Der Überdruss
Gerade weil wir die Ödnis der politischen Alternativlosigkeit satt haben, können wir Hunger auf Neues entwickeln.
Überdruss ist nicht ausschließlich etwas Schlechtes. Er kann auch eine starke Quelle der Fantasie sein, die sich unter seinem Druck vom Gewohnten ab- und völlig anderen Bereichen zuwendet. Die nicht mehr zu ertragende Müdigkeit angesichts der ranzigen Parteienherrschaft, deren Rituale seit ungefähr 40 Jahren nur noch eine peinliche Farce sind, könnte sich also als segensreich erweisen. Auch wenn Spätgeborene die Vergeblichkeit politischer Hoffnungen innerhalb des alten Systems vielleicht noch nicht so gut einschätzen können. Nachdem „der Wähler gesprochen hat“, ist er jetzt wieder vier Jahre lang auf die Zuschauerbank verbannt und muss das Bombardement mit linientreuen „Meldungen“ und „Einschätzungen“ ertragen. Dieser Gedanke kann frustrieren. Wer weiß aber, ob in der jetzt vorhersehbaren bleiernen Zeit nicht auch eine Chance auf einen tiefer gehenden Bewusstseinswandel und auf einen echten Aufbruch liegt.
Früher, sehr viel früher, reichte die Verblendung noch für einen gewissen Enthusiasmus, sich wenigstens „Statements“ anzuhören, die damals noch nicht so hießen. Wer heute eine Befragung oder gar ein „Streitgespräch“ von Politikern nach einer Wahl erträgt, sollte zum Arzt gehen und überprüfen lassen, ob sein Herz und Hirn nicht unbemerkt wegdiffundiert sind.
Es ist eine alte Befürchtung von Demokratietheoretikern, dass der Demokratie die Möglichkeit innewohne, die Demokratie auf demokratischem Wege abzuschaffen.
Nun ist genau das offenbar gelungen: Ehemalige Grundrechte sind nur noch — oder wieder — Gnaden, die bei unterwürfigem Verhalten dem Untertan vorübergehend gewährt werden können. Die Justiz hat sich in Löcher verkrochen, die ihr die Exekutive geschaufelt hat, fällt, wenn überhaupt, skandalöse Schnellentscheidungen ohne Beweisaufnahme und Einsicht in den Fall und lässt einzelnen Abweichlern samt ihren gerichtlich bestellten Gutachtern die Häuser durchsuchen, während der oberste Richter mit der Köpfin der Exekutive diniert, gegen die ihm ein ganzer Stapel zu verhandelnder Klagen vorliegt, und zum Dessert eine flammende Propagandarede der Justizministerin genießen darf.
Die Legislative darf noch nicken und tut das mechanisch. Das Leben an sich gilt als potenziell gefährlich und muss daher bis ins Detail reglementiert, kontrolliert, überwacht und sanktioniert werden. Das ist totalitär, folgt aber dem demografisch ermittelten Wunsch der zu geistigem Tode manipulierten Mehrheit, ist also auch: demokratisch.
Im Wesentlichen erzeugt all das nur noch Überdruss. Im Hintergrund tanzen vormals „kritische“ Künstler und ehemalige Berufsrevoluzzer — zum großen Teil gerade noch rechtzeitig im Frührentenalter und damit, weil sowieso reich genug, im Stadium der sozialen Demenz angelangt — den fröhlichen Ringelreihn der Unterwerfung und trällern die Hymne der Massenkonformität, während die Werke der Aufklärung und -lehnung, die sie einst für 50 Pfennige erworben, aber nie gelesen haben — weil die Gründung „grüner Listen“ zu viel Zeit in Anspruch nahm —, vom Regen aufgeweicht in „Zu verschenken“-Kisten vor den Betonkisten stehen. Überdruss, Überdruss, Überdruss.
Man mag auch nichts mehr hören von „den Fakten“, die vor eineinhalb Jahren, als sie unter dem Geröll der Leitmedienverkündigungen von Einzelnen hervorgezerrt und umgehend als … ach, man mag das Wort gar nicht mehr schreiben … diffamiert wurden, noch aufregend, augenöffnend und spannend waren. Inzwischen sind sie so trivial, dass es einem beim Wiederholen vorkommt, als hätte man den Mund voll mit altem Kaugummi, weshalb man ihn lieber hält. „Schaut in die Geschichtsbücher!“, möchte man den vor Empörung über die Mitlaufverweigerung schäumenden Informationstotalverweigerern zurufen, „später mal!“ Man tut es aber nicht, weil die in solchem Gehabe Terrorismus erfürchten könnten und weil man selber fürchtend ahnt, dass man die Geschichtsbücher, in denen so was steht, nicht mehr zu Gesicht bekommen wird. Falls sie überhaupt je geschrieben werden.
Überdruss also, alles lähmend, zumal da vom herbstlichen Mehltau das Gemüt sowieso angekränkelt den Elan nicht mehr aufbringt, gegen Wände anzurennen, von denen längst der Putz bröselt, die aber erfahrungsgemäß trotzdem noch lange stehen.
„Meine Unfähigkeit erschreckt mich; ich bin nicht fähig, eine von meinen Hoffnungen zu verwirklichen, ja ich vermag nicht einmal, den Prozess ihrer Beseitigung zu schildern“ (Nicolás Gómez Dávila).
Zugleich will auch das viel beschworene „Näherrücken der Einschläge“ nicht mehr viel bewirken, nachdem ich nun endlich — nach vielen geringfügigeren Vorfällen — den ersten Impftoten im eigenen Bekanntenkreis verzeichnen kann — wenn man den immer etwas unangenehmen Nachbarn aus dem vierten Stock der Kindheit zu diesem zählen kann. Immerhin war es schon seine dritte Spritzung, und es ist zu vermuten, dass er diese selbst „wollte“.
Das Wollen ist eine schwierige Sache in diesen Zeiten — kann man unter einer dermaßenen Wucht und Penetranz der viel beschworenen „normativen Kraft des Faktischen“, wie man sie wohl tatsächlich, zumindest im negativen Sinne, seit 1934 nicht mehr erlebt hat, das überhaupt noch: „wollen“? Ich halte es für zweifelhaft. Und überdies müsste die Möglichkeit bestehen, das „Gewollte“, wie man es von reklamegetrieben erworbenen Konsumartikeln seit jeher kennt, nach dem Erwerb umgehend zu verschmähen oder sich nicht zu erinnern, es je gewollt zu haben. Das dauert hier wohl, dazu muss vielleicht auch der Überdruss in völlige Gleichgültigkeit übergehen, bis die ganze Welt in einem nebligen Grau versinkt und echtes Wollen wieder möglich wird.
All das ist ohne Überlegung und ohne Prüfung des bereits Hingeschriebenen hingeschrieben.
„Die Phänomene, die wir sehen, sind als Schein und Augentäuschung entlarvt worden: der Weg der Sonne um die Erde, das in sich ruhende Weltall, die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit. Aber was an die Stelle der Phänomene trat: die Flucht der Galaxien, die Krümmung und Endlichkeit des Raumes, der Uranfang in einem großen Knall — das alles bleibt unvorstellbar und folgenlos und hat keinen anderen Halt als den eines Gerüstes von Annahmen und Vermutungen“ (Jürgen Dahl).
Und wie soll man in einer solchen Welt leben, in der sich die Dahl'sche Diagnose (1979 niedergeschrieben) zum Allgemeinzustand von allem und jedem, innen wie außen, körperlich wie geistig, materiell wie ideell, ausgewachsen hat, in der es nur noch Zukunft, aber nirgendwo mehr Gegenwart und dahinter sowieso nichts mehr gibt, in der es weder Halt noch Grund, weder Antwort noch Frage gibt, in der alles schwimmt und schwirrt und flirrt und in einem ständigen Wehren gegen jegliches Gerinnen kocht und tobt und dampft und die „Erkenntnisse“ der führenden „Wissenschaften“ nichts sind als Strohhalme in einer gilbenden Wiese, die man pflückt, um sie als Inbegriffe zu verstehen? Wie außer: überdrüssig?
Wo ist das Leben selbst hin? fragt der Überdrüssige, wie er das seit Urzeiten tut, seit der Überdruss in die Welt kam. Und übersieht jetzt wie damals, dass er es doch sein sollte, der lebt, dass das aber alleine nicht geht, wie ein einzelner Strohhalm auf einem verbrannten Feld nichts mehr hervorbringen kann, weshalb auch diesem nichts bleibt als: Vergehen im Überdruss.
Was also tun, um den Überdruss zu überwinden? Sich aufmuntern mit dem Gedanken, der Strohhalm könne immerhin noch Körner hervorbringen, die im nächsten Jahr keimen und sprießen, sogar noch gedüngt und belebt von der Asche der Katastrophe? Kann sein. Ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es die „68er“ vielleicht nie gegeben. Ohne die 68er wiederum gäbe es vielleicht die derzeitige Situation nicht oder anders, in der der nächste Marsch in den Krieg gegen genau den gleichen Gegner von fast genau jenen als unvermeidlich ins Massenbewusstsein gepeitscht wird, die durch das apokalyptische Ende des letzten solchen Versuchs überhaupt erst zu sich geworden sind. By the way: „Apokalypse“ heißt im Grunde nichts anderes als Offenbarung.
Das Wahrscheinlichste und Vermutlichste ist:
Wir müssen endlich wieder lachen lernen. Dass die Deutschen über Hitler, Göring, Goebbels und die ganze Bagage jahrzehntelang nicht zu lachen sich trauten, hat mehr Unheil angerichtet, als man meint.
Der Kaiser ist nackt, ja. Verschwinden wird er aber erst, wenn wir darauf hinweisen, wie erbärmlich und lächerlich er ohne sein Faschingskostüm ist, wenn er mit schlackerndem Pimmel unter dem Wanst vor dem Volke paradiert.
Ich frage mich das ja seit Monaten: Wie gelingt es den Nachrichtensprechern, täglich, stündlich einen derartigen Unfug wie „Das RKI meldete siebentausendvierhundertzwölf Neuinfektionen“ in Mikrofone zu sprechen, ohne spätestens nach „meldete“ lauthals in Gelächter auszubrechen und umgehend eine Gelolepsie zu erleiden? Ich freue mich auf den Tag, an dem das geschieht: an dem alle Fenster in Schwabing — und anderswo — aufgerissen werden und von überall her das befreite, befreiende Gelächter der Menschen und ihrer zusammengebrochenen Einpeitscher erklingt. Siehe den Film „Network“ — dort vergeblich, hier dringend nötig, selbst wenn, auf lange Sicht, möglicherweise auch vergeblich: „Ihr könnt mich alle am Arsch lecken! Ich lass mir das nicht mehr länger gefallen!“
Vergeblich dort vielleicht, weil ohne Gelächter. Der „Populismus“, der lacht, ist noch nicht erfunden. Viel zu tun für Überdrüssige.
„I have no time for lies and fantasy, and neither should you“ (John Lydon).
Und abschließend sei auf Zeile 7 dieser Notate verwiesen — nämlich die, die die ungefähre Melodie liefert: „Die, die die!“