Der Stellvertreterprozess
Am 2. Oktober 2024 begann vor dem Landgericht Stuttgart der Strafprozess gegen Michael Ballweg. Die Anklage fußt auf fragwürdigen Rechenkünsten der Staatsanwaltschaft.
Der Prozessauftakt am 2. Oktober 2024 gegen Michael Ballweg, einen der bekanntesten Köpfe der Coronaproteste, war begleitet von großem Presse- und Öffentlichkeitsinteresse. Wobei gefühlt mehr Journalisten als Zuschauer den Saal und die Justizflure bevölkerten. Die hohen Sicherheitsvorkehrungen mit einer Vielzahl von Justizbeamten kann man auch als Folge des Bildes interpretieren, das Politik und Medien in den Coronajahren von angeblich gewaltbereiten Querdenkern und Coronakritikern gezeichnet haben.
Der erste Verhandlungstag vor dem Landgericht Stuttgart begann mit der Verlesung der Anklageschrift gegen den Gründer der „Querdenken“-Bewegung, und er endete auch damit. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wirft ihm versuchten Betrug in 9.450 Fällen sowie versuchte und tatsächliche Steuerhinterziehung vor.
Ballweg erklärte, sich zur Sache nicht äußern zu wollen. Er werde sich „schweigend verteidigen“, sagte einer seiner drei Verteidiger auf die Frage der Vorsitzenden Richterin. Das trifft es nicht ganz, denn das Prozessteam Ballweg beabsichtigt, die Anklageschrift zu hinterfragen und die Staatsanwaltschaft zu zwingen, ihre Anschuldigungen zu belegen und öffentlich Rechenschaft abzulegen.
Tatsächlich ist diese Anklageschrift so etwas wie der Nerv des Verfahrens. Alexander Christ, der Sprecher von Ballwegs Verteidigerteam, nennt sie ein „lückenhaftes, unzusammenhängendes und unverständliches Erzählungswerk“, das nicht zu einer Anklage tauge. Und sogar das Landgericht hatte sie zunächst in weiten Teilen zurückgewiesen und als „rechtsstaatlich bedenklich“ bezeichnet.
Konkret haben wir vor uns ein Rechenspiel, das man sich antun muss, weil es nicht nur etwas über die Qualität der Arbeit der Ankläger aussagt, sondern auch Fragen zu deren möglichen Motivation aufwirft.
Also: Laut Staatsanwaltschaft Stuttgart soll Ballweg im Zeitraum von Mai 2020 bis Februar 2022 von 9.450 Spendern eine Summe über insgesamt 1.269.902,58 Euro bekommen haben, damit er Proteste gegen die Coronamaßnahmen organisieren kann. Die Spender sollen ihm Beträge zwischen einem Cent und 25.000 Euro überwiesen haben.
Von den 1.269.902,58 Euro Spenden habe Ballweg „belegbar“ 843.111,68 Euro für Querdenken-Aktivitäten ausgegeben, vor allem für die Organisation von Demonstrationen und Kundgebungen. Aber er habe insgesamt 575.929,84 Euro für private Zwecke verwendet, so die Staatsanwaltschaft.
1.269.902,58 Euro - 843.111,68 Euro = 575.929,84 Euro???
Tatsächlich ergibt die Summe allerdings nicht 575.929,84 Euro, sondern genau 426.790,90 Euro.
Die Staatsanwaltschaft wendet ein, dass zu den 1,27 Millionen Euro an Überweisungen für Ballweg noch eine Summe von Bareinzahlungen in Höhe von 204.815,95 Euro hinzukomme.
Dann würde die Rechnung jedoch so aussehen:
1.269.902,58 Euro + 204.815,95 Euro - 843.111,68 Euro = 631.606,85 Euro
Also wieder nicht 575.929,84 Euro — wie kommt die Staatsanwaltschaft überhaupt auf diesen Betrag? Das ist bis heute unklar.
Am 20. März 2023 hatte sie Anklage gegen Ballweg erhoben. In dem Schriftstück finden sich alle hier angegebenen Zahlen. Ich führte mit dem Sprecher der Behörde ein längeres Informationsgespräch über ihr Zahlenwerk und wollte unter anderem wissen, was es mit diesen knapp 205.000 Euro Bareinzahlungen auf sich habe, woher das Geld stamme und warum die Summe nicht zu den 1,27 Millionen hinzuaddiert werde. Seine Antwort damals: Diese 205.000 Euro würden bei den Tatvorwürfen gegen Herrn Ballweg keine Rolle spielen. Dabei gehe es einzig und allein um die 1,27 Millionen Euro.
Am 2.Oktober 2024 taucht die Summe von 205.000 Euro bei der Verlesung der Anklage allerdings doch wieder auf.
Man muss an dieser Stelle noch eine Sache klarstellen: Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschuldigten Ballweg nicht etwa Betrug vor, sondern lediglich „versuchten“ Betrug. Und zwar deshalb, weil es den Spendern und Schenkenden zum Großteil gleichgültig war, wofür genau der Empfänger das Geld ausgab.
Für die Miete einer Kundgebungsbühne, die Toilettenhäuschen am Straßenrand bei den Demos oder zur Finanzierung der Auseinandersetzungen mit Verwaltungsgerichten und dann auch für Strafverfahren. Weil die Geldgeber sich nicht betrogen sehen, kann man dem Empfänger keinen Betrug vorwerfen. Einen „versuchten“ Betrug dagegen schon, denn dabei komme es nicht darauf an, ob der vermeintlich Betrogene sich tatsächlich betrogen sieht. Diese Konstruktion lässt die Möglichkeit offen, dass zwar faktisch kein Betrug vorliegt, aber doch ein — verhinderter — Betrüger. Es ist eine Option zur Kriminalisierung.
Von interessierten Medien, wie zum Beispiel dem SWR, wird diese Rechtskonstruktion in unverstellter Voreingenommenheit bereitwillig aufgegriffen. Sie gibt ihnen die Möglichkeit anzudeuten, dass der geschmähte Querdenker doch ein Krimineller sein müsse. Allerdings gilt auch das nicht unbegrenzt, denn die Staatsanwaltschaft muss einräumen, dass „letztlich bei keinem der Geldgeber der Eintritt eines Vermögensschadens sicher festgestellt“ werden konnte. Und wo kein Schaden, da auch keine Tat. Für alles andere aber gilt: Die Gedanken sind frei.
Zum Beispiel schreibt die Staatsanwaltschaft in vorverurteilender Weise:
„Spätestens im Mai 2020 fasste der Angeschuldigte den Plan, seine durch die Protestmaßnahmen gewonnene Popularität für private Zwecke zu nutzen und sich insbesondere zu seinen Gunsten durch die Spendenbereitschaft der Anhänger der Bewegung Querdenken 711 Einnahmen von einiger Dauer und einigem Umfang zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und zur Mehrung seines Vermögens zu verschaffen.“
Deshalb habe er weitere Veranstaltungen organisiert. Sein Tatplan sei gewesen, die Geldgeber zu „täuschen“ und „bewusst wahrheitswidrig“ zu erklären, das Geld werde für Querdenken-Aktivitäten eingesetzt.
Das Dokument ist regelrecht durchzogen von Mutwilligkeiten, Unterstellungen und Spekulationen.
Unfreiwillige Ironie am Rande: Indem die Staatsanwaltschaft den Querdenken-Gründer bezichtigt, seine Anhänger betrogen zu haben, macht sie sich gewissermaßen zum Advokaten der Querdenker.
Im März 2023 stellte die Strafverfolgungsbehörde dem Landgericht die Anklageschrift gegen Ballweg zu. Die 10. Wirtschaftsstrafkammer prüfte sie und kam zu einem vernichtenden Urteil: Sie attestierte der Anklagebehörde eine tendenziöse und unprofessionelle Arbeitsweise. Ein paar Auszüge aus ihrem Beschluss vom Oktober 2023: Die Staatsanwaltschaft habe die „Ermittlungen nicht abgeschlossen“ und auf „unzureichender Tatsachengrundlage“ Anklage erhoben. Sie habe „nicht den Mindestanforderungen des § 200 der Strafprozessordnung genügt“ und beispielsweise die „Umgrenzungsfunktion der Anklage (Beschuldigter, Tat, Zeit, Ort, Beweismittel) nicht gewahrt“. Sie sei von „fehlerhaften Annahmen“ ausgegangen und arbeite mit „Unterstellungen“, die „rechtsstaatlich durchaus bedenklich“ seien.
Die prüfende Kammer des Landgerichts akzeptierte einzig den Vorwurf der versuchten Steuerhinterziehung, aber nicht versuchten Betrug und versuchte Geldwäsche. Eine schallende Ohrfeige für die Anklagebehörde.
Doch die sah keinen Anlass für Selbstkritik und wandte sich mittels einer „sofortigen Beschwerde“ umgehend an das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart. Das ließ neben der versuchten Steuerhinterziehung auch den Vorwurf des versuchten Betrugs zu, lehnte den der Geldwäsche aber ebenfalls ab. Zugleich eröffnete es als Obergericht formal die Hauptverhandlung, die das Landgericht zu führen hat. In gewisser Weise rettete das OLG damit das schwer beschädigte Ansehen der Anklagebehörde.
Die 10. Wirtschaftsstrafkammer, die die Hauptverhandlung gegen Michael Ballweg eigentlich gar nicht führen wollte, zumindest nicht wegen des Vorwurfs des versuchten Betrugs, wurde von oben dazu verdonnert, sie doch zu führen. Es sind dieselben Richter, bis auf den Vorsitzenden, der inzwischen im Ruhestand ist und durch eine Richterin ersetzt wurde.
Wer in den Coronajahren auf den Straßen unterwegs war, kennt noch eine Realität, die die Geldmissbrauchsvorwürfe unterläuft: Hunderte und Tausende von Demonstrationen wurden im ganzen Land verboten. Auch Demo-Organisator Ballweg wurde wiederholt daran gehindert, Geld für Aktionen auszugeben, wie es Zweck der Spenden war.
Einmal hatte die Polizei in Berlin den gesamten Tiergarten-Park abgeriegelt, damit sich keine Querdenken-Demonstranten versammeln konnten. Ein anderes Mal wurde Anreisenden für die gesamte Hauptstadt Platzverweis erteilt, und Busse wurden zur Umkehr gezwungen.
Von Juni 2022 bis April 2023 saß Ballweg in Untersuchungshaft und konnte kein Geld mehr ausgeben. Sein Vermögen ist bis heute beschlagnahmt. Im August 2024 organisierte er in Berlin bereits wieder eine Kundgebung zu den Themen Corona und Frieden, die 150.000 bis 200.000 Euro verschlang.
Zur Last gelegt werden ihm außerdem fünf Fälle von Steuerhinterziehung, wobei es in vier Fällen bei dem Versuch geblieben sei. Als die Fristen für die Steuererklärungen im August 2022 abliefen, saß Ballweg bereits in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stammheim und war handlungsunfähig.
Zur Prozesseröffnung sagte er:
„Heute war ein wichtiger Tag für Deutschland: Die Aufarbeitung hat jetzt begonnen, auch in meinem Fall“
Am zweiten Prozesstag wurde eine Kriminalbeamtin vernommen, die an den Ermittlungen gegen Michael Ballweg beteiligt war. Die Verteidigung wollte wissen, wie die Ermittler auf die Summe von 575.000 Euro gekommen seien, die Ballweg für private Zwecke benutzt haben soll. Auch der Angeklagte stellte Fragen an die Kriminalhauptkommissarin für Wirtschaftsdelikte. Letztlich erfolglos, sie konnte es nicht sagen. Deutlich wurde, dass die Staatsanwaltschaft die treibende Kraft des Verfahrens ist. Die Verteidigung von Ballweg will die zuständige Staatsanwältin, die die Anklageschrift formulierte, noch als Zeugin laden lassen. Das Gericht stellte eine Entscheidung darüber zurück. Derzeit ist die Anklägerin nicht als Zeugin vorgesehen. Ballwegs Verteidiger erklärten am Ende des Verhandlungstages, schon der erste Tag der Beweisaufnahme habe den Angeklagten vollumfänglich von den Vorwürfen entlastet. Es sei unklar, warum er überhaupt in Untersuchungshaft musste.
Tatsächlich geht es nur vordergründig um die Person Ballweg. Da er für die Corona-Bewegung steht, kann man den Prozess auch als einen Stellvertreterprozess ansehen. Gemeint sind alle, die die willkürlichen Coronamaßnahmen ablehnten und auf die Straße gegangen waren. Der Prozess, für den 33 Verhandlungstage vorgesehen sind, wird am 17. Oktober fortgesetzt.