Der Scheinputsch

Der Chef der russischen Söldnerfirma Wagner marschierte mit seinen Truppen Richtung Moskau, doch diese Aktion hatte — entgegen der westlichen Darstellung — zu keinem Zeitpunkt das Potenzial für einen Regierungssturz.

Am 24. Juni 2023 marschierten Kämpfer der Söldnerfirma Wagner in Russland ein. Dabei besetzten sie zunächst Rostow am Don, um anschließend in Richtung Moskau vorzurücken. Diese Aktion ist nicht vom Himmel gefallen, sondern war der letzte Akt eines länger währenden Streites des Chefs der Söldnerfirma, Jewgeni Prigoschin, und des Verteidigungsministers, Sergei Schoigu. Lesen Sie hier die Zusammenfassung der Ereignisse, die Hintergründe und Auswirkungen.

Der 24. Juni war ein ereignisreicher Tag in Russland. Am Tag zuvor hatte der Chef der Söldnerfirma Wagner, Jewgeni Prigoschin, dem Oberkommando der russischen Armee unter der Führung von Verteidigungsminister Schoigu vorgeworfen, Stellungen der Wagner-Einheiten im Donbass beschossen und dabei mehrere Wagner-Kämpfer getötet zu haben. Als Beweis präsentierte er ein Video, das aber von einigen Quellen als ein Fake bezeichnet wird. Daraufhin marschierte er in der darauffolgenden Nacht mit Mensch und Material in Russland ein.

Der Verlauf

Prigoschin sprach zunächst von 25.000 Kämpfern, die aus dem Donbass über die Grenze in Richtung Rostow am Don gezogen sein sollen. Verschiedene Quellen korrigierten diese Zahl später jedoch drastisch nach unten. So sollen nur etwa 1.500 Kämpfer der Wagner-Einheiten an dem Marsch auf Rostow beteiligt gewesen sein. Sie kamen mit Kraftfahrzeugen, Luftabwehrgeschützen und Panzern, überquerten die Grenze problemlos und rückten am Morgen des 24. Juni in die Stadt unweit der Grenze zum Donbass ein.

Prigoschin sprach in Reden, die über Telegram verbreitet wurden, von einem „Marsch der Gerechtigkeit“ und forderte den Rücktritt von Verteidigungsminister Sergei Schoigu sowie den Chef des Generalstabs, Waleri Wassiljewitsch Gerassimow.

Russische Medien, die nur sehr zögerlich berichteten, übernahmen schnell die Einordnung verschiedener Politiker als „Umsturzversuch“. Dabei waren in Rostow zunächst reguläre russische Soldaten auf den Straßen unterwegs, riegelten das Zentrum der Stadt teilweise ab und waren ansonsten eher untätig. Früh am Morgen dann zogen sie ab, und nur kurze Zeit später rückten die Wagner-Einheiten in die Stadt ein. Dies verlief weitestgehend friedlich, jedoch kursierten Berichte von einigen Schusswechseln im Raum Rostow, die aber nicht zu verifizieren waren.

Hier umstellten sie die Zentralen der Sicherheitsbehörden und des Führungskommandos der Armee, von dem aus der Krieg in der Ukraine koordiniert wird. Von hier aus begann Prigoschin bald, Verhandlungen mit der Militärführung zu führen, wobei unklar blieb, was eigentlich seine Ziele waren. Gegen Mittag wurde bekannt, dass ein großer Teil der Wagner-Kämpfer sich auf den Weg in Richtung Moskau machte. Eine lange Kolonne von Kraftfahrzeugen und schweren Waffen setzte sich über die Autobahn M-4 in Bewegung und zog in Richtung Norden, auf Moskau zu.

Etwa zeitgleich hielt Präsident Wladimir Putin eine Ansprache an die Nation, in welcher er das Vorgehen Prigoschins verurteilte und als Landesverrat bezeichnete, mit der Ankündigung, alle erforderlichen Gegenmaßnahmen einzuleiten und die Täter hart zu bestrafen. So wurden in der Region Moskau Antiterror-Maßnahmen ergriffen, die staatlichen Strafverfolgungsbehörden leiteten Ermittlungen gegen Prigoschin wegen Hochverrats ein.

Putin drohte mit Lagerhaft bis zu 20 Jahren und forderte die Wagner-Kämpfer auf, sich an dieser Aktion nicht zu beteiligen, sondern sich in die Lager im Donbass zurückzuziehen. Auch wurde das Hauptquartier der Wagner-Gruppe in Sankt Petersburg von Strafverfolgungsbehörden durchsucht, wobei vier Milliarden Rubel sichergestellt wurden, die, Angaben Prigoschins zufolge, für den Sold der Kämpfer vorgesehen waren.

Dadurch wurde der Vormarsch jedoch nicht gestoppt. Beinahe alle bedeutenden Politiker, auch der Opposition, stellten sich an die Seite Putins und verurteilten das Vorgehen Prigoschins. Ramsan Kadyrow, der Präsident der autonomen Teilrepublik Tschetschenien pflichtete Putin bei, dass es sich um Hochverrat handele und erklärte, dass der Krieg keine geeignete Situation sei, um politische Ziele zu verfolgen. Zudem kommandierte er Kämpfer der tschetschenischen Einheit Achmat aus dem Donbass nach Rostow ab, wo diese am Nachmittag eintrafen.

Berichten zufolge verminten die Wagner-Kämpfer einige Straßen des Stadtzentrums und bereiteten sich auf einen Kampf vor. Wie die freie Journalistin Alina Lipp auf ihrem Telegramkanal „Neues aus Russland“ berichtete, waren die Kämpfer davon überzeugt, dass es zu einem Kampf kommen könnte. Allerdings wollten sie die Zivilbevölkerung nicht in die Auseinandersetzung miteinbeziehen, sodass sie auch die Bereitschaft zeigten, vor die Stadt zu ziehen, wo die Achmat-Kämpfer warteten.

Unterdessen befand sich der größte Teil der Wagner-Kämpfer bereits in der Nähe Moskaus. Sie durchfuhren die Regionen Woronesch und Lipinski. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit Luftstreitkräften der russischen Armee. Die Wagner-Kämpfer schossen verschiedenen Berichten zufolge einige Helikopter ab, im Gegenzug wurde einer ihrer Lkws unter Beschuss genommen.

Auf Telegram kursierende Videos zeigen eine Explosion auf der Straße. Auch kam es zum Brand eines Öllagers, wobei unklar ist, ob es einen Zusammenhang mit den Wagner-Kämpfern gab. Auch am Boden kam es Berichten zufolge zu Gefechten, bei denen jedoch niemand verletzt wurde. Lediglich einige Wohngebäude wurden dabei beschädigt. In der Region Moskau bereitete man sich offenbar auf ernsthafte Auseinandersetzungen vor. So wurden Autobahnen gesperrt und Blockaden errichtet, welche die Wagner-Streitkräfte aufhalten sollten. Mit dem Eintreffen der Söldner in Moskau wurde gegen 19 Uhr gerechnet.

Während all dies geschah, betonte Prigoschin immer wieder, dass es sich nicht um einen Umsturzversuch handele. Die Wagner-Kämpfer seien keine Feinde von Putin, sondern stünden auf derselben Seite. Sie wehrten sich einzig gegen die Korruption und Unfähigkeit im Verteidigungsministerium. Auch die Wagner-Einheiten in Rostow erzählten, dass sie russische Patrioten seien und mit der Regierung an einem Strang zögen. Das russische Verteidigungsministerium steht in Russland, aber auch im Donbass in der Kritik. Ihm wird vorgeworfen, durch strategische und taktische Fehler zu viele russische Leben geopfert zu haben.

Wie Alina Lipp berichtete, erfuhren die Wagner-Söldner in der lokalen Bevölkerung Rostows großen Zuspruch. Menschen unterhielten sich mit ihnen, gaben ihnen Getränke und Nahrungsmittel und signalisierten ihre Sympathie. Die Kämpfer von Wagner gelten in der russischen Bevölkerung als Helden, da sie einen großen Anteil an den russischen Erfolgen im Donbass haben. Viele distanzierten sich aber gleichzeitig von dem Vorgehen Prigoschins, das sie verurteilten. Es gab auch jene Zivilisten, welche ihre Abneigung gegen Wagner eindeutig zur Schau stellten. So wurde von Handgreiflichkeiten zwischen Unterstützern und Gegnern der Wagner-Kämpfer berichtet, die durch die Kämpfer selbst getrennt worden sein sollen.

Kurz bevor die Söldner die Region Moskau erreichten, wurde die Nachricht verbreitet, dass der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko erfolgreiche Verhandlungen mit Prigoschin geführt habe, die den ganzen Tag in Anspruch genommen hätten. Daraufhin stoppten die Söldner ihren Vormarsch auf Moskau und kehrten schließlich auf Befehl Prigoschins um.

Noch am selben Tag und am darauffolgenden Tag kehrten sie in ihre Stellungen im Donbass zurück. Dmitri Peskow, Sprecher des Kreml erklärte, dass die Ermittlungen gegen Prigoschin eingestellt werden sollen, und wie berichtet wurde, wird Prigoschin nach Weißrussland gehen. Damit ging ein ereignisreicher Tag zu Ende. Die Protestaktion Prigoschins hat jedoch mehreren Militärpiloten der abgeschossenen Flugzeuge und Helikopter das Leben gekostet. Insgesamt sollen 12 Soldaten ums Leben gekommen sein.

Damit haben die Wagner-Kämpfer innerhalb von 24 Stunden mehr Helikopter und Flugzeuge abgeschossen, als die ukrainischen Soldaten im Verlauf ihrer gesamten „Gegenoffensive“, in der es ihnen nicht gelungen ist, auch nur ein einziges russisches Fluggerät abzuschießen.

Die in Rostow am Don durch das schwere Gerät verursachten Straßenschäden, sowie die Barrikaden der Autobahn werden bereits wieder ausgebessert und beseitigt.

Die Hintergründe

Schon länger tobte ein Machtkampf zwischen Verteidigungsminister Schoigu und Prigoschin. Letzterer machte Schoigu in der Vergangenheit immer wieder Vorwürfe. So beschuldigte er ihn, die Wagner-Söldner bei dem Kampf um Bachmut bewusst mit zu wenig Munition versorgt und damit ihre Situation verschlechtert zu haben, sodass tausende Kämpfer unnötig starben.

Schon in der Hochphase der Kämpfe in Bachmut hatte er mit einem eindrücklichen Video von sich reden gemacht, in dem er vor Leichenbergen posierend auf die Lage der Söldner aufmerksam gemacht hat und mit drastischen Worten mehr Munition einforderte, weil die Söldner ihre Stellungen in Bachmut ansonsten aufgeben müssten. Dieser Abzug aus Bachmut konnte nur durch einen Befehl von Putin verhindert werden, der den Söldnern alle benötigten Materialien zusicherte.

Noch Anfang Juni wurde jedoch versucht, die Wagner-Einheit bis zum ersten Juli aufzulösen. Zu diesem Zweck hat das Verteidigungsministerium versucht, die Wagner-Söldner unter Vertrag zu nehmen. Offiziell ging es dabei darum, dass sie nur auf diese Weise staatliche Renten und Veteranen-Versorgung erhielten. Prigoschin und auch die Wagner-Kämpfer haben dieses Angebot allerdings abgelehnt, da es einer faktischen Auflösung des Militärunternehmens gleichkäme. Von daher könnte die Führungsspitze des Verteidigungsministeriums tatsächlich beschlossen haben, den Machtkampf mit Gewalt zu beenden, und sich der Wagner-Kämpfer mit gezielten Luftschlägen zu entledigen. So war es das erklärte Ziel der Aktion, die Auflösung Wagners zu verhindern, wie Prigoschin am 26. Juni in einer Nachricht mitteilte.

Zudem sollten die Personen zur Rechenschaft gezogen werden, die durch Inkompetenz viele Opfer an der Front zu verantworten hätten. In derselben Botschaft erklärte Prigoschin, dass der Vormarsch der Wagner-Kämpfer gestoppt worden war, weil er Berichte erhalten hatte, dass sie ansonsten auf massiven Widerstand stoßen würde. Um ein Blutvergießen innerhalb Russlands zu vermeiden hat Prigoschin daher auf Vermittlung von Lukaschenko den Vormarsch stoppen lassen.

Offenbar war das Vorgehen Prigoschins schon Tage vorher geplant worden. Wie verschiedene Medien berichteten, habe der US-amerikanische Geheimdienst schon seit Anfang Juni von den Plänen gewusst und das Weiße Haus darüber informiert. Prigoschin habe zu diesem Zweck Munition und Waffen gehortet, was auch der Grund für die immer wieder geäußerten Forderungen nach mehr Munition in Bachmut gewesen sein könnte. Die Informationen wurden jedoch geheim gehalten, da sich die Geheimdienste nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, Teil eines Putsches in Russland zu sein.

Die Folgen

Wagner-Chef Prigoschin wird nach Weißrussland umziehen. Es sieht viel danach aus, dass er mit einem Teil seiner Söldner in Zukunft von dort aus agiert. Unter Berufung auf die Forstwirtschaft der Region Mogilev berichteten russische Medien, dass dort mehrere Militärlager gebaut werden, die für bis zu 8.000 Kämpfer ausgelegt sein sollen. Damit rücken die Wagner-Kämpfer auf nur wenige hundert Kilometer an Kiew heran. Spekulationen zufolge könnte Prigoschin von dort eine Offensive gegen Kiew einleiten.

Die Verhandlungen kamen zudem zu dem Ergebnis, dass die Söldnerfirma Wagner aufgelöst werden und die Streitkräfte dem Verteidigungsministerium unterstellt werden, oder nach Hause zurückkehren sollen. Damit hat Prigoschin im Grunde das bewirkt, was er zuvor hatte verhindern wollen.

Darüber hinaus ist er nun noch nach Weißrussland verbannt. Allerdings ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass er durch seine Protestaktion, die es ihm zufolge von Anfang an gewesen ist, einen für sich persönlich besseren Deal herausschlagen konnte. Die Details der Verhandlungen liegen allerdings im Dunkeln.

Zudem wurde am Sonntag, den 25. Juni berichtet, dass Verteidigungsminister Schoigu seines Amtes enthoben werden solle. Es seien Ermittlungen gegen ihn aufgrund von Untreue im Verteidigungsministerium eingeleitet worden. Ein am 26. Juni vom Verteidigungsministerium veröffentlichtes Video, das Schoigu bei einer Besichtigung einiger Militäreinheiten zeigt, ist offenbar schon vor dem 24. Juni aufgenommen worden.

Schoigu selbst ist schon vor dem Samstag aus der Öffentlichkeit verschwunden. Gerüchten zufolge soll er durch Alexei Djumin ersetzt werden, der derzeit stellvertretender Verteidigungsminister ist. Prigoschin hat in diesem Falle somit zumindest eines seiner Ziele erreicht. Immer wieder hatte er erklärt, dass die Wagner-Kämpfer mit ihren „Marsch der Gerechtigkeit“ gegen die Korruption und Unfähigkeit im Verteidigungsministerium vorgehen wollten. Allerdings war Schoigu bei der Ansprache Putins an die Verteidigungsspitze am 26. Juni zugegen. Es war der erste Auftritt des Verteidigungsministers seit dem Aufstand. Berichten zufolge sind zudem die Antiterrormaßnahmen in der Region Moskau mittlerweile aufgehoben.

In einer Ansprache an die Nation am Dienstagabend hat Putin erklärt, dass den Wagner-Kämpfern Straffreiheit zugesichert werde. Sie hätten nun die Möglichkeit, entweder einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen, nach Hause zurückzukehren, oder nach Weißrussland zu gehen. Zudem betonte er, dass ein bewaffneter Aufstand auf jeden Fall niedergeschlagen worden wäre.

Die Ukraine hat angesichts der Verwirrungen in Russland selbst ihre Chance für einen Gegenangriff gewittert. Zwar wurden sie Berichten zufolge von britischen Geheimdiensten gewarnt, die Situation nicht auszunutzen, trotzdem kam es entlang der Front zu Kämpfen. Allerdings scheinen sie für die Ukraine nicht vorteilhaft geendet zu haben. Zudem hat Russland den ganzen Samstag über seine Luftangriffe auf die Ukraine verstärkt, wohl damit diese die Situation nicht zu ihrem Vorteil ausnutzen kann. Damit sieht es danach aus, dass das Vorgehen Prigoschins den Krieg für Russland nicht gefährdet hat. Der größte Teil der Wagner-Kämpfer war ohnehin an der Front zurückgeblieben.

Die Reaktionen

Russische Politiker, sowohl aus der Regierung, als auch der Opposition haben sich an die Seite Putins gestellt. Sie verurteilten das Vorgehen Prigoschins und forderten ihn dazu auf, umzukehren. Immer wieder haben auch verschiedene Einsatzgruppen an der Front Videobotschaften veröffentlicht, in denen sie Prigoschin aufforderten, den Marsch zu beenden. Nur wenige haben sich öffentlich hinter die Wagner Einheiten gestellt.

Der Abgeordnete General Guruljow gilt als der verbissenste Gegner von Wagner und hat am Sonntag im russischen Fernsehen unter Anderem die Hinrichtung der Wagner-Kämpfer, insbesondere Prigoschins gefordert. Im Parlament wurde Wagner offen von der Partei „Gerechtes Russland“ unterstützt. Auch der Oligarch Chodorkowski hat den Aufstand der Wagner-Kämpfer unterstützt.

Das Regiment Russitsch hat sich hinter Wagner gestellt. Dabei handelt es sich um ein russisches Neonazi-Regiment, das unter Anderem auch in der Ukraine kämpft. Auch Wagner wird vorgeworfen, aus Neonazis zu bestehen. Allerdings handelt es sich bei Wagner um ein kommerzielles Unternehmen ohne klare politische Ausrichtung. Prigoschin selbst gilt sogar als eher links-populistisch. Vertreter der orthodoxen Kirche haben immer wieder zu Frieden aufgerufen und die Hoffnung geäußert, dass sich die Angelegenheit schnell und friedlich beilegen lasse.

Russische Medien selbst berichteten sehr zögerlich. Dies kann einerseits auf eine Anordnung der Regierung zurückzuführen sein. Allerdings ist es ebenso wahrscheinlich, dass sie schlichtweg nicht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Denn immerhin marschierten mit einem Mal Russen auf Moskau zu, die eigentlich als Helden des Krieges gelten, und die zudem in der Ukraine Seite an Seite mit den regulären russischen Streitkräften kämpfen. So muss die Situation auch für die Journalisten schwer einzuschätzen gewesen sein.

Westliche Medien übernahmen schnell das Framing eines versuchten Putsches, der dann gescheitert sei. So wurde schließlich auch geschrieben, Prigoschin hätte „aufgegeben“. Wahrscheinlicher ist, dass er sein Ziel, einen für sich günstigen Deal auszuhandeln, erreicht hat. Schon am Sonntag wurde berichtet, der britische Geheimdienst warne davor, dass Prigoschin einen Umsturz in Weißrussland versuchen könne. Dafür allerdings liegen zumindest keine offensichtlichen Gründe vor. Denn Prigoschins Auseinandersetzung fokussierte sich einzig auf das russische Außenministerium. Zudem ließen westliche Medien Ukrainer zu Wort kommen, die sich erleichtert zeigten und in dem Wagner-Aufstand das Anfang vom Ende des Krieges sahen.

Der Schweizer Rundfunk berichtete, dass Prigoschin zum größten Feind Putins aufgestiegen sei. Sein Vorgehen sei darauf zurückzuführen, dass ihm sein Einfluss bei Putin entglitten sei, während der Machtkampf mit Schoigu tobte, dem Putin lange zugesehen habe. Einige westliche Medien sehen in der Beendigung von Prigoschins Aufstand eine Schwäche Putins. Er zeige ganz eindeutig Risse im System Putin. Ähnliche Worte waren aus Washington zu vernehmen.

Die in Deutschland lebende russische Politologin Ekaterina Schulmann vermutet, dass es in naher Zukunft zu weiteren Ereignissen in Russland kommen könne. Denn in autoritären Staaten, als den sie Russland betrachtet, geschieht ein Machtwechsel immer mit Gewalt und Unordnung. Schulmann ist eher pro-westlich orientiert. Sie führt aus, dass sich die Folgen des Aufstandes erst in der Zukunft zeigen werden, falls beispielsweise Amtsträger abgesetzt werden, oder andere Repressionen folgen.

Fazit

Das Vorgehen Prigoschins hat viele Menschen verwirrt und lässt eine Vielzahl von Spekulationen zurück. Einerseits könnte es sich einzig um die Eskalation eines längere Zeit währenden Machtkampfes gehandelt haben, in dem Prigoschin unter Umständen sogar um sein Überleben, zumindest aber um sein Geschäftsmodell gekämpft hat. Schon lange scheint nämlich Außenminister Schoigu Prigoschin kaltstellen und die Wagner-Söldnerfirma auflösen zu wollen.

Andererseits haben aus dieser Aktion viele Akteure einen Vorteil gezogen. Prigoschin agiert in Zukunft von Weißrussland aus und nimmt einen Teil seiner Söldner mit sich. Berichten zufolge sind sie bereits dort eingetroffen. Auf diese Weise könnte die Ukraine von dort aus unter Druck gesetzt oder gar eine Offensive auf Kiew vorbereitet werden. Innerhalb der russischen Elite brachte die Aktion die Möglichkeit mit sich, aufzuräumen. Gegen Schoigu wurden Berichten zufolge Ermittlungen eingeleitet und er wird seines Amtes enthoben.

Ob es sich dabei wirklich um einen Schlag gegen Korruption handelt, bleibt jedoch fraglich. Es gibt also Vermutungen, dass es sich bei all dem nur um eine Show gehandelt haben könnte, wie auch westliche Militärexperten vermuten, um von einer Verlegung der Wagner-Kämpfer nach Weißrussland abzulenken, und innerhalb der russischen Regierung illoyale Amtsinhaber aufzuspüren. So ist Schoigu beispielsweise ein unabhängiger Verteidigungsminister. Djumin, der ihn Gerüchten zufolge ablösen soll, hingegen steht fest an der Seite Putins.

Es ist zudem verdächtig, dass Schoigu den ganzen Samstag über nicht in Erscheinung getreten ist. Da die Aktion ihm galt wäre damit zu rechnen gewesen, dass es sich zu Wort meldete. Allerdings ist er am Montag neben Putin wieder in Erscheinung getreten. An den Berichten, dass er unter Arrest stehe, kommen somit Zweifel auf.

Auffällig ist auch, dass die M4, die Autobahn, welche die Wagner-Kämpfer in Richtung Moskau genommen haben, eigentlich eine Mautstrecke ist, die Mautstationen aber den ganzen Samstag über geöffnet waren und auch am Sonntag nicht geschlossen worden sind. Zudem wird gemeldet, dass die Wagner-Kämpfer entgegen dem Befehl Prigoschins nicht in ihre Feldlager zurückgekehrt sind. Ihre Kolonnen befanden sich am Sonntag noch auf der M4. Die Mautstationen könnten zudem geöffnet worden sein, um den Vormarsch der Wagner-Kämpfer nicht aufzuhalten.

Dafür spricht auch, dass sie eher unbehelligt in Richtung Moskau zogen konnten, von einigen Luftangriffen und kurzen Feuergefechten abgesehen. Auch der Versuch, die Straßen am Rand von Moskau mit LKW, Mülltonnen und ähnlichen Dingen zu versperren zeugt von eher halbherzigen Bemühungen, lediglich den Anschein von Vorbereitungen auf einen Kampf zu erwecken.

Für diese Theorie einer Show spricht auch, dass alle Anklagen gegen Prigoschin fallen gelassen werden sollen, wobei am Montag bekannt wurde, dass das Strafverfahren gegen ihn weiter läuft. Ob es noch aufgehoben wird, ist derzeit nicht abzusehen.

Andere wiederum schlussfolgern, dass Prigoschin sich schlicht verrechnet habe. Er habe darauf gesetzt, dass große Teile der Bevölkerung und Teile der russischen Elite sich auf seine Seite stellen würden. Dies sei jedoch nicht eingetreten. Im Gegenteil, viele aus der russischen Elite haben sich klar hinter die Regierung und gegen Prigoschin gestellt, und sein Vorgehen scharf kritisiert. Damit ist aber auch klar, dass der Aufstand Prigoschins Putin keineswegs geschwächt hat, sondern dass dieser fest im Sattel sitzt.

Dafür spricht auch, dass Prigoschin nach Weißrussland faktisch verbannt wurde, und Wagner aufgelöst und dem Verteidigungsministerium unterstellt wird. Damit ist die ehemals private Söldnerarmee kein außerhalb der Kontrolle des Staates stehender Machtfaktor mehr.

Es gibt Theorien, denen zufolge Prigoschin vom Westen finanziert und instrumentalisiert worden sein soll, um Putin zu stürzen. Ein Verfechter dieser Ansicht ist der renommierte Geheimdienstler und Analyst Scott Ritter. Das aber erscheint wenig überzeugend, denn ein tatsächlicher Umsturz hätte ganz anders vonstattengehen müssen, und vor allem wären dazu viel mehr Wagner-Kämpfer erforderlich gewesen. Zudem stehen die Söldner eigenen Angaben zufolge hinter Putin und bezeichnen sich als russische Patrioten. All das sind Spekulationen, und nur die Zukunft wird wohl, wenn überhaupt, die Wahrheit ans Licht befördern.

Russland ist nicht das einzige Land, in dem eine private Söldnerarmee existiert. Viele Länder verfügen über Söldnerfirmen, darunter die USA, Großbritannien, Kanada und auch Deutschland. Diese existieren oft schon länger, als Wagner, und sind in verschiedenen Regionen der Welt im Einsatz, auch in der Ukraine, wo sie unter dem Stichwort „Mozart“ kämpfen, eine klare Anspielung auf Wagner.

Staaten nutzen Söldner oft, um inoffizielle Einsätze in anderen Ländern durchführen zu können, was geringere diplomatische Folgen mit sich bringt. Zudem können auf diese Weise Verluste verschleiert werden, da sie den eigenen Streitkräften nicht zugerechnet werden. So setzten die USA, Großbritannien und andere Länder Söldner beispielsweise im Irak, in Syrien und in vielen Staaten Afrikas ein. Damit sind private Söldner in vielen Ländern eine potenzielle Bedrohung der Ordnung.

Am Ende bleibt festzustellen, dass trotz punktueller Kämpfe der Samstag ohne größere Gefechte zu Ende ging und das Blutvergießen auf ein Minimum reduziert werden konnte.

Das dürfte in Russland für große Erleichterung gesorgt haben und sollte auch im Westen ein Aufatmen zur Folge haben. Denn ein instabiles Russland ist angesichts der Atomwaffen nichts, was die derzeitige Situation verbessern könnte.