Der Sinn von Gesellschaft
Jede Gemeinschaft braucht Erzählungen, die den Sinn und das Ziel der eigenen Existenz in den Blick nehmen. Der Westen kennt aber keine sinnstiftenden Erzählungen mehr.
Der Mensch von heute soll wettbewerbsfähig sein. Ob er auch gemeinschaftsfähig ist, scheint demgegenüber zweitrangig. Der Kapitalismus und die mit ihm eng verbundenen Politikentwürfe haben ein Nebeneinander isolierter Individuen geschaffen, für die ihre jeweilige Identität sakrosankt ist. Identität aber konstruiert sich vor allem in Abgrenzung zu „den anderen“. Es gibt gerade in Deutschland kaum mehr ein „Wir“ — außer in eher phrasenhaft daherkommenden Satzkonstruktionen wie „Wir müssen uns und andere schützen“ oder „Wir müssen jetzt alle dem Rechtsruck die Stirn bieten“. So entstehen zwischen den Isolierten Zwangsgemeinschaften, deren Regeln die Staatsmacht vorgibt. In den westlichen Staaten hat sich eine Kultur der Abgrenzung und Vermeidung etabliert. Die Bewohner wissen, was sie auf keinen Fall sein dürfen — rechts zum Beispiel —, aber sie wissen nicht mehr, wer sie eigentlich sind und wohin sie wollen. Sinnstiftende Erzählungen sind weitgehend verklungen. Der Autor diagnostiziert hier eine kollektive Depression, deren Heilmittel in der Wiedererlangung eines universellen, gemeinschaftlichen Sinns läge.
Was ist der Sinn des Lebens? Diese Frage ist freilich verbrannt, zu oft wurde sie über Generationen behandelt und eine befriedigende Antwort, eine die nicht individuell verschieden ausfällt, konnte nie ermittelt werden. Es ist auch leidig, nochmals auf Douglas Adams zurückzukommen, der in seinem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ die Frage nach dem Lebenssinn als „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ stellte. In seiner Geschichte berechnete ein Computer 7,5 Millionen Jahre das Ergebnis. Die Antwort, die herauskam — mittlerweile legendär: 42. Adams persiflierte damit die Philosophie, die seit Menschengedenken versucht, dieser Frage eine klare Antwort zu verpassen — was ihr natürlich nie gelang, ja nicht gelingen konnte.
Dennoch muss man dieser Tage über den Sinn sprechen, der in Gesellschaftsmodellen des Westens steckt. Jeder stellt diese Frage nur mit anderen Worten. Etwa so: Welche Erzählung steckt eigentlich in unser aller Zusammenleben? Noch moderner ausgedrückt: Welches Narrativ? Wohin soll unser Zusammenleben und Zusammenwirken denn führen? Und wie wollen wir leben? Vielleicht überlegen Sie gerade selbst, was Sie antreibt, warum Sie jeden Tag aufstehen. Und viele von Ihnen werden morgens nur aus dem warmen Bett schlüpfen, weil sie etwas tun müssen, um auch weiterhin über die Runden zu kommen. Aber ist das der Lebenssinn? Für Sie und für die gesamte Gesellschaft? Denn genau das sagt die deutsche Politik über das hiesige Gesellschaftsleben seit Jahren; die Parolen lauten: Weitermachen, wettbewerbsfähig bleiben, Gürtel enger schnallen und Schlimmeres vermeiden. Aber mit solchen Erzählungen lässt sich doch niemand für das Gemeinwesen begeistern. Ganz im Gegenteil.
Der Westen im freien Fall
Die neoliberalen Reformen der letzten Jahrzehnte haben einen strikten Individualismus gefördert und, wo er noch nicht vorherrschte, auch erzeugt. Wirtschaftspolitisch bedeutete das, dass man die Gewerkschaftskultur hinter sich ließ und die Werktätigen stark vereinzelten. Unterfüttert wurde das mit ideologischen Narrativen. Diese setzten an verschiedenen Stellen an: Einerseits hieß es beispielsweise, dass man nicht über den Verhältnissen leben dürfe — was für die Mehrzahl der Arbeitenden ohnehin nie zutraf. Andererseits wurde die Isolierung des Individuums von der Gesellschaft untermauert — Wahlspruch hier: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.
Plötzlich war das, was man erreichte, nicht auch immer das Ergebnis der Möglichkeiten, die die Gesellschaft bot. Es war alleine der Erfolg des Einzelnen — genau wie ein Rückschlag dessen persönliches Scheitern war: Eine eintretende Arbeitslosigkeit etwa.
In der neuen Ausrichtung der gesellschaftlichen Agenda schwang stets mit, dass die Gesellschaft nicht mehr maßgeblich sei. Ja, drastischer noch, um es mit Margaret Thatcher zu sagen: *„There is no such thing as society. *“ So etwas wie Gesellschaft gab es also gar nicht — oder sollte es nicht mehr geben für die marktradikalen Reformer. Daher waren Narrative, wohin ihre Reformen die Gesellschaft bringen sollten, schlicht nicht vorhanden oder doch zumindest unterkomplex. Eines dieser Ziele war, dass man die Wettbewerbsfähigkeit erhalten wolle. Doch wozu genau, was es den Bürgern bringt, außer einer wachsenden Zahl von Arbeitsplätzen, die miserabel bezahlt sind — Stichwort: Niedriglohnsektor —, wurde nicht thematisiert.
Die Gesellschaften des Westens, die sich den angelsächsischen Wirtschaftsreformern der neoliberalen Schule angeschlossen haben, erleben allesamt dieselbe Entkernung ihrer Wirklichkeit.
Der Individualismus hat Schritt für Schritt den Gemeinsinn sturmreif geschossen. Erst vereinzelte das Subjekt am Arbeitsmarkt, auf dem Unternehmen, Politik und Medien ein für den Angestellten und Arbeiter feindliches Umfeld schufen.
Dann schickten sich die Kinder dieser Vereinzelungsprägung an und etablierten die Identitätspolitik als gesellschaftlichen Ableger dieser Tour: Dort wird viel von Vielfalt gesprochen. Gemeint ist aber eine Einfalt, die sich auf die Einzelperson fokussiert und sie zum Nabel der Welt erklärt. Die Identität meint hier keine Stellung innerhalb einer Gruppe mehr, sondern das eigene Ich wird zur möglichen Ego-Identität erhoben — man denke nur an die ideologische Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit. Die Wokeness ist das Produkt eines wirtschaftspolitischen Klimas, das schon vorher in vielen westlichen Ländern herrschte. Daher adaptieren Unternehmen diese Kultur auch gerne — sie bietet neben guter PR zudem die besten Chancen, die Belegschaft zu spalten.
Gemeinschaftsgefühl nur noch auf X
Über Spaltung wird in den letzten beiden Jahren viel gesprochen. Landläufig gilt, dass es der politische und mediale Umgang mit Corona war, der das Land spaltete. Das stimmt bestenfalls zur Hälfte. Die pandemischen Jahre haben den Riss sicher vertieft. Aber schon vorher waren die Gesellschaften des Westens in sich zerrissen. Sie waren das Produkt einer Kultur, die Gemeinschaft auflöste, um das Subjekt zu isolieren und somit schachmatt zu setzen.
Die neoliberale Agenda atomisierte den Gemeinsinn – und das war kein Kollateralschaden, sondern ein Hauptziel.
Heute sind die Gewerkschaften so schwach wie nie zuvor — Gemeinschaftsgefühl erlebt der westliche Mensch des frühen 21. Jahrhunderts nur, wenn er sich bei X oder anderen Netzwerken mit anderen zusammen auf einen Shitstorm gegen einen Dritten verabredet. Dabei sitzt er alleine in seinem Kämmerlein. Dass jeder in der virtuellen Blase etwas bewegen könne: Das ist das letzte Narrativ, an das sich viele Menschen offenbar noch klammern.
Sonst gibt es ja auch keines mehr. Kommen wir mal zurück auf die Wettbewerbsfähigkeit, die wir unbedingt erhalten sollten und die man uns in den Reformjahren als Erzählung auftischte. Sie hatte als sinnstiftende Erzählung ja gar keine Qualität. Für was will man denn wettbewerbsfähig bleiben? Fragt man große Unternehmen, dann werden sie antworten: um Profite zu machen. Aber auch das hat keine Qualität — denn Profite kann man erstmal nicht essen. Ebenso wenig wie Wettbewerbsfähigkeit. Eine Erzählung wäre es gewesen, wenn deren Folgen als Erklärung aufgeführt hätte: Dass man eine bessere Lebensqualität mit dem Vorhaben gefestigter Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen wolle.
Etwa die Schiene stärken, den Nah- und Fernverkehr ausbauen oder Schulgebäude sanieren wolle. Würde man die notwendig zu erhaltende Wettbewerbsfähigkeit damit erklären, dass man die Bildung an sich reformieren wolle, damit der Nachwuchs in Zukunft bessere Chancen hat, ja vielleicht sogar noch besser leben könne, als die Vorgängergenerationen: Das wäre ein Gesellschaftsnarrativ gewesen, hätte Sinn gestiftet. Das war jedoch nie geplant, man schaue sich im Land nur einmal um, fahre Bahn — oder warte besser lange, noch länger auf sie —, betrachte mal ein Schulgebäude und dazu gleich noch die Schulbücher: Dann wird klar, warum es keine Erzählung gab. Es wurde schlicht nicht ins Auge gefasst. Sparen war das Narrativ. Damit begeistert man nicht nur keinen Menschen — man zerstört auch die Infrastruktur des Landes. Genau da stehen wir jetzt auch.
Deutschland Erzählungen heute: Vermeidung hüben wie drüben
Seit Jahren mangelt es unseren Gesellschaften, speziell auch der deutschen Gesellschaft, an sinnstiftenden Ideen. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass auch Gesellschaften eine Identität benötigen. Wir reden in diesem Land viel von Identitäten. Aber gewisse Identitäten werden einfach ausgeblendet. Die Menschen aus vergangenen Zeitaltern arbeiteten täglich zur höheren Ehre Gottes — keine Frage, dass das oft verlogen war, sich eine Kaste dieses Narrativ zu eigen machte und damit die Menschen gängelte. Dennoch war die Idee eines Gottes sinnstiftend und prägte den Umgang untereinander, brachte eine eigene Kultur hervor.
Hätte man den Menschen im Mittelalter Wettbewerbsfähigkeit als Erzählung an die Hand gegeben, so wären architektonische Meisterwerke wie das Straßburger Münster wesentlich spartanischer und bescheidener ausgefallen.
Es ist also kein Wunder, dass Neubauten heute immer den Charme von Multifunktionshallen ausstrahlen. Später kamen andere Ideen auf, nämlich die Vorstellung, dass Gesellschaft das Ziel verwirklichen müsse, alle Menschen innerhalb einer Gesellschaft zu hören, ihnen also sukzessive Bürgerrechte zu erteilen. Die beiden Nachkriegsdeutschländer bauten neu auf, wollten eine neuerliche Katastrophe verhindern und ihre Kinder und Enkel sollten es mal besser haben. Das europäische Haus war Teil dieses Narrativs der Nachkriegszeit. Friedenssicherung war ein Auftrag an alle.
Welche Geschichten über uns erzählt man sich heute in diesem Land und wohin wir als Gesellschaft streben?
Die letzte Idee, die offenbar noch zieht, ist die Vermeidung als Narrativ. Denn das ist es, was von oben gepredigt wird. Zu viele Schulden sollen vermieden werden. Der Rechtsruck. Der Klimawandel. Den Zugriff von Wladimir Putin müssen wir ebenso vermeiden wie die Desinformation. Ganz egal, welches Medium man liest, welchem Politiker man lauscht: Deutschland ist eine einzige Vermeidungsstrategie.
Ausschließlich destruktive Erzählungen, ja Ausweichmanöver, dominieren den Diskurs. Es gibt kein klares Ziel, das man anpeilt, kein konstruktives Element. Alles ist negativ behaftet. Wie soll man Aufbruch generieren in so einem Klima? Das kann nur Gesellschaftsverdruss und damit Abkehr vom Gemeinsinn erzeugen. Aber selbstverständlich ist das nicht ungewollt.
Das Ideal eines Republikanismus‘, der die öffentliche Sache in den Mittelpunkt rückt, ist lange schon nicht mehr aktiv. Die postmoderne Dekonstruktion hat die Idee einer sich verbessernden Gesellschaft zum Wohl aller längst in ihre Einzelteile zerlegt und gewissermaßen zu Tode hinterfragt. Die Dekonstruktion hat eine Sinnlosigkeitsphilosophie entstehen lassen, ja eine Depression, die keine Erzählungen mehr begünstigt, weil die ja immer irgendwie konstruiert und erfunden seien. Das mag noch nicht mal falsch sein: Aber Menschen bilden sich dauernd was ein, um Dingen Sinn zu verleihen. Oft sogar wider aller Vernunft.
Die Zigarette, die Sie gleich rauchen werden, wenn Sie sich durch diesen Artikel gekämpft haben: Sie wissen, dass Sie ihnen schadet. Aber wie oft haben Sie das Rauchen schon zu etwas erklärt, was Ihnen guttut? Sehen Sie: Jeder tut das. Warum sollte nicht auch das Zusammenleben einen — vielleicht auch konstruierten — Sinn ergeben dürfen? Denn wie es aussieht, fahren Gesellschaften nicht besser, wenn sie die Frage nach dem Sinn einfach nicht mehr stellen.