Der Staatsstreich
In Nicaragua wird ein Regime Change forciert.
Eine Studie, die die Todesfälle bei den Unruhen in Nicaragua untersucht, entlarvt: Nicht die Regierung Daniel Ortegas hat friedliche, meist studentische Demonstranten massakriert. Entgegen der Darstellungen unserer Mainstream-Medien ging die Gewalt größtenteils von den Oppositionellen aus. Sie schreckten nicht davor zurück, Zivilisten zu verprügeln, zu entführen, zu vergewaltigen und bei lebendigem Leib zu verbrennen. Zu diesen Erkenntnissen kommt Max Blumenthal auf seiner Recherchereise nach Nicaragua.
Wie Washington in Nicaragua mitmischt
von Max Blumenthal
Die Monopolisierung des Todes - Wie Washington die Zahl der Todesopfer manipulierte, um einen Regime Change voranzutreiben
Brachte die Sandinisten-Regierung in Nicaragua wirklich mehr als 300 friedliche Demonstranten um? Eine forensische Analyse der Todesfälle entlarvt die Behauptung als gefährliche Lüge.
Eine detaillierte Studie über die Zahl der erfassten Todesopfer in Nicaragua seit der gewaltsamen Aktion zum Sturz des Präsidenten Daniel Ortega und seiner Sandinisten-Regierung zeigt, dass mindestens ebenso viele Sandinisten-Anhänger wie Mitglieder der Opposition getötet wurden. Die Studie, betitelt „Monopolizing Death“ („Die Monopolisierung des Todes“), zeigt, wie parteiische lokale Nichtregierungsorganisationen alle Todesfälle seit April, einschließlich Verkehrsunfällen und Morden an Sandinisten, mit Morden, die von Regierungskräften ausgeführt wurden, in einem Topf vermengt haben. Washington hat die gefälschte Todesrate aufgegriffen, um Sanktionen zu rechtfertigen und den Druck für einen Regime Change zu erhöhen.
Die manipulierte Todesrate war das Kernstück einer Tirade der republikanischen Repräsentantin Ileana Ros-Lehtinen vom 25. Juli im Repräsentantenhaus. Sie warb um Unterstützung für eine Zweiparteienresolution, die den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega dafür verurteilen sollte, angeblich das Massaker an den Demonstranten angeordnet zu haben. Dabei erklärte Ros-Lehtinen: „Herr Vorsitzender, vierhundertfünfzig! So viele Nicaraguaner sind seit April dieses Jahres vom Ortega-Regime und seinen Schlägern ermordet worden.“
Rechtfertigung für Sanktionen
Das Bild, das die Kongressabgeordnete von einem diktatorischen Regime zeichnete, das friedliche Protestanten wie hilflose Wachteln auf einer Gatterjagd niederschoss, sollte Druck erzeugen für einen Angriff auf die Wirtschaft Nicaraguas in Form eines Sanktionspakets wie dem NICA Act (Nicaraguan Investment Conditionality Act). Vizepräsident Mike Pence bestärkte ihr Narrativ. Er verurteilte die Regierung Nicaraguas für „350 oder mehr Tote durch das Regime“. Auch Ken Roth, der altgediente Geschäftsführer von „Human Rights Watch“, stellte sich hinter das Narrativ. Er deutete auch an, dass Ortega persönlich die Ermordung von „300 Demonstranten gegen seine korrupte und repressive Herrschaft“ angeordnet hatte.
Gewalt durch Oppositionelle
Ich war während der letzten zwei Wochen in Nicaragua und habe viele Menschen interviewt, die Opfer der von den USA unterstützen Opposition geworden waren. Ich habe Polizeibeamte getroffen, die mit ansehen mussten, wie ihre Kollegen von gut bewaffneten Einheiten niedergeschossen wurden, während sie selbst den Befehl erhielten, auf ihrer Wache zu bleiben; des Weiteren sandinistische Gewerkschaftsführer, deren Häuser niedergebrannt wurden und normale Bürger, die an Straßensperren entführt oder aus ihren Häusern gezerrt und geprügelt oder gefoltert wurden — manchmal mit der Zustimmung katholischer Priester. Mir wurde schnell klar, dass die nicaraguanische Opposition in ihrem Pokern auf einen Regime Change alles andere als friedlich war.
Es war auch deutlich zu sehen, dass seit dem Beginn der Unruhen im April viele Sandinisten getötet worden waren. Zu den durch die Opposition zu Tode gekommenen Opfern gehört auch Gabriel de Jesus Vado, ein Polizeibeamter von Jinotepe, der diesen Monat aus einem fahrenden Auto gezerrt, entführt und bei lebendigem Leibe verbrannt wurde – vor laufender Kamera. Dies geschah auf einer Barrikade in Monimbo, einem Viertel in Masaya, das die Opposition wochenlang gewaltsam besetzt gehalten hatte.
Oppositionelle Kämpfer verbrennen den Polizeibeamten Gabriel de Jesus Vado an einer Straßensperre in Masaya bei lebendigem Leib, nachdem sie ihn brutal gefoltert haben. Ein lokaler katholischer Priester, Harvin Padilla, wurde dabei gefilmt, wie er sein Einverständnis zu dieser abscheulichen Tötung gab.
„Es kann nicht sein, was nicht sein darf“
Folgt man der Logik des Kongresses und des Weißen Hauses, die die Regierung für jeden einzelnen Todesfall zwischen April und Juni in Nicaragua verantwortlich machen, fanden die Morde an Vado und sage und schreibe zwanzig anderen Beamten der nicaraguanischen Nationalpolizei einfach nicht statt – genauso wenig wie die Tode all derer, die von oppositionellen Paramilitärs ermordet wurden. Daran muss man glauben, wenn man der sandinistischen Regierung die 100-prozentige Schuld an den Todesfällen zuschieben möchte.
Die Manipulation der Todesrate durch den Kongress und die Soft Power westlicher Nichtregierungsorganisationen wird akribisch genau in der Schrift „Monopolizing Death“ aufgedeckt.
Divide et impera
Der Autor dieser forensischen Studie, der unabhängige nicaraguanische Forscher Enrique Hendrix, beschreibt seine Analyse als „Beweis für eine Kampagne, die, ohne einem gerechten Ziel zu dienen, den Tod eines jeden Bürgers zum Anlass dafür nimmt, die Gefühle der Bevölkerung zu manipulieren, um ,Regierung‘ und ,Volk‘ gegeneinander aufzubringen.“
Hendrix erzählte mir, er habe die Studie „Monopolizing Death“ zwei Wochen, nachdem die Anti-Sandinisten-Proteste begannen, in die Wege geleitet. „Alle Oppositionsmedien begannen zu behaupten, diese ganzen Todesfälle hätten sich aufgrund der Regierungskräfte ereignet, und ich zweifelte sehr daran“, sagte er. „Also forschte ich auf den Listen der Menschenrechtsorganisationen nach und versuchte herauszufinden, ob diese Todesopfer alles Studenten waren, wie die Oppositionsmedien behaupteten.“
Der vollständige Text der Studie von Hendrix, ins Englische übersetzt durch die Journalistenkooperative Tortilla con Sal, ist am Ende dieses Artikels verlinkt, einschließlich einer Tabelle, in der jeder Todesfall (auf spanisch) analysiert wird.
Parteiische NGOs
Hendrix‘ Studie untersucht die Todesfälle, die die drei wichtigsten nicaraguanischen Menschenrechtsorganisationen verzeichneten. Diese sind: das Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (CENIDH), der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH), dessen Einbeziehung die Regierung Nicaraguas am 13. Mai angefordert hatte, und die Vereinigung Nicaraguas für Menschenrechte (ANPDH).
Dies sind die Organisationen, auf deren Aussagen sich der Kongress, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte und internationale Soft-Power-Organisationen wie Human Rights Watch stützen, um die Gewalt zu verstehen, die Nicaragua erfasst hat.
Während meines Aufenthaltes in Nicaragua habe ich erfahren, wie Mitglieder von CENIDH und ANPDH aktiv an der Kampagne zum Sturz der Sandinisten-Regierung teilgenommen haben. So wurde mir beispielsweise von drei verschiedenen Studenten der öffentlichen Universität UNAN berichtet, dass der Rechtsberater von CENIDH, Gonzalo Carrion, gemeinsam mit oppositionellen Studenten und Kämpfern anwesend war, als diese den Campus eingenommen haben – Carrion soll ihre Gewalttaten sogar beobachtet haben.
Ramón Avellán, der Polizeipräsident von Masaya, berichtete mir, wie Mitarbeiter der ANPDH gemeinsam mit Oppositionsaktivisten wiederholt an seiner Polizeistation aufgetaucht seien und ihn beschworen hätten, sich zu ergeben. Dies hätte in der Einnahme der gesamten Stadt durch die bewaffnete Opposition resultiert, welche laut Avellán zu einem beachtlichen Teil aus lokalen kriminellen Kartellen bestand.
Die ANPDH wurde in Miami gegründet, wo sich die echte Basis der nicaraguanischen rechten Opposition befindet. Sie wurde in den 1980ern vom National Endowment for Democracy der US-Regierung gegründet, um die Contras als Opfer kommunistischer Brutalität darzustellen. Heute ist die Gruppe die politische Waffe der Wahl gegen die Sandinisten-Bewegung.
Hendrix fand heraus, dass die drei selbsternannten Menschenrechtsorganisationen in Nicaragua die von ihnen aufgezeichneten Todesfälle aus dem Zusammenhang rissen, um neben den Tötungen durch nicaraguanische Pro-Regierungskräfte auch jeden anderen unnatürlichen Todesfall im ganzen Land zwischen dem 19. April und dem 25. Juni eben diesen Kräften anzulasten.
Er entdeckte, dass die Menschenrechtsberichte sieben Todesfall-Kategorien aufführten. Außer einer Kategorie hatte keine etwas mit der Gewalt durch die Regierung zu tun.
Die Kategorien sind wie folgt:
Namensdoppelungen
von den Protesten unabhängige Tode
von der Opposition ermordete Opfer
oppositionelle Aktivisten, einschließlich derer an den gewalttätigen Barrikaden
unschuldige Zuschauer
Namen ohne Daten, durch die sich die Todesursache ermitteln ließe
Todesfälle, die auf den Listen weggelassen wurden
Alles in einen Topf
Laut Hendrix wurden die Berichte von CENIDH, CIDH und ANPDH mit den Todes-„Opfern von Verkehrsunfällen, Banden-Auseinandersetzungen, Raubmorden, versehentlichen Schussverletzungen und — noch absurder — einem Selbstmord aufgefüllt“.
Die Studie der CIDH enthält sage und schreibe neun Namensdoppelungen und alle drei Organisationen spickten ihre Berichte mit 97 von den Protesten unabhängigen Toden. In 77 Fällen, die in den Berichten aufgeführt sind, ist die Todesursache bis heute ungeklärt.
Während die nicaraguanische Opposition laut über völkermordähnliche Massaker an Studenten aufgeheult hat, fand Hendrix durch seine eigenen Nachforschungen heraus, dass von den etwa 60 Todesfällen der anti-sandinistischen Kräfte durch regierungsnahe Truppen nur 16 oder 17 tatsächlich Studenten waren.
Ähnlich viele Opfer auf beiden Seiten
Hendrix‘ forensische Untersuchung ergab schockierenderweise, dass die Opposition mindestens genauso viele Sandinistenunterstützer und Polizeibeamte tötete, wie sie selbst durch die Regierung verlor. Diese Tatsache straft das US-zentrierte Narrativ eines Diktatoren, der friedliche Protestierer niedermäht, Lügen.
Keinem, der mit der Situation vertraut ist, wie sie sich in den letzten drei Monaten entwickelt hat, dürfte es schwerfallen zu verstehen, warum aufseiten der Sandinisten so viele ermordet wurden.
Belagerung durch Oppositionskämpfer
Ende April befahl Ortega seinen Polizeikräften, auf der Wache zu bleiben – als Bedingung für den nationalen Dialog, den er mit der Opposition aufnahm. Der Befehl hatte zur Folge, dass Sandinisten-Unterstützer 55 Tage lang alleine einen nationalen Blutrachefeldzug abwehren mussten. Zahllose Zivilisten wurden verprügelt oder ihre Besitztümer wurden von der Opposition zerstört, nur weil sie der Sandinistenfront angehörten.
Unter den in Hendrix‘ Bericht aufgeführten sandinistischen Todesopfern war auch ein 25 Monate altes Baby, Gabriella Maria Aguirres Kind, das am 13. Juni in Masatepe bei einer Bronchialabsaugung starb, weil ihr Rettungswagen an einer Straßensperre der Opposition aufgehalten wurde.
Währenddessen wurde die Polizei in Städten wie Masaya und Jinotepe buchstäblich belagert – wochenlang von regelmäßigem Essen und medizinischer Versorgung abgeschnitten und in eine offene Feldschlacht mit den Oppositionskämpfern verwickelt, die sie eingekreist hatten.
Die Opfer im Lager der Opposition, die aus Versehen oder durch Gewalt aus den eigenen Reihen getötet wurden, wurden in diesen Berichten auch aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden deswegen von Washington und internationalen juristischen Instanzen nicht berücksichtigt. Dazu gehört zum Beispiel der guatemaltekische Journalist Eduardo Spiegler, der von einer „Lebensbaum“-Straßendekoration erschlagen wurde, umgestürzt von oppositionellen Demonstranten, als er von ihrer Vandalismus-Orgie berichtete.
Ungeprüfte Zahlen
Die nicaraguanische Regierung hat ihre eigene Kommission eingerichtet, die aus unabhängigen Experten besteht und die Todesfälle untersuchen soll, die seit April aufgetreten sind. Laut Hendrix weigert sich der ICHR, Daten von den offiziellen nicaraguanischen Ermittlungen zu übernehmen und verlässt sich stattdessen auf die ANPDH.
Das bedeutet, dass die wichtigste internationale Organisation, die für Schlussfolgerungen aus der Gewalt in Nicaragua verantwortlich ist, sich größtenteils auf eine parteiische NGO mit einer deutlich anti-sandinistischen Tendenz verlässt und nicht unabhängig gearbeitet hat.
Währenddessen haben sich in Washington Kongressabgeordnete wie Ros-Lehtinen nicht nur auf das fehlerhafte Narrativ der Opposition gestützt, sondern auch die Todesrate übertrieben, um für einen verstärkten Angriff auf die Wirtschaft Nicaraguas zu trommeln.
Hendrix betonte, dass „es in so vielen Fällen unmöglich ist herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagen“, weil lokale Menschenrechts-NGOs wie die ANPDH sich für ihre Todesraten-Tabelle so stark auf die äußerst parteiischen Oppositions-Medien stützen.
Er fragte sich, ob „die Manipulation nicht noch größer ist, als wir vermuten.“
Studie in englischer Übersetzung: “Monopolizing death: Or how to frame a government by inflating a list of the dead” by Enrique Hendrix (https://de.scribd.com/document/385040805/Monopolizing-Death-How-the-Nicaraguan-Death-Toll-Was-Manipulated#from_embed)
Max Blumenthal ist Journalist und Schriftsteller. Er hat 2015 das Grayzone Project gegründet, um einen journalistischen Scheinwerfer auf den fortwährenden Kriegszustand der USA und dessen gefährliche heimische Folgen zu richten.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „How Washington and Soft Power NGOs Manipulated Nicaragua's Death Toll To Drive Regime Change and Sanctions". Er wurde vom ehrenamtlichen [Rubikon-Übersetzungsteam]/ https://www.rubikon.news/kontakt) übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.