Der smarte Staat
Die Ukraine dient als Testlabor für eine digitalisierte Weltordnung.
Smart Cities, Smart Government oder Smart Citizen Communication. Viele neue Schlagworte zeichnen ein farbenfrohes Bild einer wunderbaren digitalen Zukunft. Doch welche Gefahren gibt es, wenn staatliche Behörden nur noch virtuell in der Cloud eines Tech-Unternehmens existieren?
„In jeder Krise steckt eine Chance“, ist ein geflügeltes Wort. Der von Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schockstrategie“ so benannte Katastrophenkapitalismus sucht genau diese Krisen oder, wenn nötig, provoziert oder verschärft solche Krisen. Altes wird „kreativ“ zerstört, um Platz für neues zu schaffen. In der Krise sind in kurzer Zeit Änderungen möglich, die unter normalen Umständen nicht oder nur sehr langsam umgesetzt worden wären. Gesetze, zum Beispiel im Bereich Arbeitsrecht, Umweltschutz oder Steuerrecht können abgeschafft oder so geändert werden, dass sie die Interessen der Wirtschaft nicht stören.
Klein spannt einen weiten Bogen, vom Staatsstreich in Chile am 11. September 1973 durch Augusto Pinochet, bis in unsere Zeit. Unter Pinochet durfte Milton Friedman (1) mit seinen „Chicago Boys“ die chilenische Wirtschaft, wie in einem Testlabor, nach den Vorstellungen des Monetarismus umbauen. Nur wenn die ganze Gesellschaft unter einem kollektiven Schock steht, sind radikale Änderungen ohne Widerstände möglich. Klein beschreibt viele weitere Beispiele gesellschaftlicher Umbauten im Sinne des Katastrophenkapitalismus, von Lateinamerika, über Russland nach dem Ende der Sowjetunion bis zum Irak nach dem zweiten Golfkrieg (2).
Die Geschichte des Katastrophenkapitalismus wird fortgeschrieben, unter anderem in der Ukraine. Bereits vor dem Krieg war die Digitalisierung des Landes, unter Führung des Ministeriums für digitale Transformation, eine Top-Priorität der Regierungspolitik.
Das Land soll eine weltweite Führungsrolle im Bereich der Digitalisierung einnehmen. Die Einführung einer digitalen ID gehörte zu den ersten Projekten (3).
Im Februar 2020 startete die Diia App (deutsch: Aktion) in der Ukraine (4). Die App erlaubt den Zugriff auf staatliche Dokumente und Dienstleistungen. Die erste Version enthielt einen digitalen Führerschein und einen digitalen Fahrzeugschein (5). Heute sind 14 digitale Dokumente, wie Personalausweis beziehungsweise digitale ID, Reisepass, Studentenausweis, Geburtsurkunde oder Steuerdaten verfügbar und, zumindest in der Ukraine, uneingeschränkt gültig, Smart Government (6).
Auch eine große Zahl an Dienstleistungen, wie zum Beispiel die Anmeldung eines Unternehmens, ist über Diia digital möglich. In der App können zusätzlich digitale COVID-19-Zertifikate, wie Tests und Impfzertifikate gespeichert werden, sodass auch Zugangskontrollen für Bereiche, die beispielsweise nur Geimpfte oder Getestete betreten durften, über die App möglich waren (7).
Gleichzeitig wurde Diia genutzt, um die Bürger zur Impfung zu motivieren, Smart Citizen Communication (8). Über die App konnten Geimpfte im Rahmen des Programms ePidtrymka 1.000 ukrainische Hrywnja (UAH) beantragen, die allerdings nur für bestimmte Produkte, wie Bücher, Kino- oder Theaterbesuche oder Bustickets ausgegeben werden konnten (9). Ähnlich plant auch Markus Söder Leistungen für Asylanten in Bayern über spezielle Geldkarten bereitzustellen, die nur für die Zahlung bestimmter Produkte genutzt werden können (10).
Seit Kriegsbeginn wurden die Funktionen der App nochmal erweitert. So können zum Beispiel Spenden für die ukrainische Armee über Diia getätigt oder Bilder und Videos zu russischen Truppenbewegungen hochgeladen werden (11).
Diia wird inzwischen auch als Plattform für andere Dienste genutzt. So wurde der private, ukrainische Streaming-Dienst Megogo, als „Diia TV“ in die App integriert (12).
Die Einbeziehung von Unterhaltungsdiensten zeigt, dass der Diaa-„Datenschatz“ für die Privatwirtschaft nutzbar gemacht wird. Zusätzliche Erweiterungsmöglichkeiten zeigt ein Blick auf die chinesische all-in-one App „WeChat“, die sowohl einen digitalen Ausweis enthält, eine Chat-Funktion ähnlich WhatsApp hat, Einkäufe in Online-Shops und Zahlungsverkehr ermöglicht oder auch das Bestellen eines Taxis erlaubt (13).
Eine solche App kann vieles vereinfachen, die Zahl der Behördengänge reduzieren und bestimmt ist es auch praktisch, alle wichtigen Dokumente an einer Stelle digital im Zugriff zu haben. Andererseits schafft sie einen transparenten Bürger und die Basis für eine umfassende Kontrolle der Bevölkerung mit den entsprechenden Missbrauchsmöglichkeiten.
Mit jedem weiteren digitalen Baustein, der in die Diia App integriert wird, beispielsweise ein Bezahlsystem auf Basis der digitalen Währung, die gerade vorbereitet wird, erweitern sich die Kontrollmöglichkeiten. Der E-Hrywnja soll nicht nur für bargeldloses Bezahlen genutzt werden, sondern auch programmierbar sein. Es wäre damit zum Beispiel technisch möglich, staatliche Sozialleistungen nur für den Kauf gewünschter Produkte zuzulassen oder das Geld von wehrpflichtigen Männern für den Kauf von Bustickets ins Ausland zu sperren (14). Und das ohne die Ausgabe spezieller Geldkarten.
Aber die Pläne zur Digitalisierung in der Ukraine gehen noch deutlich weiter. In 2022 kündigte der Minister für digitale Transformation Mykhailo Fedorov ein Projekt in Zusammenarbeit mit Amazon an. Gemeinsam soll eine künstliche Intelligenz implementiert und unterstützend zur Urteilsfindung in Gerichten eingesetzt werden, zunächst im Rahmen von Ordnungswidrigkeitsprozessen (15).
Über die Behörde USAID, die United States Agency for International Development, fördert die US-Regierung die Digitalisierung der Ukraine und unterstützt die Entwicklung und den Ausbau der Diia App seit 2019 rechtlich, technisch und finanziell. US-Tech-Unternehmen sind bei diesem Projekt mit im Boot. Im Januar 2023 wurde die App auf dem World Economic Forum (WEF) in Davos präsentiert. Nach der Vorstellung der US-Regierung und des WEF soll Diia als Blaupause für andere Länder dienen. USAID hat angekündigt, die Digitalisierung und Entwicklung ähnlicher Apps in anderen Ländern finanziell zu fördern. Estland hat als erstes Land, auch bereits im Januar 2023 in Davos, die eigene App „mRiik“ auf Basis von Diia präsentiert (16).
Die Frage ist, wer die Technik kontrolliert. Wer hat Zugriff auf die Daten? Was wird mit den Daten gemacht? Wer entscheidet und kontrolliert, wer Zugriff auf die Daten bekommt?
Formal wird die Diaa App vom ukrainischen Staat kontrolliert und vor der russischen Invasion mussten kritische staatliche Daten auch in Datencentern innerhalb der Ukraine gespeichert werden. Diese Rechtslage hat sich geändert. Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurden, in Zusammenarbeit mit Amazon, schrittweise alle wichtigen Daten in die Amazon Cloud übertragen. Am 14. April 2023 meldete Amazon, dass bereits 10 Petabyte Daten, unter anderem von 42 ukrainischen Regierungsbehörden, 24 Universitäten sowie von Schulen und diversen privaten Unternehmen kopiert wurden (17). Amazon und damit auch die US-Regierung haben also Zugriff auf einen wahren Datenschatz bekommen. Denn Daten sind ja bekanntlich das Gold des digitalen Zeitalters (18).
Auch andere US-Unternehmen werden am Digitalisierungsprojekt Ukraine beteiligt. Im November 2021 unterzeichnete das Ministerium für Digitale Transformation eine Kooperation mit Apple, in der unter anderem die Unterstützung von Diia durch Apple vereinbart wurde (19). Mit Apple plant die Ukraine zudem eine Zusammenarbeit bei der Volkszählung 2023, eine Zusammenarbeit im Bereich Schulen und bei digitalen Diensten im Gesundheitssystem.
Ganz nach den Vorstellungen der UN, wie dies in den Nachhaltigkeitszielen für 2030 formuliert ist, setzt die Ukraine stark auf die Einbeziehung von Privatunternehmen und Public Private Partnerships (PPP) (20).
Ein weiteres zentrales UNO-Nachhaltigkeitsziel für 2030 ist die Schaffung einer rechtlichen Identität für jeden Menschen (21).
Die UNO propagiert diese ID für alle als humanitäres Ziel. Nach Artikel 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat „jeder (...) das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden“. Das heißt, der Mensch ist nicht Objekt, das von anderen benutzt oder gehandelt werden kann, sondern ist selbst Subjekt und Träger von Rechten und Pflichten.
Die Journalistin Whitney Webb weist in ihrem Artikel „Building the Global Police State“ allerdings auf die Gefahren einer solchen digitalen rechtlichen ID und der zugehörigen Infrastruktur hin, da die UN, laut Webb, in ihren Planungen Menschenrechte und digitale Identität miteinander verknüpft (22).
Nach der Formulierung von Artikel 6 sind Menschen nicht automatisch ab Geburt rechtsfähig, sondern haben nur das Recht darauf, als rechtsfähig anerkannt zu werden. Dieses Recht kann auch verwirkt werden. Denn, nach Artikel 29, Ziffer 3, dürfen „diese Rechte und Freiheiten (...) in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden“.
Nach der Vorstellung der UNO soll der Einzelne nun dieses Recht auf Rechtsfähigkeit durch die ihm zukünftig zugeordnete, digitale ID ausüben können. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass die UNO die digitale ID wieder entziehen oder sperren kann, wenn jemand im „Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen“ handelt.
Webb untersucht in dem Zusammenhang auch das UN-Papier „COVID-19 and Human Rights“ vom April 2020 (23). Laut Webb wird in dem Papier deutlich, dass die UNO sich selbst befugt sieht, die Menschenrechte und die Umstände zu definieren, unter denen die Menschenrechte gegebenenfalls massiv eingeschränkt werden können. Menschenrechte werden als politisches Instrument bezeichnet, um auf Krisen, wie etwa „pandemische Lagen von nationaler Tragweite“, angemessen reagieren zu können.
Menschenrechte wären dann nicht mehr unveräußerliche Rechte, sondern Privilegien, die gewährt und entzogen werden können. Über eine digitale ID könnten sogar für jeden Menschen bequem und individuell Rechte aktiviert oder deaktiviert werden.
Die Diia App könnte die Blaupause für dieses UNO-Projekt werden. Die Ukraine wird zum digitalen Testlabor, in dem die großen Tech-Konzerne mit Unterstützung von WEF, USAID und anderen die Einführung einer digitalen Identität üben können.
Webb bezeichnet deshalb die Einführung einer globalen ID durch die UNO als Vorbereitung für einen globalen, smarten Polizeistaat (24).
Quellen und Anmerkungen:
(1) siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Milton_Friedman
(2) siehe https://en.wikipedia.org/wiki/The_Shock_Doctrine
(3) siehe https://ukraine.ua/invest-trade/digitalization/
(4) siehe https://globalvoices.org/2021/12/28/ukraine-to-get-support-from-apple-with-conducting-national-census-in-2023/ und https://www-epravda-com-ua.translate.goog/publications/2020/02/7/656775/?_x_tr_sl=sv&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp
(5) siehe https://www-epravda-com-ua.translate.goog/publications/2020/02/7/656775/?_x_tr_sl=sv&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp
(6) siehe https://ukraine.ua/invest-trade/digitalization/
(7) siehe https://visitukraine.today/de/blog/42/ukrainian-covid-certificates-in-diia-how-to-use
(8) siehe https://web.archive.org/web/20230614184144/https://www.nytimes.com/2022/01/14/world/europe/hackers-ukraine-government-sites.html
(9) siehe https://www.kmu.gov.ua/en/news/programa-yepidtrimka-startuye-za-dekilka-dniv
(10) siehe https://norberthaering.de/bargeld-widerstand/soeder-asylbewerber/
(11) siehe https://childrenshealthdefense.org/defender/wie-die-ukrainische-regierung-ein-digitales-id-system-in-ein-kriegswerkzeug-umwandelt/?lang=de
(12) siehe https://www.kmu.gov.ua/en/news/mincifri-ukrayinske-telebachennya-teper-u-diyi
(13) siehe https://www.omt.de/online-marketing/wechat/; https://www.identt.com/de/china-ermoeglicht-personalausweis-als-smartphone-app/
(14) siehe https://www.heise.de/news/Weltwirtschaftsforum-Ukraine-auf-der-Ueberholspur-bei-digitaler-Waehrung-7463764.html und https://bank.gov.ua/en/payments/e-hryvnia
(15) siehe https://mezha.media/en/2022/07/06/meeting-of-fedorov-and-amazon/ und https://t.me/zedigital/2168
(16) siehe https://mezha.media/en/2023/01/19/estonia-launches-the-mriik-government-application-built-on-the-basis-of-the-ukrainian-diia-application/
(17) siehe https://www.aboutamazon.com/news/aws/safeguarding-ukraines-data-to-preserve-its-present-and-build-its-future
(18) siehe https://www.wiwo.de/unternehmen/it/daten-gold-des-digitalen-zeitalters/12844090-3.html
(19) siehe https://www.president.gov.ua/en/news/u-prisutnosti-prezidenta-ukrayini-ministerstvo-cifrovoyi-tra-71781
(20) siehe https://www.un.org/en/desa/public-private-partnerships-and-2030-agenda-sustainable-development-fit-purpose
(21) siehe https://sdg-indikatoren.de/16/
(22) siehe https://unlimitedhangout.com/2023/06/investigative-series/sdg16-part-1-building-the-global-police-state/
(23) siehe https://unsdg.un.org/sites/default/files/2020-04/COVID-19-and-Human-Rights.pdf
(24) siehe https://unlimitedhangout.com/2023/06/investigative-series/sdg16-part-1-building-the-global-police-state/