Der schmale Grat der Hoffnung

Jean Zieglers "gewonnene und verlorene Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden".

Was bisher an Meldungen und ersten Rezension über Jean Zieglers neuestes Buch an die Öffentlichkeit gelangt, erweckt allzu stark den Eindruck, als handele es sich um seine Biographie. Um es gleich zu sagen: Es enthält allenfalls ein paar mehr Einblicke in sein privates Leben als die meisten früheren Bücher. Eine Biographie ist es nicht. Man darf sagen: es ist ein über größere Strecken sehr persönliches Buch. Aber wer Jean Zieglers Bücher kennt, merkt auch hier sehr schnell, dass die große Sache, um die es ihm geht, selbst in jenen Buchpassagen im Vordergrund steht, die uneingeschränkt als biographisch aufgefasst werden können. Denn sein Leben ist mit seiner „Sache“ derart eng verwoben, dass auch ein in Form einer klassischen Biographie verfasstes Buch ein Buch über seine Einsätze bei der Durchsetzung der Bürger- und allgemeinen Menschenrechte gegen Kolonialismus, Imperialismus und die Globalisierung von oben werden würde.

Räuberische Ausbeutung von Natur und Mensch durch Finanzkapitalisten und andere Beutejäger und sein Leben auf der einen, und die an vielen Fronten und auf verschiedensten Ebenen geführten Kämpfe, die „kannibalische Weltordnung“ zu überwinden, auf der anderen Seite, sind in der Praxis nicht zu trennen. Ziegler gehört nun einmal zu den – allerdings sehr wenigen - Sozialwissenschaftlern der Welt, die Armut und Verelendung, Hunger und epidemische Krankheiten, die meisten Krisen, Bürgerkriege und Kriege nicht nur mit Staatsversagen, Struktur- und Demokratiedefiziten, Geldgier und Machthunger erklären, was sie auch sind, sondern darüber hinaus mit den skrupellosen Verbrechen der Reichen und der Superreichen, die sie freilich selten selbst begehen, sondern andere dafür bezahlen. Sie selbst lassen sich lieber – wie Bill Gates und Marc Zuckerberg - als Sponsoren und Wohltäter feiern.

Ziegler neuestes Buch ist, wenn man es als Biographie lesen möchte, die Biographie der Vereinten Nationen, einschließlich der Geschichte des Völkerbundes, des Vorläufers, der an der Wirklichkeit nationalistischer Interessen gescheitert ist. Liest man die von Insider Ziegler aus seinem subjektiven Erfahrungshorizont verfasste Lebensgeschichte der UNO, so könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass auch diese mit einer Katastrophe endet. Aber Ziegler wäre nicht Ziegler, wenn er nicht auch den weltgeschichtlichen, den objektiv vorgegebenen Horizont der Globalisierung im Auge behielte. Und dieser Horizont ermutigt ihn immer und immer wieder, an den „Sieg der Besiegten“, wie eines seiner früheren – auch sehr persönlichen und empfehlenswerten - Bücher überschrieben ist, zu glauben.

Ziegler hat beim Schreiben immer die beiden Horizonte vor Augen: seinen eigenen, ungewöhnlich weiten, aber unvermeidlich doch begrenzten Erfahrungshorizont, und den von ihm und seinen Möglichkeiten der Einflussnahme völlig unabhängigen weltgeschichtlichen, der von der Entwicklung der Produktivkräfte und dem von diesen bestimmten gesellschaftlichen Bewusstsein abhängig ist. Daher hält er es nicht für ausgeschlossen, dass die Idee der Überwindung der heutigen „kannibalischen Weltordnung“, ihre Humanisierung scheitert.

Wer dieses Buch – das tiefe Einblicke in die Strukturen und Funktionsweisen der Weltpolitik gewährt – mit der notwendigen Aufgeschlossenheit liest, glaubt diesem entschiedenen Kämpfer gegen den Hunger in der Welt und Verfechter der Bürger- und Menschenrechte, dass es trotz aller Niederlagen noch immer genügend Gründe gibt, auf eine „universelle Gerechtigkeit“, den Sieg der Besiegten und eine globale humane Weltordnung zu hoffen.

Eines der 9 Kapitel des Buches ist mit einem paradoxen Satz Ernst Blochs überschrieben: „Vorwärts zu den Wurzeln“. Ziegler verweist darin auf die noch nicht von den Interessen der Atommächte in Form von Vetorechten verdorbenen Gründungsideen der Vereinten Nationen, die den Katastrophen, dem „Gemetzel“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geschuldet waren.

Aber er geht noch tiefer zurück in die Geschichte, bis zu Rousseau und den Ideen der Großen Französischen Revolution, um nachzuweisen, was Regis Debray dem russischen Revolutionär Victor Serge schrieb und wovon auch Ziegler felsenfest überzeugt ist: „Egal wie die konjunkturellen Umstände sind, der Mensch kann sich nicht mit einer Existenz ohne Obsession und Utopie zufrieden geben.“ (S.98)

Für Ziegler – der dankenswerterweise nie die geschichtswirksamen Destruktivkräfte der Kapital-Verbrechen vergisst – wäre heute das Gelingen einer Reform der UNO eine weltgeschichtlich bedeutsame Revolution. Dass an einer solchen Reform gearbeitet wird, ist ein wesentlicher Grund seiner Hoffnung. Den Hoffenden wie den Hoffnungslosen sagt er zum Schluß seines Buches mit Mahatma Gandhi:

„Zuerst ignorieren sie euch, dann verspotten sie euch, dann bekämpfen sie euch, dann gewinnt ihr.“

Man ist ergriffen und begreift: Verloren hat man schnell. Siegen dauert etwas länger. Ein erhellendes Buch in diesen finsteren Zeiten.