Der Spaltpilz

Die Debatten um Flucht und Einwanderung entzweien Europa und die deutsche Linke.

Der Kampf zwischen einem Eintreten für geregelte Immigration und einer Utopie, die auf einer Linie mit dem internationalen Finanzkapital liegt, spaltet die Linkspartei und eröffnet so Chancen für das rechte Spektrum.

Einwanderung entzweit Europa und die deutsche Linke
von Diana Johnstone

Die Freizügigkeit ist der Grundwert der Europäischen Union. Die „vier Freiheiten“ sind in die bindenden EU-Verträge und Richtlinien eingeschrieben: freier Waren- und Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr und freier Personenverkehr (Arbeitskräfte) zwischen den Mitgliedsstaaten.

Die Schlüsselfreiheit ist natürlich die Freiheit des Kapitals, die unabdingbare Voraussetzung der neoliberalen Globalisierung. Sie eröffnet dem internationalen Finanzkapital jede Möglichkeit, Profite zu erwirtschaften, über alle nationalen Grenzen hinweg. Die Europäische Union ist der Kern der weltumspannenden „Open Society“, wie sie der Financier George Soros propagiert.
Die Doktrin der „Freizügigkeit“ – erweitert auf das Phänomen der Massenimmigration – ist jedoch dabei, die Union zu entzweien.

Eine deutsche Krise

Seit 2011 flohen Millionen Syrer ins Nachbarland Türkei – eine Folge des vom Westen finanzierten Krieges, um das Assad-Regime zu stürzen. 2015 schließlich bestand der türkische Präsident Erdogan darauf, dass Europa die Lasten mittragen muss. Bald darauf drohte er der EU damit, die „Schleusen“ für die Flüchtlinge zu öffnen, sollten seine Bedingungen nicht erfüllt werden.

Im August 2015 kündigte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an, dass Deutschland alle echten Flüchtlinge aufnehmen würde. Deutschland hatte bereits über 400.000 Geflüchtete ins Land gelassen, weitere 400.000, so die Annahme, waren noch auf dem Weg – wenn nicht mehr. Obwohl Merkels Einladung an die Syrer gerichtet war, wurde sie weithin als unbeschränkte Einladung an alle gedeutet, die aus welchem Grund auch immer nach Deutschland kommen wollten. Zusätzlich zu einer kleineren Anzahl von Flüchtlingsfamilien strömten lange Schlangen von jungen Männern aus allen östlichen Richtungen durch den Balkan gen Deutschland oder Schweden.

Die verbrecherische Zerstörung der libyschen Regierung 2011 öffnete die Schleusen für Immigranten aus Afrika und darüber hinaus. Der Unterschied zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten ging in der Menge verloren.

Die Deutschen selbst waren heftig gespalten zwischen jenen, die das Engagement für christliche Nächstenliebe begrüßten, und jenen, die die wahrscheinlichen Folgen fürchteten. Die Meinungsverschiedenheiten waren emotional zu sehr aufgeladen und zu subjektiv, um sie einfach rational zu diskutieren. Letzten Endes hängt die eigene Auffassung davon ab, ob man Immigranten als Individuen oder als Masse wahrnimmt. Gegenüber individuellen Menschen überwiegt das Mitleid. Man möchte sie kennenlernen, sich mit ihnen anfreunden, ihnen helfen.

Gegenüber einer Masse verhält es sich anders, weil man die gesellschaftlichen Folgen bedenken muss und nicht weiß, wer alles kommt. Einerseits sind da die negativen Folgen: Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die zu geringeren Löhnen führt, die Kosten der Fürsorge für Menschen ohne Einkommen, das Potential asozialen Verhaltens einzelner entfremdeter Menschen, Konkurrenz um Wohnraum, kulturelle Konflikte. Dazu kommen sprachliche Schwierigkeiten und Bildungsprobleme. Für jene jedoch, deren Ideal eine Welt ohne Grenzen, die Zerstörung des unterdrückerischen Nationalstaates und endlose Diversität ist, ist Immigration ein willkommener Schritt zur Verwirklichung ihrer Utopie.

Diese gegensätzlichen Einstellungen schließen jeglichen Konsens aus.

Andere EU-Staaten wurden dazu aufgerufen, einen proportionalen Anteil des Flüchtlingszuzugs zu schultern. Angesichts dessen wuchs der Unmut darüber, dass eine deutsche Kanzlerin im Alleingang eine derart dramatische Entscheidung treffen konnte, die alle betreffen würde. Das anschließende Bemühen, den Mitgliedsstaaten Einwanderungsquoten aufzuerlegen, stieß auf sture Ablehnung der osteuropäischen Länder, deren Bevölkerungen – im Gegensatz zu Deutschland oder westlichen Staaten mit imperialistischer Vergangenheit – unberührt von nationalem Schuldbewusstsein oder Verpflichtungen gegenüber den Bewohnern ehemaliger Kolonien sind.

Nachdem sie eine zunehmende Spaltung der EU-Länder bewirkt hat, bedroht die Migrationskrise nun Merkels eigene christlich-demokratische (CDU) Regierung. Ihr eigener Innenminister, Horst Seehofer von der konservativen bayerischen CSU, hat erklärt, dass er beim Thema Einwanderungspolitik „nicht mit dieser Frau (Merkel) arbeiten kann“ und es vorziehe, sich mit Österreich und Italien zusammenzutun, um eine harte Politik zu verfolgen und die Zuwanderung zu stoppen.

Der Konflikt um die Zuwanderung betrifft sogar die relativ junge linksgerichtete Partei Die Linke.

Ein großer Teil der Linken in Europa ist – ganz gleich wie unzufrieden sie mit dem Handeln der EU ist – durchdrungen von ihrer Ideologie der Freizügigkeit und hat „offene Grenzen“ als europäischen „Wert“ verinnerlicht, der um jeden Preis verteidigt werden muss. Vergessen ist, dass es nicht vorgesehen war, die „Freizügigkeit“ der EU auf Migranten außerhalb der Union zu beziehen. Freizügigkeit bedeutete die Freiheit, von einem EU-Staat zum anderen zu reisen. Als international anerkanntes Menschenrecht bezieht sich Freizügigkeit allein auf das Recht eines Bürgers, das eigene Land zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren.

Im Versuch, ideologische Polarisierung zu vermeiden und eine klare Politik zu definieren, präsentierte eine Arbeitsgruppe auf dem Parteitag der Linken Anfang Juni ein langes Arbeitspapier, in dem sie Ideen für eine „human und sozial regulierende linke Einwanderungspolitik“ skizzierte. Ziel war es, dem aggressiven Beharren auf dem unvereinbaren Gegensatz zu entkommen: Entweder, du bist für Einwanderung oder dagegen, und wenn du dagegen bist, dann bist du bestimmt ein Rassist.

Das Konzept der Arbeitsgruppe stellte fest, dass es nicht nur zwei, sondern drei Zugänge zum Thema Einwanderung gibt: dafür, dagegen und regulierte Einwanderung. Regulierung ist die humane und sozial günstige Art.

Während das Konzept die volle Unterstützung des Rechts auf Asyl, inklusive finanzieller und sozialer Hilfeleistungen für alle Menschen auf der Flucht vor lebensbedrohlichen Situationen, bekräftigt, besteht es auf der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Wirtschaftsmigranten. Letztere sollten im Rahmen der kommunalen Möglichkeiten, ihnen ein angemessenes Leben bieten zu können, willkommen geheißen werden: Arbeitsmöglichkeiten, bezahlbarer Wohnraum und soziale Integration. Die Verfasser merkten an, dass durch den Einlass all jener, die auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Stellung hoffen, wenige individuelle Gewinner, nicht jedoch die langfristigen Interessen der ökonomischen Verlierer oder des Herkunftslandes begünstigt werden könnten. Vielmehr würde so die Abhängigkeit des Herkunftslandes vergrößert und sogar ein Braindrain provoziert werden, wenn ausgebildete Fachkräfte versuchen, in einem reicheren Land sozial aufzusteigen.

Die europäische Einigung entzweit die Europäer. Indem man Menschen zusammenzwingt, reißt man sie auseinander.

Man hatte die Hoffnung, so mit dem Thema abschließen zu können. Das war nicht der Fall. Stattdessen wurde die Parteivorsitzende, die sich größter Beliebtheit erfreut, Zielscheibe wütenden emotionalen Protestes, nur weil sie diesen vernünftigen Zugang verteidigte.

Sahra und Oskar

Wie auch anderswo in Europa erlebt die traditionelle Linke in den letzten Jahren einen drastischen Rückgang. Die über lange Zeit mächtige deutsche sozialdemokratische Partei (SPD) hat ihre Basis in der Arbeiterklasse verloren, weil sie eine neoliberale sozioökonomische Politik nicht nur akzeptiert, sondern vielmehr befördert. Die SPD wurde von der autoritären Mitte absorbiert und zum Juniorpartner in Angela Merkels konservativer Regierung reduziert.

Die Linke, die 2007 aus einem Zusammenschluss linker Gruppen in Ost- und Westdeutschland hervorging, beschreibt sich selbst als sozialistisch, verteidigt aber zum großen Teil lediglich die sozialdemokratische Politik, der die SPD den Rücken gekehrt hat. Die Linke springt offensichtlich in die Lücke, die die SPD hinterlassen hat. Während die SPD bei den Wahlen im letzten September auf 20 Prozent fiel, konnte Die Linke mit fast 10 Prozent ihr Ergebnis leicht verbessern. Doch ihre Wähler stammen vorwiegend aus der intellektuellen Mittelschicht. Die Partei, die die meisten Stimmen aus der Arbeiterklasse auf sich vereinen konnte, war die AfD, die als rechtsextrem populistisch gilt, weil ihr wachsender Erfolg bei den Wahlen auf ihrer Ablehnung von Massenimmigration beruht.

Man kann diesen Umstand auf zweierlei Weise betrachten.

Zum einen kann man in Clinton’scher Manier die Arbeiterklasse als einen Haufen Bedauernswerter ansehen, die es nicht verdienen, dass man ihre Interessen verteidigt. Wenn sie sich gegen Immigration stellen, dann liegt das nur daran, dass sie unreine Seelen haben, von Rassismus und „Hass“ besudelt.

Eine andere Betrachtungsmöglichkeit geht davon aus, dass man die Kümmernisse normaler Menschen beachten muss und dass man ihnen klare, genau umrissene, humane politische Wahlmöglichkeiten anbieten muss, anstatt sie zurückzuweisen und zu beleidigen.

Dies ist der Standpunkt von Sahra Wagenknecht, der aktuellen Co-Fraktionsvorsitzenden der Linken im Bundestag.

Wagenknecht wurde vor 48 Jahren in Ostdeutschland als Tochter eines iranischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Sie ist sehr gebildet, hat in Wirtschaftswissenschaften promoviert und Bücher geschrieben über die Hegel-Interpretation des jungen Marx, über „Die Grenzen der Auswahl. Sparentscheidungen und Grundbedürfnisse in entwickelten Ländern“ und über „Reichtum ohne Gier“. Die charismatische Sahra gehört zu den beliebtesten Politikern in Deutschland. Meinungsumfragen legen nahe, dass ein Viertel der Deutschen sie zur Kanzlerin wählen würden.

Doch die Sache hat einen Haken: ihre Partei, Die Linke. Viele, die sie wählen würden, würden ihre Partei nicht wählen, und viele in ihrer eigenen Partei würden zögern, Wagenknecht zu unterstützen. Warum? Wegen des Themas Immigration.

Sahras größter Unterstützer ist Oskar Lafontaine, 74, ihr Partner und heute ihr Ehemann. Lafontaine ist ausgebildeter Wissenschaftler, hat jahrelange politische Erfahrung in der Führung der SPD. Er war in den 1980er-Jahren eine prominente Figur der Protestbewegung gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland und ist heute noch ein dezidierter Kritiker des US- und NATO-Militarismus – eine schwierige Position in Deutschland. 1999 trat er als Finanzminister zurück, weil er mit der neoliberalen Politikwende des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder nicht einverstanden war. Er ist ein unbeirrbarer Kritiker des Finanzkapitalismus und des Euro und fordert eine andere Geld- und Währungspolitik, die selektive Abwertung erlauben und so die wirtschaftlich schwächeren Mitgliedsstaaten von ihrer erdrückenden Schuldenlast befreien würde.

Nachdem er der SPD im Jahr 2005 den Rücken gekehrt hatte, war Lafontaine Mitbegründer der Linken, in der die von Anwalt Gregor Gysi geführte Nachfolgepartei der ostdeutschen SED aufging. Einige Jahre später zog er sich politisch zurück und förderte nunmehr die Karriere seiner deutlich jüngeren Partnerin Sahra Wagenknecht.

Lafontaine ist vergleichbar mit Jeremy Corbyn in Britannien und Jean-Luc Mélenchon: eine linke Führungsfigur, die sich soziale und Anti-Kriegs-Grundprinzipien der Vergangenheit bewahrt hat und danach strebt, sie in die Zukunft zu tragen, gegen die steigende rechte Flut in Europa.

Das Paar Wagenknecht-Lafontaine tritt für eine Sozialpolitik ein, die der Arbeiterklasse zugutekommt, für Entmilitarisierung, für friedliche Beziehungen zu Russland und zum Rest einer multipolaren Welt. Beide kritisieren den Euro und seine verheerenden Auswirkungen auf die Ökonomien der Mitgliedsstaaten. Sie befürworten gesteuerte Immigration. Weil sie die Europäische Union kritisch sehen, gehören sie zu einer Strömung, die man die nationalstaatlich orientierte Linke nennen könnte. Sie glaubt, dass progressive Politik noch auf nationaler Ebene umsetzbar ist.

Die Globalisierungs-Linke

Die Linke ist gespalten in die nationalstaatlich orientierte Linke, die sich für eine soziale Politik im Rahmen des Nationalstaates einsetzt und die Globalisierungs-Linke, die meint, wichtige Politikentscheidungen müssten auf einer höheren denn der nationalen Ebene getroffen werden.

Als Co-Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag engagiert sich Wagenknecht für die nationalstaatlich orientierte Linke, während eine andere Frau, die Parteivorsitzende Katja Kipping, ebenfalls eine Akademikerin aus Ostdeutschland, für die Globalisierungs-Linke spricht.

In einem Artikel vom Juli 2016, der den Brexit kritisiert, machte Kipping deutlich, dass die Nation in ihren Augen einen für die Politikgestaltung ungeeigneten Anachronismus darstellt. Wie andere, die ihre Überzeugung teilen, setzt sie die Nation mit „Nationalismus“ gleich. Jegliche Kritik an der Massenzuwanderung kontert sie sofort mit Sündenbockvorwürfen:

„Der Nationalismus verbessert unser Leben nicht, er macht die Armen lediglich ärmer, nimmt den Reichen nichts, sondern schiebt die Schuld an der gesamten gegenwärtigen Misere stattdessen Flüchtlingen und Migranten in die Schuhe.“

Die Vorstellung, dass sich soziale Reformen fortan nur auf europäischer Ebene vollziehen müssen, lähmt linke Parteien seit Jahrzehnten. Die extremste globalisierte Linke setzt ihre Erwartungen sogar jenseits der Europäischen Union und hofft darauf, dass es schließlich eine Revolution auf globaler Ebene geben könnte, so wie es Antonio Negri und Michael Hardt in ihren gemeinsamen Büchern Empire und Multitude predigen.

Laut Negri, einem besorgniserregend einflussreichen italienischen Theoretiker, der seit den 1970ern völlig auf dem Holzweg ist, wird die endgültige globale Revolution der spontanen Selbstbefreiung der „Multitude“ entspringen. Das ist ein Wolkenkuckucksheim. Man projiziert seine Hoffnungen jenseits des Hier und Jetzt auf irgendeine erstrebenswerte Zukunft, die durch die neuen immateriellen Produktionsmittel (Negris haltlose Imitation des Marxismus) zwangsläufig einkehrt. Ob sie ihn nun gelesen haben oder nicht, harmonieren viele anarchistische anti-globalistische Vorstellungen der Endzeit mit Negris optimistisch prophetischer Sicht auf die Globalisierung: Jetzt mag sie schlimm sein, aber wenn sie erst einmal einen gewissen Entwicklungsgrad erreicht hat, wird sie perfekt sein.

Nach Meinung der Globalisierungs-Linken ist der Nationalstaat untauglich für eine Revolution, deshalb sei seine Abschaffung ein Schritt in die richtige Richtung. Und das fällt zufällig mit der weltweiten Machtergreifung durch das internationale Finanzkapital zusammen. Ihr Kernthema, das sie auch dazu benutzt, ihre Gegner aufseiten der nationalstaatlich orientierten Linken zu verurteilen, lautet Einwanderung. Katja Kipping setzt sich für „offene Grenzen” als moralische Pflicht ein. Wenden Kritiker ein, dass dies kein praktikabler Vorschlag sei, erwidert die Globalisierungs-Linke, das spiele keine Rolle, es sei ein Prinzip, das für die Zukunft hochgehalten werden müsse.

Dass Kipping sowohl „offene Grenzen“ als auch ein garantiertes Mindesteinkommen für jedermann fordert, macht ihre politische Linie erst recht unrealistisch.

Unschwer lässt sich vorstellen, wie begeistert man einen derartigen Vorschlag in allen armen Ländern der Welt aufnimmt und wie entsetzt ihn deutsche Wähler ablehnen.

Was treibt eine Parteivorsitzende dazu, derart offensichtlich unpopuläre und unrealisierbare Vorschläge zu machen, die die große Mehrheit der Wähler garantiert verprellen?

Ein offensichtlicher Quell solcher Phantastereien kann auf ein gewisses post-christliches, post-Auschwitz’sches schlechtes Gewissen zurückzuführen sein, das in Teilen der Intelligenzia vorherrscht, für die Politik mehr einem Besuch im Beichtstuhl gleicht, denn dem Bemühen um Unterstützung der Bevölkerung. Man zünde eine Kerze an und die Sünden werden einem vergeben! Viele örtliche Wohltätigkeitsorganisationen setzen ihre Überzeugungen in die Tat um, indem sie Migranten materielle Hilfe zukommen lassen. Doch die Aufgabe ist zu groß, um sie auf ehrenamtliche Schultern zu laden; derzeit erfordert das schiere Ausmaß der Aufgabe staatliche Organisation.

Ein anderer, aggressiverer Schlag an Befürwortern offener Grenzen findet sich unter gewissen Anarchisten, bewussten oder unbewussten Jüngern von Hardt und Negri, die offene Grenzen als Schritt zur Zerstörung des verhassten Nationalstaates ansehen, indem die verachteten nationalen Identitäten in einem Meer von „Minderheiten“ ertrinken und so die Ankunft einer weltweiten Revolution beschleunigen.

Entscheidend ist, dass beide Strömungen eine Politik befürworten, die perfekt mit den Bedürfnissen des internationalen Finanzkapitals übereinstimmt. Masseneinwanderung diverser ethnischer Gruppen, die nicht willens oder fähig sind, sich den Gebräuchen des Gastlandes anzupassen (was in Europa heute oft der Fall ist, weil das Gastgeberland für Sünden der Vergangenheit verachtet werden könnte), schwächt die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich zu organisieren und dem Diktat des Finanzkapitals zu widerstehen. Die Neuankömmlinge können nicht nur die Lage bereits akzeptierter Einwandererbevölkerungsteile destabilisieren, sie können auch unerwartete Antagonismen und Konflikte hineintragen. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sind Gruppen eritreischer mit afghanischen Migranten aneinandergeraten, und es lauern weitere Vorurteile und Fehden, von gefährlichen Elementen religiösen Fanatismus ganz zu schweigen.

In der Außenpolitik neigt die Globalisierungs-Linke dazu, die politische und mediale Kritik des Mainstreams an Wagenknecht für ihre Haltung zu Syrien und Russland als Putin-Versteherin zu akzeptieren. Die Globalisierungs-Linke scheint bisweilen mehr darauf aus, den Rest der Welt nach ihrer Norm zu gestalten, als praktische Lösungen im eigenen Land zu finden. Kriege abzuwenden, ist auch ein ernstes Problem, das man auf nationaler Ebene angehen muss.

Trotz der erbitterten Diskussionen auf dem Parteitag Anfang Juni hat sich die Linke nicht gespaltet. Doch angesichts der Pattsituation in Bezug auf wichtige Fragen planen Wagenknecht und ihre Unterstützer im September den Start einer neuen parteiübergreifenden Bewegung. Sie soll unter anderem diejenigen anziehen, die sich von der SPD enttäuscht abwenden, um bestimmte Themen zu diskutieren und voranzubringen, statt sich gegenseitig Etikette anzuhängen. Für die Linke ist die Frage heute nicht nur die historische Frage „Was tun?”, sondern vielmehr ein verzweifeltes „Kann etwas getan werden?“.

Wenn es die Linke nicht tut, wird es jemand anderes tun.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Immigration Divides Europe and the German Left". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.