Der Startschuss

Die Rubikon-Jugendredaktion eröffnet eine Schwerpunktreihe mit einer Vielzahl an Themen.

In Deutschland sind 93 Prozent der freien Journalisten älter als 30 Jahre (1). Wenn das zumindest ein Garant für Qualität wäre, könnte man sich getrost zurücklehnen und im guten Glauben darauf vertrauen, dass die Interessen der jüngeren Bürgerinnen und Bürger dieses Landes schon irgendwie Gehör finden werden. So einfach wollen wir bei Rubikon es uns nicht machen. Wir wissen, dass Demokratie Arbeit bedeutet und dass die Debatte nicht auf diejenigen wartet, die nichts zu sagen haben. Deshalb gründeten wir vor vier Jahren die Jugendredaktion, die bis heute ein Unikat sowohl im alternativen als auch im etablierten Pressespektrum darstellt. In dieser Woche starten wir eine umfangreiche Artikelreihe und zeigen, dass wirklich jede Stimme zählt.

„Geographie ist Schicksal“ (2), schrieb Roger Willemsen einmal und meinte damit zweierlei: Schicksalhaft und ohne unser Zutun geschieht es, dass wir irgendwo auf der Welt zur selbigen kommen, und augenblicklich webt der Ort, an dem dies geschieht, dem Leben eine Melange der Möglichkeiten. Ob wir in Seide oder in Lumpen gebettet werden, ist der reine Zufall — und in diesem Sinne sind wir Menschen nicht alle gleich: Die Frage, wer wir werden dürfen, nimmt nie denselben Ausgangspunkt.

Diejenigen von uns aber, die zufällig in den Staat Deutschland hineingeboren wurden, können sich glücklich schätzen. Das ist ernst gemeint. Seit Jahrzehnten lebt man hier in einer zwar nicht sonderlich direkten, aber doch immerhin konstitutionellen Demokratie. Seit Jahrzehnten auch wahrt man hier den Frieden mit seinen Nachbarn, achtet deren Kultur, baut nationalistische Schranken ab. Und seit Jahrzehnten kann, wer in Deutschland geboren wird, auf einen guten Mindeststandard an Bildung, Gesundheit und Lebensqualität bauen. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber im Großen und Ganzen ist das deutsche Staatsgebiet kein schlechter Ort, um auf die Welt zu kommen.

Manch einem mag das genügen. Manch einer wird ins Ausland blicken, auf die vielen Menschen dieser Welt, die nicht im Wohlstand leben wie wir, die ausgebeutet werden von uns dafür, und wird sagen: Ich habe Glück, und weil ich mich damit brav zufriedengebe, bin ich ein guter Mensch. Damit hat sich die Sache dann.

Doch wer die eigenen Verhältnisse immer nur an denen misst, für deren Elend es kein Maß mehr gibt, verliert bald die Fantasie, verliert den Willen zur Utopie.

So geht es den Menschen in den meisten wohlhabenden Staaten. Neu ist dieser Mechanismus nicht: Immer dann, wenn ein Großreich in der Geschichte so mächtig wurde, die Eliten seiner Gesellschaft so obszön reich wurden, dass sie im Wechselspiel der äußeren Umstände implodieren mussten, schütteln wir neuzeitlichen Hobbyhistoriker tadelnd den Kopf und nennen diese Gesellschaft dekadent. Uns würde das nie passieren.

Doch sind nicht auch wir längst an einem Punkt angelangt, an dem sich unsere Utopien nur mehr in der etwas besseren Rentenversorgung, der etwas fixeren Internetverbindung, dem etwas früheren Kohleausstieg, der etwas faireren Chancengleichheit, den etwas geringeren Mieten, der etwas toleranteren Gesellschaft, kurz: der etwas kühleren Klimaanlage auf dem Highway to Hell erschöpfen?

Die Richtungswahl, wie sie sich in diesem Jahr als Chance geboten hatte, ist ausgeblieben. Statt der CDU die SPD zu wählen, statt der SPD die Grünen, war offenbar für viele Menschen dieses Landes das äußerst denkbare Wagnis zur Veränderung. An der Klippe zur klimatischen, gesundheitlichen, gesellschaftlichen Katastrophe sind wir vor allem müde.

Wir verstehen einander auch nicht mehr. Es ist die Hochkonjunktur der vorschnellen Schlüsse, die wir erleben: Schon ein lapidarer Kommentar zur Corona-Politik, die eigene Wahlentscheidung, die Zeitung, für die man schreibt, ja selbst die Frisur sind uns heute Anlass genug, nicht weiter nachzufragen und dem Gegenüber einen dicken, fetten Stempel aufzudrücken, der in unserer Wahrnehmung fortan Ersatz für das Weltbild des Mitmenschen ist, den genauer zu verstehen wir uns keine Mühe gaben.

Wir sind feige geworden, vorsichtig geworden. Zu einfach ist es, sich in der eigenen Weltsicht einzunisten, zu einfach ist es, Andersdenke auszugrenzen, über sie herzuziehen, sie zu entwerten. In einer Zeit, in der jeder die Moral für sich gepachtet hat, ist unsere Bereitschaft zur Begegnung auf einem historischen Tief. Der Trotz ist zur Mentalität unseres Miteinanders geworden, die Angst vor dem fremden Gedanken zu unserem Ratgeber. Nach 18 Monaten tiefer Spaltung müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Wer geht noch auf den anderen zu, spricht miteinander, nicht übereinander?

Wir sind die Antwort auf diese Frage. Es ist an uns, Demokraten zu sein, Pluralisten im Wortsinne: Menschen, die Vielfalt schätzen und leben.

Hören wir nicht weg, wenn eine Aussage irritiert. Fragen wir nach, wie sie gemeint ist. Verlassen wir uns nicht auf vorschnelle Assoziationen. Sehen wir genauer hin. Nehmen wir die Verwunderung, auch die Abscheu zum Anlass, sie zu überwinden. Hören wir auf, uns abzuwenden, wenn es ungemütlich wird. Werden wir direkt. Nehmen wir uns den Mut, einander zu verstehen, nehmen wir uns die Zeit, einander wertzuschätzen.

Dies ist unsere Utopie in der Jugendredaktion: Eine Gesellschaft, in der wirklich jede Stimme zählt. In diesem Sinne wollen wir in den kommenden Tagen zeigen, dass man nicht über 30 sein muss, um scharfe Analysen, begründete Argumente und empathische Herzlichkeit in die Welt zu senden — mit mehreren Artikeln täglich, zu lesen in unserer Kolumne „Junge Federn“. Denn die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun.


Inhalt der Rubikon-Jugendausgabe:


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/348661/umfrage/altersstruktur-bei-den-freien-journalisten-in-deutschland/
(2) Willemsen, Roger: Deutschlandreise, Frankfurt am Main, 2004, Seite 142.