercedes-Ingenieurin 2023 ein Monatsgehalt von 8.500 Euro hatte, hat sie für den Konzern real etwa 16.000 Euro pro Monat erwirtschaftet. Von diesen 16.000 Euro Wertschöpfung bekam sie etwa 8.500 Euro ab, die Inhaber der Aktienpakete ungefähr 7.500 Euro.

Auf diese Problematik wies Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfschulen, bereits 1919 hin:

„Woher kommen die Schäden im sozialen Leben? […] Davon, […] dass wir nicht bemerken, wie wir in der Lebenslüge leben, wie dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird. […] Das heißt ihn betrügen, ihn übervorteilen“ (11).

Das bringt den Tatbestand gut auf den Punkt.

Die drei Jahre 2021 bis 2023 waren für Mercedes ungewöhnlich ertragsreich. In der Vergangenheit waren die Lohnabschläge der Beschäftigten zugunsten der Aktionäre sicherlich deutlich geringer. Wirft man jedoch einen Blick in die USA, sieht die Lage anders aus. Verglichen mit dem Durchschnitt der US-amerikanischen Unternehmen hat Mercedes selbst in den letzten drei Jahren nicht überragend hohe Gewinne gemacht. In den USA dürften also die Lohnabschläge der Beschäftigten zugunsten der Aktionäre im Normalfall durchschnittlich wohl immer in etwa so groß wie bei Mercedes in den letzten drei Jahren sein oder gar höher.

Alibi für leistungslose Nicht-Arbeits-Einkommen

Das Standardargument für die Existenz solcher leistungsloser Einkommen aus Dividenden lautet: Passive Investoren — es ist hier nicht die Rede von Unternehmerpersönlichkeiten, Entrepreneuren und start-ups und so weiter, die tatsächlich enorme Risiken eingehen und riesiges Engagement investieren, sondern von reinen sogenannten Portfolio-Investitionen — also passive oder Portfolio-Investoren, reine Geld-Investoren übernehmen ein Risiko, das Risiko des Kapitalrückganges oder gar Totalverlustes und dafür müssen sie kompensiert werden.

Das Argument hinkt aber.

Die Beschäftigten tragen auch ein Risiko, sie können bei Wirtschaftsabschwüngen entlassen werden und haben dann Probleme aller Art, wie vergangene Wirtschaftskrisen zeigen, teilweise gar Existenzprobleme, wie etwa in den Jahren 1929 bis 1932 oder 1907/1908.

Auch die Krise 2008/2009 war für viele Arbeitslose, für viele Familien schlimm. Für dieses Risiko fordert aber niemand eine Risikoprämie in Form eines Lohnaufschlags oder Unternehmensbeteiligungen. Dieses Arbeitslosigkeits-Risiko muss stillschweigend von jedem abhängig Beschäftigten in Kauf genommen werden, man sagt „that’s life“ und thematisiert die Frage der Rentier-Einkommen lieber nicht weiter, weil sie zu unbequem ist und es recht heikel wird, wenn man die Sache zu Ende denkt.

Letztlich liegt das an den Machtverhältnissen. Das Investorengeld ist frei, zu wandern, wohin es will, auch über Landesgrenzen hinweg und in andere Anlageformen. Die meisten Arbeitnehmer sind nicht frei. Sie müssen arbeiten, um sich oder ihre Familien zu ernähren.

John Maynard Keynes über „funktionslose Investoren“

Der vielleicht berühmteste Volkswirt John Maynard Keynes kritisierte die geschilderten leistungslosen oder Rentier-Einkommen schon 1936 in seiner wegweisenden „General Theory“ scharf:

„I see, therefore, the rentier aspect of capitalism as a transitional phase (…) that the euthanasia of the rentier, of the functionless investor, will be nothing sudden (…) so that the functionless investor will no longer receive a bonus“ (12).

Keynes sieht in dem Rentier-Kapitalismus keinen Sinn und bezeichnet Investoren, die Renten-Einkommen beziehen als „funktionslose Investoren“ („functionless investors“), also sinnlose Investoren, die keinen Beitrag zum Wohlergehen in der Ökonomie leisten. Solche funktionslosen Investoren müssten laut Keynes verschwinden, weil sie keinen ökonomischen Zweck erfüllen und dürften nicht länger einen Bonus erhalten. Genau das tun aber letztlich die großen Aktionäre von Mercedes-Benz Group alle — und die Aktionäre aller börsennotierten Aktienunternehmen auch. Sie bekommen zu Lasten der Beschäftigten ewige leistungslose, passive Nicht-Arbeits- bzw. Renteneinkommen in Form von Dividenden, selbst ihre Urenkel. Wollen wir das wirklich? Ist das fair?