Der Terror-Monat
Für die Sahel-Staaten in Westafrika war der Juni 2024 von Gewalt und Umbrüchen geprägt — allerdings schreitet die Entkolonialisierung voran.
Eine gesprengte Ölpipeline und Terrorangriffe auf Militärposten im Niger zeigen, dass das Sahelgebiet aufgrund seines Ressourcenreichtums zum großen Krisengebiet geworden ist. Während der Westen allein auf militärische Stärke und koloniale Ausbeutung setzt, die er mit wirklich allen Mitteln zu erhalten sucht, punkten China und Russland mit Infrastrukturprojekten, Lebensmittelhilfe und Kreditlinien.
Terrorakte gegen chinesische Ölpipeline im Niger
In der Nacht zum 16. Juni 2024 verübte eine sogenannte Patriotische Befreiungsfront (Front Patriotique de Libération/FPL) einen Terrorangriff auf die nigrische Infrastruktur, indem sie einen wichtigen Abschnitt der Ölpipeline, die vom Agadem Rift-Becken im Osten Nigers zum Atlantik Hafen Seme-Kpodji in Benin führt, sprengte (1). Für den bettelarmen Niger bedeutet der Ausfall dieser Ölpipeline, die erstmals nigrisches Öl auf den Weltmarkt bringen soll, eine wirtschaftliche Katastrophe (2).
Bereits am 12. Juni war laut der nigrischen Armee im Süden des Landes ein Angriff von „bewaffneten Banditen“ auf diese Pipeline erfolgt, der jedoch vereitelt werden konnte. Allerdings waren bei der Verteidigung der Pipeline sechs nigrische Soldaten getötet worden.
Die fast 2.000 Kilometer lange Ölpipeline war erst 2022 fertiggestellt worden und verfügt über eine Kapazität von 90.000 Barrel pro Tag (3). Eine frühere Planung hatte den Transport des Öls vom Binnenland Niger durch Libyen ans Mittelmeer vorgesehen, wobei das nigrische Öl in Libyen in das dort bereits vorhandene Pipelinenetz hätte eingespeist werden können. Bekanntlich fanden diese Planungen 2011 mit der NATO-Intervention in Libyen ihr Ende. Mit der Sprengung der Niger-Benin-Pipeline ist vorerst auch der Weg zum Atlantik versperrt.
Wie sich die FPL, die mit weiteren Anschlägen auf wichtige zivile Infrastruktur im Niger droht, „patriotisch“ nennen kann, bleibt ihr Geheimnis. Das von der FPL genannte Ziel dieser Terroranschläge ist angeblich die Befreiung des ehemaligen nigrischen Präsidenten Mohamed Bazoum, der seit dem Militärputsch im Juli 2023 im Präsidentenpalast in der Hauptstadt Niamey unter Hausarrest steht. Ihm droht eine Anklage wegen Hochverrats, seine Immunität wurde am 14. Juni 2024 aufgehoben (4). Bazoums Wiedereinsetzung fordert auch Frankreich.
Bei der Berufung Frankreichs und des Westens auf Bazoum als gewählten Präsidenten wird geflissentlich übersehen, dass die Regierungen des Niger in einer ständigen Abfolge von Wahlen und geduldeten Putschen an die Macht kamen und dass die Oppositionspartei bei den Wahlen 2020, bei denen Bazoum als Gefolgsmann seines Vorgängers Issoufou die Macht errang, Bazoums Sieg nicht anerkannte und von Wahlbetrug sprach. Wie schon Issoufou stimmte auch Bazoum offen seine Politik eng mit seinen militärstrategischen Partnern in den USA und in Europa ab (5).
Niger wurde sogar als südliche Außengrenze der Europäischen Union bezeichnet, an der der Zustrom von Migranten gestoppt werden sollte.
Das dem Niger aufgezwungene Gesetz 2015-036 kriminalisierte nicht nur Migranten, die das Land Richtung Norden durchquerten, sondern schränkte auch die Bewegungsfreiheit und damit den Lebensraum der Beduinen, die sich bis dahin zwischen allen Staatsgrenzen frei bewegen konnten, stark ein.
Nach dem Militärputsch 2023 übernahm mit großer Zustimmung der Bevölkerung ein Nationaler Heimatschutzrat die Macht. Der neue, starke Mann im Niger ist General Abdourahamane Tiani (auch Tchiani) (6). Das nigrische Militär ist nach seiner Machtübernahme „aus dem Migrationsdeal mit Europa ausgestiegen und hat das Gesetz aufgehoben“ (7). Ein Paukenschlag für die EU.
Der ehemalige Leiter von Friedensmissionen in Afrika, Jacques Baud, sagte anlässlich des Staatsstreiches im Niger:
„Wir behandeln Afrika wie ein Kleinkind und wollen keine Partnerschaften auf Augenhöhe“ (8).
Allerdings hinkt dieser Vergleich, denn für Kleinkinder trägt man Verantwortung und lässt ihnen Pflege angedeihen, während westliche Regierungen im Allgemeinen, und die französische Regierung im Besonderen, die Menschen im Niger — gezwungen zu einem Leben in bitterster Armut, mit mangelhafter medizinischer Versorgung und völlig unzulänglichen Bildungsmöglichkeiten —, völlig kalt lassen. Für die vor sich hin strahlenden Uranabräumhalden fühlt sich selbstverständlich auch niemand zuständig. Der Slogan „Black lives matter“ dürfte in afrikanischen Ohren wie reiner Hohn klingen.
Niger kündigt Uranverträge mit Frankreich
Nach der Pipelinesprengung am 16. Juni 2024 kündigte die Regierung des Niger am 20. Juni an, die Zusammenarbeit mit dem französischen Konzern Orano (ehemals Areva) zu kündigen. Orano ist in Imouraren, einer der größten Uranlagerstätten der Welt, tätig. Zwischenzeitlich war der Abbau gestoppt worden, sollte jetzt jedoch wieder aufgenommen werden. Der Niger hatte Orano vorgeworfen, sich nicht an vereinbarte Fristen zu halten. Orano hatte das für französische Atomkraftwerke so wichtige Uran fast geschenkt bekommen, das heißt weit unter dem marktüblichen Preis. Sollte sich Frankreich jetzt auf dem freien Markt mit Uran versorgen müssen, dürfte dies eine beträchtliche Steigerung der bisher äußerst günstigen Energiekosten in Frankreich zur Folge haben (9).
Inzwischen wurde auch ein Gesetz erlassen, „das das kanadische Unternehmen Barrick Gold, das im Niger eine der weltgrößten Goldminen betreibt, de facto enteignet. Abgesichert wird die Übernahme der Goldmine übrigens von russischen Soldaten“ (10).
Terrorakt richtete sich auch gegen China
Eine weitere Forderung des FPL richtet sich an China, dessen staatliche China National Petroleum Corporation und das Unternehmen WAPCO die Niger-Benin-Pipeline betreiben. China wurde aufgefordert, Finanzhilfen für die derzeitige Militärregierung des Niger einzustellen. Versagen politische und militärische Mittel, scheinen terroristische Methoden wie Sprengung von Pipelines inzwischen zum Repertoire des Westens zu gehören. Afrikanische Beobachter gehen jedenfalls davon aus, dass Frankreich hinter der FPL steckt (11).
Da Benin, in dessen Atlantikhafen die Pipeline endet, ein enger Partner Frankreichs ist, sind die Beziehungen zwischen dem Niger und Benin seit dem Militärputsch im Sommer letzten Jahres unter dem Gefrierpunkt. Bereits am 9. Mai 2024 blockierte Benin die Ausfuhr des für China bestimmten Rohöls aus seinem Hafen. Mit Öllieferungen für die Dauer von zwölf Monaten wollte Niger von China gewährte Kredite zum Ausbau der Infrastruktur in Höhe von 400 Millionen US-Dollar begleichen.
Die Erdölexporte sollten laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Niger ein Wirtschaftswachstum von 11 Prozent bescheren und es damit zum wachstumsstärksten Land der Subsahara-Staaten machen. Diese Zahlen lassen erahnen, welch unglaubliches, bisher vom Westen unterdrücktes, wirtschaftliches und gesellschaftliches Entwicklungspotential in den Staaten der Sahelzone steckt, die bisher zu den ärmsten der Welt zählen.
Die westlich orientierte Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) hatte letztes Jahr nach der Machtübernahme des nigrischen Militärs nicht nur die Land- und Luftgrenzen zum Niger geschlossen, sondern auch mit einem später wieder abgeblasenen Einmarsch, unterstützt von den USA und der EU, gedroht (12). Hierzu bemerkte Arnold Schölzel:
„Die erste Reaktion des Westens auf den Umsturz im Niger war die Drohung, den Konflikt zu internationalisieren, d.h. den Krieg im Sahel auszuweiten. Anderes fiel dem Westen nie ein, wenn es galt, Unbotmäßigkeit in der als Hinterhof betrachteten Region niederzuschlagen. (…) Die rassistisch geprägte Arroganz, mit der Paris und London 2011 den Krieg gegen Libyen eröffneten, ist nicht vergessen — wie auch die Pläne für eine wirkliche wirtschaftliche Unabhängigkeit Afrikas des unter NATO-Aufsicht viehisch ermordeten Muammar al-Gaddafi. (…)
Als sich die Staatszertrümmerung Libyens wie vorhergesagt auf die Staaten des Sahel ausweitete, machten die Fußtruppen des Westens — dschihadistische Kopfabschneider, hochgerüstete Schmuggelkartelle und korrupte Militärs — der Staatlichkeit dort zugleich den Garaus. Alles unter Aufsicht einer verhassten UNO-Truppe. (…) Die einzige Antwort des Westens auf Niger lautet daher wie gehabt: Gewalt“ (13).
Anfang 2024 wurden die von ECOWAS verhängten Sanktionen wieder aufgehoben, wobei die Landesgrenzen zwischen Niger und Benin weiterhin geschlossen blieben (14). Im Januar verließ Niger, ebenso wie Mali und Burkina Faso, die ECOWAS (15). Alle drei Staaten haben sich zwischenzeitlich zum Verteidigungsbündnis Allianz der Sahel-Staaten (Alliance des États du Sahel/AES) zusammengeschlossen, um sich vor einem Einmarsch der ECOWAS zu schützen.
Der Rauswurf des westlichen Militärs
In Niamey, der Hauptstadt des Niger, befand sich ein großer französischer Luftwaffenstützpunkt mit etwa 1.500 Soldaten. Die Zahl der US-Soldaten auf der Militärbasis nahe Agadez, weltweit die größte ihrer Art und erst 2013 in Betrieb genommen, dürfte 1.000 überstiegen haben. Der Plan Washingtons war es gewesen, Militärstützpunkte in der gesamten Sahelzone zu errichten, um China und Russland aus diesen Gebieten zu verdrängen (16).
Die Vorarbeiten für diese Militarisierung des gesamten Sahel- und Saharagebiets leistete laut Jeremy Keenan, Anthropologe und hervorragender Kenner dieser saharischen Gebiete, im Jahr 2003 die Bush-Administration und die algerische Regierung, indem sie die Entführung von 32 europäischen Touristen, in der Mehrzahl Deutsche, inszenierten und dies anschließend islamistischen Terroristen in die Schuhe schoben (17).
Damit wurde in der Weltöffentlichkeit ein Klima erzeugt, dass es ermöglichte, aus angeblichen Sicherheitsgründen Militärbasen in der gesamten Sahel- und Saharazone zu errichten und Touristen von dieser nun durch und durch militarisierten Gegend fernzuhalten.
Keenan ist auch der Überzeugung, dass dschihadistische und al-Kaida-Gruppen mit Unterstützung des Westens im Sahel und in der Sahara tätig sind. Bestätigung finden diese Vorwürfe darin, dass es trotz enormer Präsenz westlicher Militäreinheiten nicht gelungen ist, die Aktivitäten dieser radikal-islamistischen Gruppen einzudämmen — ganz im Gegenteil. Stattdessen wurden auch im Niger immer wieder ganze Dörfer bei Drohnenangriffen zerstört und deren Bewohner getötet. In seinem Polit-Thriller „Never Say Anything“ thematisierte Michael Lüders schon 2019 die Unmoral der US-amerikanischen Drohnenangriffe im Sahel.
De Niger verwies mittlerweile die Militärs der USA und Frankreichs des Landes, deutsche und italienische Soldaten sind in geringer Anzahl noch vor Ort. Der Abzug der US-Truppen und der Abtransport der US-Ausrüstung aus dem Niger soll am 15. September 2024 beendet sein. Derzeit befinden sich noch 600 US-Militärs im Land. Charles Brown, Vorsitzender des Generalstabs der US-Armee, sagte:
„Es gibt andere Länder in der Region, in denen wir eine kleine Präsenz haben oder zu denen wir Beziehungen unterhalten. Wir werden diese Beziehungen weiter ausbauen, was es uns ermöglichen könnte, die Kräfte, die wir im Niger hatten, in einigen von ihnen zu stationieren“ (18).
Man krallt sich mit aller verbleibender Kraft in Afrika fest (19).
Russland zeigt Flagge
Auch die wohl gewollten Misserfolge bei der Bekämpfung von IS und al-Kaida im Sahel waren ein Grund für die Annäherung der Sahelstaaten an Moskau, insbesondere als in Afrika nicht mehr die private russische Wagner-Gruppe, sondern das russische Verteidigungsministerium das militärische Sagen hatte. Der Anführer der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, dessen Motive vor allem in persönlicher Bereicherung und im Machtzuwachs lagen, wurde vermutlich vom Kreml mittels einer Flugzeugexplosion entsorgt. Inzwischen unterstützt Moskau nicht nur militärisch die Allianz der Sahel-Staaten, sondern liefert ihnen auch große Mengen Getreide und gewährt ihnen neue Kreditlinien (20).
Anfang Juni 2024 reiste der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow nach einem Besuch im libyschen Bengasi in den Niger, wo er sich mit General Tiani traf. Beide Seiten äußerten den Wunsch, „ihre strategische Partnerschaft auf der Grundlage gegenseitigen Respekts, Vertrauens und der Suche nach koordinierten Lösungen für regionale und internationale Herausforderungen zu stärken“ (21). Dies war nach dem 4. Dezember 2023 bereits der zweite Besuch Jewkurows in Niamey. Russland sandte kürzlich auch Flugzeuge mit Flugabwehr und Militärausbilder in den Sahelstaat.
Dschihadisten- und Putschgefahr in Burkina Faso
Am 11. Juni 2024 kam es in Burkina Faso nahe der Grenze zum Niger zum bisher tödlichsten Anschlag eines al-Kaida-Ablegers namens Dschnim, bei dem über 100 Soldaten getötet wurden. Im Internet verbreitete Videos zeugten von heftigen Feuergefechten rund um den burkinischen Militärstützpunkt (22).
Zur Unterstützung und zum Schutz des Chefs der Übergangsregierung, Hauptmann Ibrahim Traoré, trafen bis zum 18. Juni mehrere russische Transportflugzeuge aus Gao und Bamako (Mali) kommend in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, ein. An Bord sollen sich bis zu 120 malische Soldaten und ehemalige Wagner-Kämpfer, die jetzt unter russischem Kommando stehen, befunden haben (23). Russland scheint aus den Vorgängen am Kongo gelernt zu haben, wo 1960 nach dem Rückzug der Sowjetarmee der ebenfalls sehr charismatische Regierungschef Patrice Lumumba grausam getötet worden war (24).
Auch ein Teil der Armee soll sich gegen Traoré verschworen haben. Am 17. Mai 2024 wurde von einer kurzen Schießerei nahe dem Präsidentenpalast berichtet und von einem Flugblatt der sogenannten Volunteers of the Homeland (VDP), in dem zum Putsch gegen Traoré aufgerufen wurde. Dem DVP sollen Privatpersonen angehören, die die Armee im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen wollen, dem Traoré angeblich zu wenig entgegensetzt (25). Von bestimmten Medien verbreitete Gerüchte, Traoré habe seinen Posten verlassen, wurden offiziell mit Nachdruck dementiert (26).
Der charismatische und in der Bevölkerung beliebte 36-jährige Hauptmann Ibrahim Traoré hatte am 30. September 2022 den ebenfalls durch einen Putsch an die Macht gelangten Paul-Henri Sandaogo Damiba gestürzt und regiert seither das Land. Schon unmittelbar nach der Machtübernahme Traorés wurde am 26. September 2023 ein Putschversuch gegen ihn vereitelt und mehrere Gendarmerieoffiziere wurden festgenommen, ebenso konnte am 20. Januar 2024 eine gewaltsame Demonstration niedergeschlagen werden. Am 26. Mai erklärte der Militärrat, dass die Übergangsperiode aufgrund der prekären Sicherheitslage um fünf Jahre verlängert werde und Traoré solange im Amt bleiben soll (27).
Burkina Faso, das ebenfalls zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, hat mit russischer Hilfe im November 2023 unter staatlicher Kontrolle seine erste Gold-Raffinerie in Betrieb genommen. Das Golderz soll im Land verarbeitet und die Gewinne der Betreiber ordnungsgemäß versteuert werden.
„Erstmals kassiert der Staat Burkina Faso maßgeblich an der eigenen Goldförderung“ (28).
Mali und seine Goldvorkommen
Wie Niger und Burkina Faso hat auch der dritte Staat des Sahelbundes, Mali, dschihadistische Gruppierungen wie al-Kaida und IS zu bekämpfen, die wohl durch die CIA und mit ihnen befreundete Geheimdienste in die Sahel- und Saharagebiete eingeschleust wurden und als deren Bodentruppen dienen. Wer sonst könnte nicht nur das Interesse an, sondern auch die Mittel für deren Finanzierung, Bewaffnung und Erstarkung haben sowie ihre Logistik gewährleisten?
Auch das bettelarme Mali versucht, sich wirtschaftspolitisch neu zu justieren, und hat ein Minengesetz verabschiedet, nach dem der Staat fortan mit 35 Prozent anstatt wie bisher mit 20 Prozent an den Goldminen beteiligt ist. Zusätzlich soll eine eigene Gold-Raffinerie entstehen. Zudem gibt es Neuigkeiten, was das Uran betrifft. Jens Berger schreibt:
„Für den Uranbergbau hat Mali bereits einen neuen Partner gefunden. Statt mit den Franzosen arbeitet man nun mit der russischen Rosatom zusammen.“
Keine erfreulichen Entwicklungen für den Westen, denn laut Jens Berger gab es so viel Dekolonisation „schon lange nicht mehr. Und das ist gut so“ (29).
Was für eine Schande für die westliche „Wertegemeinschaft“, dass ausgerechnet die an Rohstoffen wie Uran, Gold und Erdöl so reichen Staaten der Sahelzone zu den ärmsten Ländern der Welt zählen, deren Menschen an Hunger und Krankheiten leiden und es an Bildung fehlt.
Statt auf die Entwicklung dieser Länder setzte der Westen auf Ausbeutung, Gewinnmaximierung und die Zusammenarbeit mit korrupten „Eliten“ — und dies alles unter dem Deckmäntelchen „demokratischer Wahlen“, die in der Verfasstheit dieser Länder nicht mehr als eine gute Lachnummer sind. Und sollte wirklich ein Machthaber mit Aussicht auf Erfolg gegen den westlichen Imperialismus aufmucken, wird er kaltblütig aus dem Weg geräumt — Leichen pflastern seit Jahrzehnten diesen kolonialen Weg. Das Vertrauen in den Westen dürfte auf Jahrzehnte zerstört sein.
Die Lage in weiteren westafrikanischen Staaten
Sudan. Anfang Juni 2024 trafen sich in der nigrischen Hauptstadt Niamey hochrangige sudanesische Militärs, darunter General Schams ed- Din Kabashi, mit dem nigrischen Übergangspräsidenten Omar Tiani. Besprochen wurde die Lage im Sudan, eines kriegsgebeutelten Landes, in dem sich die Schnelle Eingreifgruppe (Rapid Support Forces/RSF) von Mohamed Hamdan Dagalo mit der sudanesischen Armee (Sudanese Armed Forces/SAF) von Abdel Fattah al-Burhan schwere Kämpfe liefert, die die dortige Bevölkerung in eine katastrophale humanitäre Notlage bringen.
Zunächst hatte das private russische Militärunternehmen Wagner die RSF unterstützt, doch nach der Übernahme der Wagner-Kämpfer durch das russische Verteidigungsministerium wurden die Seiten gewechselt und Moskau unterstützt nun die SAF und General al-Burhan, mit dem es ein Abkommen über einen Stützpunkt am Roten Meer schließen konnte.
Eine besondere Bedeutung kommt der libyschen, am Mittelmeer gelegenen Hafenstadt Tobruk zu, über die Russland militärische Ausrüstung nach Nordafrika bringt. Dem Militärmachthaber im Osten Libyens, Khalifa Haftar, der mit seinem US-amerikanischen Pass als Mann der CIA gilt, wirft die sudanesische Armee vor, er unterstütze die RSF durch Lieferung von Waffen- und Militärausrüstung. Seit der Übernahme der Wagner-Kämpfer durch die russische Regierung versuchen die USA, Russland aus dem östlichen Libyen zu drängen. Bisher ohne jeden Erfolg.
Der sudanesische General Kabbashi reiste vom Niger weiter nach Mali, wo er den Übergangspräsidenten General Assimi Goita traf. Auch hier wurde ein bilaterales Kooperationsabkommen geschlossen, das unter anderem die Eröffnung einer sudanesischen Botschaft in Bamako und die Wiederaufnahme der Aktivitäten des malischen Konsulats im Sudan vorsieht. Daneben ging es ebenfalls um die Zusammenarbeit zwischen dem Sudan und anderen Sahelstaaten bei Sicherheitsfragen (30).
Frankreich gab am 18. Juni 2024 bekannt, dass es seine Militärpräsenz aufgrund der Paris-feindlichen Regierungen vor allem im Senegal und in Gabun, aber auch an der Elfenbeinküste und im Tschad verringern will. Diskutiert wird auch die Möglichkeit, Militärstützpunkte mit den USA gemeinsam zu betreiben. Da der logistische, personelle und materielle Zugang zu diesen Ländern aufrechterhalten werden soll, plant die französische Armee ein Afrika-Kommando einzurichten, der kommandierende General sei bereits benannt. Berichten zufolge beginnt Paris auch, mit Togo und Benin über den Bau großer militärischer und logistischer Einrichtungen auf deren Territorium zu verhandeln, um die in Niger, Mali und Burkina Faso verlorenen Einrichtungen zu ersetzen. RT schreibt dazu:
„Die Grundlage der französischen Präsenz auf dem Schwarzen Kontinent bleibt bisher der finanzielle Einfluss und die Arbeit mit den lokalen ethnischen Eliten auf der Basis von Korruption und ‚Französisierung‘“ (31).
Wobei vor allem die Elfenbeinküste und der Senegal als „Bollwerke der Stabilität“ für den Westen in der Region galten.
Tschad. Auch Nachbarn der Sahel-Staaten-Allianz wie der Tschad haben den USA die militärische Zusammenarbeit aufgekündigt. Es sollen sich dort nur noch 20 Militärangehörige und eine Gruppe von Marines aufhalten, um die US-Botschaft zu schützen (32). Kann es Zufall sein, dass ausgerechnet am 18. Juni 2024 ein Feuer in einem großen militärischen Munitionslager ausbrach, bei dem mehrere Menschen ums Leben kamen? „Außenminister und Regierungssprecher Abderaman Koulamallah sprach von ‚gewaltigen Explosionen‘ und rief die Bevölkerung auf, ruhig zu bleiben.“ In der Umgebung des Munitionslagers befindet sich der einzige internationale Flughafen des Landes sowie ein französischer Militärstützpunkt (33).
Senegal. Im Senegal gewann im März 2024 der Oppositionskandidat Bassirou Diomaye Faye die Präsidentschaftswahl mit robuster Stimmenmehrheit überraschend bereits im ersten Wahlgang. Der bisherige Präsident Macky Sall hatte zuvor die Wahlen schon abgesagt, scheiterte aber mit seinem Versuch der Wahlverhinderung am Protest der Straße (34). Der jetzige Präsident Faye gilt als Anhänger des linken Pan-Afrikanismus und will die Öl- und Gasförderverträge mit dem Westen neu verhandeln.
Elfenbeinküste. In der Elfenbeinküste regiert der 82-jährige Präsident Alassane Dramane Ouattara seit 2011. Bei seiner Wiederwahl 2020 hatten die Oppositionsparteien zum Wahlboykott aufgerufen. Es kam zu Zusammenstößen, bei denen mehr als 30 Menschen starben. Im März dieses Jahres gab Ouattara bekannt, bei den Wahlen 2025 ein weiteres Mal antreten zu wollen. Auch in der Elfenbeinküste wachsen in der Bevölkerung die Ressentiments gegen Frankreich. Mit einem Teilabzug seiner Truppen versucht Paris, die Position des frankophilen Präsidenten Ouattara zu stärken. Es bleibt fraglich, ob und wie gut dies gelingen wird (35).
Gabun. Am 30. August 2023 hatte das Militär in Gabun geputscht und so eine dritte Amtszeit des Präsidenten Ali Bongo Ondimba verhindert. Am 4. September 2023 wurde der Brigadegeneral Brice Oligui Nguema als Übergangspräsident vereidigt. Der neue Premierminister Gabuns, der noch im Mai 2024 mit allen militärischen Ehren in Paris empfangen wurde, will ebenfalls die westliche Militärpräsenz im Land überdenken, die bestehenden Verteidigungsabkommen mit Frankreich allerdings nicht infrage stellen. Immerhin sind in Gabun seit dem 30. August 2023 keine französischen Flaggen mehr verbrannt worden (36).
1960 gilt als das „Jahr Afrikas“, in dem 17 postkoloniale afrikanische Staaten entstanden. 2024 könnte das zweite „Jahr Afrikas“ werden, in dem sich afrikanische Staaten nun auch ihre wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit erkämpfen — von der westlichen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt.