Der Technokratie auf der Spur
Im weltweit ersten Gespräch mit Vertretern der Technocracy Inc. analysiert Tom-Oliver Regenauer die Kernziele eines knapp 100 Jahre alten Konzepts, das uns heute als elementarer Baustein supranationaler Machtergreifung begegnet.
Es war das erste Gespräch dieser Art in der jüngeren Vergangenheit: Im Austausch mit Vertretern der Technocracy Inc., namentlich Justin Lazarra, amtierender Präsident, und Charmie Gilcrease, ehemalige Archivarin, analysiert der Journalist Tom-Oliver Regenauer die Kernziele eines knapp 100 Jahre alten Konzepts, das uns heute, in Zeiten „künstlicher Intelligenz“, als elementarer Baustein supranationaler Machtergreifung begegnet.
Die bedeutendste Organisation unserer Zeit verfügt weder über Mittel noch Personal. Selbst für ein Update der eigenen Webseite scheint das Geld zu fehlen. Trotzdem hat sie mehr Einfluss auf den Lauf der Welt als UN, WEF, GAVI, die US-Regierung oder die Philanthropie-Vehikel der „Superclass“ (D. Rothkopf, 2008). Denn die Konzepte, die sie vertritt, sind integraler Bestandteil eines jeden Projekts, jeder Agenda, jeder technischen, ökonomischen, sozialen und legislativen Entwicklung unserer Zeit.
Gemeint ist die Technocracy Inc — eine Bewegung, die 1919 in New York City mit der „Technical Alliance“ ihren Anfang nahm und dank der Umtriebe des zwielichtigen Howard Scott ab 1933 landesweit für Aufsehen sorgte. In der Hochphase waren über eine halbe Million Mitglieder in landesweiten Ortsgruppen organisiert, man publizierte ein eigenes Magazin namens The Technocrat und machte durch scheinbar progressive Ideen von sich reden. So interessierten sich bald auch Oligarchen wie die Rockefellers für Scotts technisch noch nicht weiträumig realisierbare Konzepte — denn sie versprachen in finaler Ausprägung ein Herrschaftsmodell zentralisierter Monopole, das Wirtschaft und Gesellschaft abseits zeitaufwendiger demokratischer Prozesse mit Automatismen dominiert. Eine „bedarfsorientierte“ Herrschaft der Maschinen.
Nicht umsonst bezeichnete selbst eine Mainstream-Publikation wie The New Yorker die Organisation in einem Artikel vom 19. September 2023 als „quasifaschistische“ Bewegung und wies darauf hin, dass auch der Großvater von Elon Musk, der Technokratie seit Jahren selbst als perfektes Gesellschaftsmodell preist, eine führende Rolle bei der Technocracy Inc. innehatte.
Was in den 1930er-Jahren noch nach Zukunftsmusik klang, weil Speicherkapazitäten, Rechenleistung und Übertragungsraten Scotts Konzepten damals nicht gerecht wurden, ist heute bittere Realität. Von der QR-Code-gesteuerten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben während der Coronakrise über die eID und digitale Zahlungssysteme bis hin zum per Smartphone ermittelten CO2-Fußabdruck, der in naher Zukunft die Individualmobilität steuern wird: Jetzt funktioniert Technokratie. Und sie greift Raum. Rasant. Weltweit.
Vor diesem Hintergrund habe ich am 5. Juni 2022 meinen Artikel „Ideologie der Zeitenwende“ veröffentlicht, der sich sehr kritisch mit der Geschichte und den Konzepten der Technokratie-Bewegung sowie deren Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft beschäftigt.
Umso erstaunter war ich, als besagter Text am 5. November 2022 in englischer Sprache auf der offiziellen Webseite der Technocracy Inc. erschien, die ich zufällig aufrief, um ein Dokument von Howard Scott zu suchen. Ich nahm Kontakt zu den Betreibern der Seite auf und fragte, warum mein Text dort publiziert wurde — und ob Vertreter der Bewegung bereit wären, vor der Kamera über meine Ausführungen zu sprechen. Zu meiner Überraschung waren sie es.
So kam es im Januar 2023 zu einem weltweit einmaligen Gespräch. Denn in jüngerer Vergangenheit sprachen Autoren, Journalisten und Podcaster häufig über die Technocracy Inc., aber nie mit Vertretern dieser Bewegung. Ein Fehler. Denn das Ergebnis der Kontaktaufnahme ist eine respektvolle, offene und bereichernde Konversation, die verdeutlicht, dass deren Teilnehmer in der Analyse des Istzustands weithin konform gehen: Das herrschende System des Krisen- und Überwachungskorporatismus — der „Corporate States of America“ — ist von Grund auf korrupt und muss ersetzt werden.
Sobald es jedoch um Lösungen und den Sollzustand geht, wird klar, dass Jill Lepore vom New Yorker mit ihrer Einschätzung vom September 2023 richtig lag. Lediglich das „quasi“ sollte sie vielleicht noch streichen.
Tom-Oliver Regenauer im Gespräch mit Charmie Gilcrease und Justin Lazarra
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