Der Tag danach
Wer einen Atomkrieg als Option in Betracht zieht, sollte sich ein realistisches Bild von dessen Auswirkungen machen — der Film „The Day After“ eignet sich hierfür hervorragend.
Sich nicht ohne Maske in den Supermarkt trauen, aber einen Atomkrieg als Option hinnehmen — die realistische Gefahreneinschätzung ist bei einigen Zeitgenossen aus Politik und Medien gehörig aus dem Gleichgewicht geraten. Das Risiko eines Atomkriegs wird in etwa so betrachtet, als sei dies nur eine bittere Pille, die man für ein höheres Ziel schlucken müsste. Doch bei dieser „bitteren Pille“ handelt es sich um eine Zyankali-Kapsel für die gesamte Menschheit. Denn würde es tatsächlich zu einem massenhaften, wechselseitigen Einsatz von Nuklearwaffen zwischen dem Westen und Russland kommen, dann gäbe es am Ende auf dieser Welt gar nichts mehr. Und schon gar keine Sieger. Doch diese Vorstellung ist für die entsprechenden Akteure wohl zu abstrakt. Verstärkt wird diese Realitätsleugnung dadurch, dass viele im Amt befindliche Politiker die Atomangst im Kalten Krieg nicht persönlich miterlebt haben. Hier kann die Macht der Bilder Abhilfe verschaffen. 1983 erschien der Atomkrieg-Film „The Day After“, der selbst nach fast vier Jahrzehnten kaum etwas von seiner beklemmenden Wirkung eingebüßt hat. Diesen Film sollten sich unbedingt all jene ansehen, die in einem Atomkrieg lediglich ein etwas größeres Feuerwerk sehen.
„Die Erfindungen für Menschen werden unterdrückt, die Erfindungen gegen sie gefördert“ (Bertolt Brecht).
„Pershing II“ — das war eines der ersten englischen Wörter, das mir als Kind geläufig war. Es handelt sich um die Typenbezeichnung einer US-Mittelstreckenrakete, einer nuklearen Boden-Boden-Rakete, die mit einem thermonuklearen Sprengkopf vom Typ W85 ausgestattet war, eine Reichweite von etwa 1.800 km hatte und somit von Süddeutschland aus Ziele im westlichen Russland binnen fünf Minuten erreichen konnte.
Screenshots „The Day After“, 1983
Es war Anfang der 1980er-Jahre. Die Zeit des Kalten Krieges. Eine Bezeichnung, die George Orwell mit seinem Essay „You and the Atomic Bomb“ (Du und die Atombombe) im Jahre 1945 geprägt hatte. Die Fronten waren verhärtet. Die westdeutsche Friedensbewegung protestierte lautstark gegen die Stationierung von Atomsprengköpfen auf heimischem Boden.
Nachdem die im NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 vereinbarten Abrüstungsverhandlungen zwischen den Atommächten jedoch erfolglos geblieben waren, entschied der Deutsche Bundestag am 22. November 1983, der Stationierung von US-Atomwaffen im Lande zuzustimmen. Diese war 1985 abgeschlossen und ganze 120 Exemplare der todbringenden Massenvernichtungswaffe in der Bundesrepublik verteilt worden. Außer Deutschland tat kein Land den USA diesen Gefallen.
Ich hatte die militärische Artikelbezeichnung „Pershing II“ im Radio aufgeschnappt, welches zu Hause fast durchgehend in Betrieb war, und später ein paar Bilder der Raketen in den Abendnachrichten gesehen. Noch gab es nur ARD, ZDF und das Regionalprogramm. Dementsprechend rar waren visuelle Informationen. Und aufgrund meiner frühen Begeisterung für Fluggeräte aller Art zeichnete ich daraufhin ständig Raketen.
Da ich außerdem bereits in diesem zarten Alter von fünf oder sechs Jahren extrem von Musik angetan war und durchweg versuchte, englische Songtexte, zum Beispiel von den Beatles, dem Klang der Stimmen folgend nachzusingen, übte auch der fremd klingende Begriff „Pershing II“ eine gewisse Faszination auf mich aus.
Was mir meine Eltern diesbezüglich sagten oder erklärten, kann ich leider nicht mehr erinnern — als erklärte Pazifisten nahmen sie die latente Gefahr eines Nuklearkrieges aber sicher nicht mit der spielerisch-kindlichen Leichtigkeit, die ich im Umgang mit gemalten oder gebastelten Raketen an den Tag legte. Das Thema nukleare Kriegsführung beherrschte die Nachrichten dieser Zeit und erzeugte Angst. Denn Militärstrategen sprachen Anfang der 1980er-Jahre allen Ernstes davon, dass der Atomkrieg zwischenzeitlich präziser und somit auch führbarer geworden sei.
Damals wie heute absoluter Irrsinn.
Screenshots „The Day After“, 1983
Neben der Berlin-Blockade 1948/1949 und der Kubakrise war die Auseinandersetzung um die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa von 1979 bis 1983 also eine der drei kritischsten Phasen des Kalten Krieges.
Die Angst vor einem Atomkrieg ist wieder da
Nie war die Welt einem fatalen wie letalen nuklearen Schlagabtausch der Supermächte näher als zu diesen drei Zeitpunkten in der Geschichte. Bis heute, so scheint es. Denn die stetig eskalierende Ukrainekrise rückt dieses vergessen geglaubte Horrorszenario wieder in den Fokus der Öffentlichkeit.
Politdarsteller wie der Maoist und China-Fan Robert Habeck äußern dieser Tage dummdreist, keine Angst vor einem Dritten Weltkrieg zu haben. Sogenannte Sicherheitsexperten erklären im ZDF, dass man sich vor Putins Bomben nicht fürchten solle, obwohl man in Mainz permanent Angst schürt und schon am 5. Mai 2022 titelt, „Moskau simuliert Atomangriff in Kaliningrad“.
Der Beobachter Gesundheit gibt Tipps dazu, wie man die Panik vor einem Atomkrieg mental in den Griff bekommen kann, während das deutsche Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) der Bevölkerung bereits empfiehlt, im Zuge der Ukrainekrise Notvorräte anzulegen und Marschgepäck bereitzuhalten. Auf der Webseite „WikiHow“ findet sich ein sehr umfassender, bebilderter Ratgeber mit dem Titel „Einen Atomkrieg überleben“. Beim Lesen der zahlreichen, mutmaßlich nur bedingt hilfreichen Tipps zur Meisterung der nuklearen Apokalypse dürfte jedem normalen Menschen etwas mulmig werden.
Hofberichterstatter Ruprecht Polenz lässt sich beim Propaganda-Multiplikator ZEIT ONLINE am 30. April 2022 dennoch zu der wagemutigen Formulierung verleiten, „wer einen Atomkrieg verhindern will, darf Putin nicht gewinnen lassen“. Solch ein Statement ist nicht nur falsch und realitätsfremd, sondern zeugt gleichsam von der bewussten Negierung von Faktenlage und historischen Hintergründen zur Ukrainekrise. Dabei könnte man es durchaus besser wissen.
Die RAND-Corporation, ein im Jahre 1948 gegründeter, einflussreicher Thinktank der US-Hegemonie, veröffentlichte zum Beispiel schon im Jahr 2019 ein vielsagendes, 354 Seiten umfassendes Strategiepapier unter der Überschrift „Overextending and Unbalancing Russia“. Frei übersetzt: Eine Strategie, um Russland überzustrapazieren und aus dem Gleichgewicht zu bringen — ökonomisch, militärisch und gesellschaftlich —, mit dem singulären Ziel, die geopolitische Dominanz der Vereinigten Staaten zu bewahren. Ein durchdachtes Drehbuch zur finalen Erniedrigung und Bezwingung des ewigen Klassenfeindes sowie dem Erhalt der unipolaren Weltordnung, der Pax Americana.
Der Ansatz der RAND-Corporation: die Osterweiterung der NATO forcieren, das Ansehen Russlands in der Welt zerstören, kostenintensives, nukleares Wettrüsten, die Ukraine bewaffnen, um einen militärischen Stellvertreterkonflikt mit Putin zu provozieren, um die ehemalige Sowjetunion anschließend mittels internationaler Sanktionen — legitimiert durch den brodelnden Krieg — finanziell in die Knie zu zwingen.
Verblüffend, wie sehr doch die im RAND-Strategiepapier aufgezeigte Vorgehensweise den aktuellen Geschehnissen an den Außengrenzen des Riesenreiches gleicht. Fast hat es den Anschein, als folgten die Geostrategen in Washington den Empfehlungen ihrer kostspieligen Thinktanks. Dies ließ sich auch im Zuge der Coronakrise beobachten, die im Ablauf fraglos dem von der Rockefeller-Stiftung erarbeiteten Pandemie-Szenario „Lock Step“ glich, wie Journalist Norbert Häring bereits am 28. Mai 2020 ausführlich berichtete.
Was das totalitäre Krisen-Drehbuch der RAND-Corporation nicht detailliert behandelt, sind die akuten Risiken einer potenziellen nuklearen Eskalation. Denn es endet mit dem möglichen Aufkeimen eines militärischen Konflikts und schließt schlicht mit dem Hinweis:
„Auch wenn die US-Armee nicht direkt an der Operation beteiligt ist, wird sie eine Schlüsselrolle bei der Abmilderung der Folgen spielen. Wie bereits erwähnt, bergen alle Maßnahmen, die der Schwächung Russlands dienen, einiges an Risiko. Infolgedessen werden das Abschreckungspotenzial sowie die operativen Fähigkeiten des US-Militärs in Europa gestärkt werden müssen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Spannungen mit Russland zu einem Konflikt eskalieren.“
Die USA betrachten den Einsatz von Atomwaffen dabei offensichtlich als probates Mittel. Warum sonst modernisieren die Amerikaner seit Jahren ihr Arsenal und geben Milliarden US-Dollar dafür aus? Das macht eigentlich nur Sinn, wenn man plant, diese Waffen irgendwann einzusetzen. Der „Plot“ für die Events nach dem Aufflammen einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland ist vermutlich Verschlusssache und liegt nur Eingeweihten im Weißen Haus, Pentagon, CIA-Hauptquartier sowie den Verbündeten in EU und NATO-Hauptquartier vor. Das ist bedauerlich.
Denn ein Einblick in die aktuellen militärischen Planspiele und strategischen Szenarien der NATO-Hegemonie wäre hilfreich, um zu verstehen, ob die Arroganz des Westens tatsächlich einen Punkt erreicht hat, an dem man einen Atomkrieg in Kauf nehmen würde, um Russland und China auf ihre Plätze zu verweisen und im globalen Club der Technokraten am Kopfende zu sitzen. Um einen Konflikt der Systeme — Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus — handelt es sich nämlich nicht, auch wenn Medien dies gerne so darstellen, sondern um Machtkämpfe innerhalb der internationalen Oligarchie. Die drei Machtblöcke kämpfen um Vorherrschaft in der totalitären Weltordnung der nahen Zukunft.
Die Frage ist nur: Tun sie dies einvernehmlich — oder handelt es sich an Russlands Grenzen um ernsthafte, kriegerische Auseinandersetzungen, die in letzter Konsequenz militärisch entschieden werden müssen?
„The Day After“
Das RAND-Strategiepapier scheint davon auszugehen, dass ein Wirtschafts- und Informationskrieg, begleitet von NATO-Drohgebärden, ausreicht, um das Rennen zugunsten des Wertewestens zu entscheiden. Es gilt zu hoffen, dass diese Interpretation des Schriftstücks zutrifft. Ansonsten läuft die moderne Zivilisation Gefahr, sich in die Steinzeit zurückzubomben. Wie das aussieht, zeigt eindrücklich der Film „The Day After“ (Der Tag danach) aus dem Jahre 1983.
Der zwei Stunden lange Streifen von Regisseur Nicholas Meyer ist bildgewaltig, beängstigend, ernüchternd und deprimierend. Er zeigt nicht nur, wie binnen weniger Tage aus einem Kalten Krieg ein Atomkrieg wird, sondern auch, was dessen schreckliche Folgen sind. Schon ein kurzer, etwas mehr als acht Minuten langer Zusammenschnitt macht klar, dass man ein absoluter Narr sein muss, um keine thermonuklearen Angriffe zu befürchten.
Im Film gibt der US-Oberbefehlshaber nach der Zerstörung des NATO-Hauptquartiers den Befehl zum Atomschlag. Das entsprechende NATO-Protokoll wird aktiviert, und die Raketensilos werden einsatzbereit gemacht. Das Drehbuch lässt offen, wer den Erstschlag führt. Klar ist, dass, sobald die Sprengköpfe des Westens unterwegs sind, Russland einen Gegenangriff mit 300 Interkontinentalraketen auslöst und die Vereinigten Staaten in die Steinzeit bombt.
Überall im Land der unbegrenzten Möglichkeiten steigen feurige Atompilze in den Himmel. Metropolen werden in Sekunden ausradiert, Lebewesen, Pflanzen und Gebäude verdampfen in Feuersbrünsten um den Einschlagsort, ganze Landstriche werden vom Erdboden getilgt — und schon in den ersten Minuten nach Explosion der Nuklearsprengköpfe sterben weite Teile der Bevölkerung. 90 Millionen innerhalb weniger Stunden, wie eine Simulation mit dem etwas unheimlichen Titel „Plan A“ der Princeton-Universität von 2019 berechnet hat.
Der eigentliche Horror beginnt allerdings erst. Denn die schlimmsten Szenen des Films sind jene, die den Zustand der Welt zwei Wochen nach den Atomschlägen zeigen. Im Land herrscht Anomie. Chaos und Zerstörung, wohin man schaut. Vorindustrielle Zustände.
Die Städte sind unbewohnbar, und die Überlebenden leiden an der Strahlenkrankheit. Haare und Zähne fallen aus. Bei manchen binnen weniger Stunden oder Tage, bei anderen dauert es Wochen. Ein grausamer Tod auf Raten. Alles stirbt, siecht dahin. In den Ruinen entstehen Flüchtlingslager. Seuchen brechen aus. Militärkommandos erschießen willkürlich Menschen. Recht, Gerichte und Prozesse gibt es nicht mehr. Und um zu überleben, bewaffnen sich schlussendlich auch die Zivilisten und töten sich gegenseitig. Absolute Barbarei.
Screenshots „The Day After“, 1983
„The Day After“ erklärt nicht, wer diesen Krieg gewinnt, nennt keinen Sieger. Vermutlich weil Regisseur Nicholas Meyer schmerzlich bewusst war, dass es bei einem ausgewachsenen Atomkrieg keine Gewinner geben kann.
Er bedeutet das Ende der modernen Zivilisation. Nicht umsonst hat Albert Einstein früh vor militärischem Missbrauch entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse gewarnt. So lässt der Streifen aus Zeiten des Kalten Krieges auch das Ende offen. Kein Hollywood-Finale. Kein Happy End. Die beklemmenden Gefühle bleiben. Weder Will Smith noch James Bond tauchen auf, um die Welt in letzter Minute doch noch zu retten. Sie ist kaputt. Tot. Eine nuklear verseuchte Wüste. Kein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Wer das Pech hatte, die Erstschläge zu überleben, stirbt langsam, aber sicher — und vor allem qualvoll. Vielleicht sollten Spitzenpolitiker, Dogmatiker, Propagandisten und Kriegshetzer von heute sich diesen Film einmal in Ruhe anschauen, bevor sie leichtfertig derartige Optionen in Betracht ziehen.
Ich habe „The Day After“ nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen — wenige Monate, nachdem ich den Begriff „Pershing II“ das erste Mal als kleines Kind im Radio gehört hatte und meine Eltern neugierig fragte, was es damit auf sich hat — das war ausreichend. Die Eindrücke wirken bis heute. Ich bin mir auch mehr als dreißig Jahre später immer noch der unverrückbaren, indiskutablen Tatsache bewusst, dass es niemals zu einem Atomkrieg kommen darf. Jeder, der diesen Film gesehen, wird das unterschreiben.
Ich jedenfalls werde nie vergessen, wie ich eines Nachts heimlich im dunklen Wohnzimmer der heimischen Dachwohnung ganz nahe vor dem Fernseher saß. Eigentlich durfte ich nur ein paar Mal in der Woche ausgewählte Kindersendungen anschauen. Aber meine Eltern schliefen bereits. Es muss circa 23:00 Uhr gewesen sein, denn nach den Spätfilmen war damals in der Regel Sendeschluss. Und das was war meist gegen eins oder halb zwei.
Just als ich den kleinen Röhrenfernseher anschaltete, begann „im Ersten“ der bis heute in mir nachhallende Spielfilm. Der Tag danach. Zunächst begeistert von den vielen Raketen und irgendwie noch fasziniert von den mir bis dato unbekannten, riesigen Explosionen, die Atombomben auslösen, blieb ich gebannt sitzen. Wie versteinert. Bis zur Schlussszene, in der sich eine Handvoll strahlenverseuchter, zerrissener, verrottender Menschen, die kaum noch Haare auf dem Kopf haben und aussehen wie Zombies, in den staubigen Ruinen einer leeren Großstadt kraftlos in den Armen liegen und hilflos schluchzen. Die Kamera zieht auf. Dann Schwarzblende — und eine letzte, dünne, einsam flehende Stimme im Äther:
„Hello, is anybody there? Anybody at all?“ (Hallo, ist da jemand? Irgendjemand?)