Der Toten Bett
Alexander M. Schwan lotet in einer stimmungsdichten Erzählung das Ungeheuerliche herrschender Verhältnisse bis in tiefste Dimensionen aus.
In der sprachlich anspruchsvollen und dichten Titelerzählung des gleichnamigen Erzählbandes „Der Toten Bett“ spiegelt Alexander M. Schwan das derzeitige Geschehen. Die Menschheit als Opfer von Profit wird in einer reduzierten und gegenüber der Wirklichkeit leicht gebrochenen Szenerie mehrschichtig eingefangen. Schwan konfrontiert den Arzt Doktor Dro, unmittelbar nachdem dieser einem Neugeborenen die mögliche, aber verbotene Medikation zur Heilung verweigert hat, auf dem Bett einer bereits toten Frau mit dem hinterlassenen Kunstwerk eines Massenmörders, eine Anspielung auf die Zeit des Nationalsozialismus. Diese Verschränkung der eigenen Tat mit der Ästhetik des Ungeheuerlichen lässt Doktor Dro weiter in einen scheinbar wirren Traum driften. Am Ende nahen Sirenen ... Der Autor schreibt dazu: „Darf man verehren, was nicht sein darf? Es bewundern oder staunend scheuen? — Die vorliegende Erzählung untersucht diese Fragen literarisch im Rahmen einer Pandemie, die vor allem die Schwächsten trifft: die Hineingeborenen. Jener Mediziner, der das Heilmittel verborgen hält und halten muss, da es vom Feindesland stammt, flüchtet in den kannibalischen Traum politisch korrekter Kulturvernichtung.“
Doktor Dro wird das Neugeborene sterben lassen. Wie es sich windet im Schlaf, eigentlich putzig. Kaum kriegt es Atem. Aber was sollte er tun? Gab es denn ein Heilmittel? Gab es Erlösung? Dro kaute die Zunge im Mund, dass es brannte. Abbeißen, abbeißen, dachte er, abbeißen und ewig schweigen. Nimmer ein Wort darüber verlieren müssen, daran denken, war Strafe genug. Er blickte also zu den Eltern, die aus tränenverquollenen Augen flehend seiner suchten. „Es tut mir leid, wir haben alles in unserer Macht Stehende getan.“ — kauen und schlucken, nur die Spitze, wo sie sich spaltet, vielleicht wächst sie ja nach, vielleicht fängt der Schaft auch an zu eitern, auf dass er aus der Mundhöhle faule.
Die Hand hob er wie zum Gruß, eher einem „Ave Caesar“ als einem „Ave Maria“, was der Assistenzärztin bedeutete, die Maschine abzuschalten, die dem Menschlein Uterus und Lunge war. Erst geschah nichts, außer, dass die Anwesenden in gespanntem Erwarten näher, unwillkürlich auch etwas zusammenrückten. Dann krümmte es sich, ähnlich einer erschlagenen Spinne, mit nach allen Raumrichtungen verrenkten Gliedern, in sich zusammen und wieder aus sich heraus, weltumspannend. Schon sah Dro das Herz alle paar Sekundenbruchteile durch die neonbleiche, fast transparente Haut der Früchenbrust schimmern, in immer schnellerem Takt, ganz Kolibri im Sturm der Gezeiten. Niemand rührte sich, wiewohl aus unterschiedlichen Gründen: die Assistenzärztin in Erwartung weiterer Befehle; Dro im Bemühen eine tragische Szene, wenn nicht zu verhindern, so zumindest hinauszuzögern; die Eltern sediert von tumber Hoffnung, die ihnen die Ruhe des leitenden Arztes förmlich einflößte.
Dann, so wie Dro den Raum verließ, stürzten sie, endlich reinkarniert, zum Kasten; er hörte sie schluchzen und krampfen, sah inwendig, als er den Flur durchschritt, wie der Vater die Mutter, deren Beine haltlos waren, auffing; nein, bei diesem Paar war es umgekehrt, fing die Mutter den Vater, das zu wissen, musste er nicht anwesend sein, zu oft hatten sich solche oder ähnliche Szenen in den letzten Wochen ereignet, als dass er kein Gespür dafür hätte entwickeln können.
Niemand durfte erfahren, dass es ein Heilmittel für die grassierende Pandemie gab, niemand durfte erfahren, dass sein Einsatz des Wohls der Allgemeinheit wegen verboten war. Der Allgemeinheit Wohl? Der herrschenden Allgemeinheit Wohl. Die eigentliche würde ihn gelyncht haben. Er schnaufte, trat grüßend an einem weißen Kittel vorbei in den nächsten Raum, den er leer wähnte. Gerüchte machten bereits ihre Runde, unter den Pflegern und Schwestern wurde gemunkelt, auch die Rettungssanitäter wussten darüber zu berichten, wenn sie rauchend auf ihre Dialysepatienten warteten: Das Heilmittel wurde unterdrückt, denn es war vom Teufel! Doch soll es der Frau des Innenministers, kurz bevor sie gebar, verabreicht worden sein. Auch einigen namhaften Vermögenden soll es das Kinderglück ermöglicht, einen greisen Scheich sogar gerettet haben. Jedoch wagte niemand von Gewicht davon zu erzählen: Wie schnell führten haltlose Anschuldigungen zu Verhaftungen am helllichten Tag, denen, einem Schuldeingeständnis gleich, nicht selten Gefängniszellenselbstmorde folgten? Der Nächste, ich? Ich, der Nächste, bitte!
Im Zimmer war es still. Am Bett einer in der Nacht Verstorbenen lag aufgebreitet eine Tageszeitung. Ein metallener Apparat mit Schaltern, aus dem krumm ein Rohr ragte, schnurrte mitten im Raum; gegen das Fensterlicht besehen, sah Dro den feinen Nebel eines Aerosols dem Rohr entsteigen: das starke Bleichmittel sollte wenigstens dieses Zimmer so lange vom tödlichen Keim befreien, bis der nächste Patient es wieder kontaminierte. Dro, der es, ob des Hinweisschildes an der Außenseite der Tür, nicht für nötig befand, abzuschließen, trat ans Krankenbett. Die vor Erregung zitternden Fäuste bohrte er, die Zeitung zwischen ihnen, in die Matratze aus beigem Kunststoff, dass ihr ein Schnauben wie ein letzter Atemzug entwich.
Der Leitartikel berichtete mit nicht wenig Pathos über den unbekannten Krankheitserreger, der nicht nur, aber vor allem Neugeborene rettungslos befiel. Die Bevölkerung, insbesondere Schwangere, wurden aufgefordert, öffentliche Plätze und Orte so gut es gehe zu meiden, bis ein Heilmittel gefunden sei. Die Regierung, beruhigte der unbenannte Autor, sei der Lage Herr; viel schlimmer noch wüste der Erreger in den Nachbarstaaten, und insbesondere in jenem despotisch geführten Land, dass mit seiner Desinformation und Propaganda Zwietracht in dieser — Dros — demokratischen Republik sähen wolle.
Ein etwas abgeschiedener Absatz am rechten Rand ganz unten erwähnte, dass die Regierung erwäge, den medizinischen Notstand auszurufen, um gegen den Einspruch der parlamentarischen Opposition, wohl aber zum Schutze der Bevölkerung, Ausgangssperren zu verhängen. Dro ahnte, dass vonseiten der verunsicherten Zivilbevölkerung kaum Widerstand zu erwarten sei.
Indessen lagerte das Heilmittel keine dreihundert Meter unter ihm in den atombombensicheren Kellerlabors, die nur über den bis dato unbenutzten Atomschutzbunker und auch da nur über eine versteckte Sicherheitstür zugänglich und darum im allgemeinen Bewusstsein ebenso wenig existent waren wie das Geheimnis, das sie bargen: Dass in dem vom Leitartikelautor despotisch genannten Land längst ein Heilmittel entwickelt worden war. Dass die Krankheit dort erfolgreich zurückgedrängt werden konnte. Dass die Regierenden jenes Landes, ohne zu zögern, mit Proben des Heilmittels und dem Angebot, die biochemische Synthesemethode den hiesigen Pharmakonzernen entgeltlos zur Verfügung zu stellen, an die lokalen Regierenden herangetreten waren.
Dass die Konzernvorstände auf Anraten namhafter Unternehmensberater das Angebot zurückwiesen, da ein Heilmittel kein Business Case wäre, wohingegen das Palliative der gegenwärtigen Maßnahmen mittelfristig hohen Umsatz garantiere. Dass besonders scharfe Militärs und Geheimdienstler, die jeder demokratischen Kontrolle entzogen handelten, den Regierenden empfahlen, dem geopolitischen Feind nur ja keinen Triumph zu gönnen. Dass Vertreter aller drei eben genannten die Zeiten günstig wähnten, den ärgsten Feind des Allgemeinwohls im Inneren, den — nur allzu leicht zu verwirrenden — Willen des Individuums, für repressive Maßnahmen empfänglich zu machen.
An Dro, der die epidemiologische Forschungsabteilung der Klinik leitete, waren zwei Herren und eine Dame vom Nachrichtendienst mit den Heilmittelproben herangetreten, „in Vertretung der Regierung“, wie sie sagten. Dro wurde zu höchster Geheimhaltung ermahnt. Sie brauchten nicht erst mit Konsequenzen zu drohen, es war das Heitere ihres Auftretens, die Helligkeit, mit der das Schwarz ihrer Anzüge raschelte, wenn sie sprachen, die Dro überzeugten, hier einem Schlag Menschen gegenüberzustehen, der in dem, was er tat, und insbesondere in all dem, was einen Zivilisten abgestoßen haben würde, seine Berufung gefunden hatte. Wäre er, Dro, mutiger gewesen, wenn er nicht mehr zu verlieren gehabt hätte als die bloße Existenz? Keine Karriere, keine Partnerin, Familie und Freundschaften? Seine Überlegungen, so wie sie an der Wahrheit schabten, wurden weiß wie die Folter, die ihn gebrochen haben würde.
Dro ergriff die Zeitung, als wollte er sie zerknüllen, doch schwang er sich aufs Bett stattdessen. Über das Schnurren des Apparats lauschte er der Hektik des Korridors; sein Blick geisterte dabei unstet durchs Zimmer. Im Bleich der Zimmerdecke erkannte er das Bleich der Früchenbrust und fröstelte. Wie einen Schild hob er das Feuilleton zwischen sich und die Reminiszenz, doch schien sie durch. Erst, als er sich zwang, die Textpassage in Sicht auch zu lesen, verblich die Erscheinung mählich.
„ ... großartigstes, schauderhaftestes Bildnis der jüngsten Geschichte und dennoch so originär wie ...“
Der Artikel besprach ein Kunstwerk, das vor Kurzem im Nachlass einer im Scheinheiligen Land verstorbenen Vertriebenen entdeckt worden war. Diese nämlich war die Haushälterin gewesen, die während des großen Krieges in der Sommerresidenz des heimatliebenden Tyrannen gedient hatte. „Meiner Mutter Herr“, erzählte die Tochter einmal am Treppabsatz zum Gericht, „war ein leidenschaftlicher Maler gewesen, überhaupt ein leidenschaftlicher Mensch par excellence, der jede donnernde Stunde im schlosseigenen Atelier verbrachte, um zu schuften.“ Als das Ende des Ewigen Reiches dämmerte, flohen Mutter und Tochter mit nichts weiter als einem Handkoffer und einer in Packpapier gerollten Leinenmalerei.
Das Bildnis, eine herrliche Scheußlichkeit von abstoßender Pracht, war eigentlich nicht erst jetzt entdeckt worden, tatsächlich lag die Entdeckung bereits Jahrzehnte zurück, da die Tochter, von finanzieller Not getrieben, einen Kunsthändler bat, das Werk zu schätzen. Dieser, entgegen ihrer Abmachung, das Geheimnis zu wahren, machte die Entdeckung publik. Seitdem stritten das Kultusministerium des Exillandes und jenes des Ursprungslandes der Vertriebenen mit der Tochter um die Besitzansprüche.
Die Tochter, führte der Artikel aus, verehre es zu sehr, als dass sie es verkaufen wolle, denn es erinnere sie an eine Kindheit abseits der Bombenschauer, da sie mit Mutter und den übrigen Bediensteten im tief gelegenen Atelier der Entwarnung harrte. Stundenlang mochte das dauern, und dass es ihr nicht langweilte, noch graute, verdankte sie dem Pinselschwung des vor der Leinwand Versunkenen. Dort war es, wo sie im gestrengen Herrn, vor dem alle mit den Hacken knallten, wenn er an ihnen vorüberschritt, einen fähigen Maler erkannte und nicht den Architekten von Massengräbern, als welcher er ihr im Exilland hingerichtet worden wäre.
Und das Bildnis, befand der Feuilletonist, bestach mit seiner Simplizität. Wie es nicht verehren können? Wie nicht daran gesunden? Warum also die Debatte, ob des Werkes Schönheit bewundert werden dürfe im Bewusstsein — auch im Unbewusstsein — des Terrors, des Leids, der Gewalt, die es, wenn nicht schufen, so doch bedingten? Der Zweck heiligt die Mittel auch rückwirkend nicht! Warum also verdammen, was einem Verbrechen entspringt, dass geschehen und nicht wieder gut zu machen ist? Die Seele stirbt ein wenig immer mit.
Dro fiel in Schlaf und träumte wild. Von einem Autor, der, ohne etwas verbrochen zu haben, medial gehetzt wurde. Denn er vertrat der Meute Meinung nicht: Hochverräter! Bald beugte sich sein Verlag dem Druck der Presser und kündigte jede Zusammenarbeit. Jener Autor aber schrieb ebenso kritisch weiter, doch wagte niemand, seine Schriften zu veröffentlichen. Also ging er ins Exil, wo sein Geist im Weltenraum der Toren zum Irrlichtern verdammt war. Er verendete in den Hängen der Provinz beim Lesen satter Trauben, wiewohl nicht unglücklich; doch seine Schriften wurden öffentlich verbrannt, im Auftrag selbst ernannter Westweltwächter.
Plötzlich: Dro am Scheiterhaufen an eben jenem Tag, da Bücher, Schriften, Folianten schwarze Schwaden stoßend brannten. Dort war ein Kreischer mit priesterlichem Ton und Kleid, und eine Menge, deren hohle Wangen hörig spannten. Inmitten des Brandes, des Rauches: Dro, aufrecht durch die Flammen schauend des Elends Fratzen. Bald war der Haufen durchkohlt, glomm kein Einband mehr, nur lichter Nebel erklomm die Himmel stumm.
Die Menge, als hätte sie‘s erwartet, rückte näher. Ausgemergelter Gesichter Nüstern flatterten wie Schwärmer um den Medikus herum, leichte Beute witternd, süßes Blut. Dro, der schreien wollte, fand sich fortgestoßen, fiel hinab. Durch Lumpenbeine, die ihn übersteigend im engen Kreis sich scharten, sah er: Wo eben nur die Asche war, regte sich ein Menschenkind, ein zartes. Es war schon halb gebacken und wohl geräuchert. Mit schauderhaftem Grunzen packten, was zu fassen sie bekamen, packten Zehen, Finger, Arme, Beine, Schopf; wie mürbe riss das Fleisch, schnalzte Rohes vom Gebein. Noch ehe Dro sich rührte, sich entschloss zu helfen, sich empörte, war das Kindlein fort.
Als Dro den Traum verlor, lag er, nun müder als zuvor, auf der Toten Bett, das Haar ihm bleich. War das schon Bahre, war das sein Grab? Vom Fenster nahende Sirenen weckten, was als Wesen sich erhob.
Die Erzählung ist im April 2021 als Teil des gleichnamigen Erzählbandes „Der Toten Bett“ bei MyMorawa als Taschenbuch und E-Book erschienen. Er kann hier bestellt werden.