Der Sandmann im Getriebe
Der ehemalige Justizminister und Bundespräsident Gustav Heinemann hatte so ziemlich alle charakterlichen Qualitäten, die ein Großteil der heutigen Politiker vermissen lässt.
Mit Gustav Heinemann wäre der Coronastaat nicht möglich gewesen! Zumindest hätte Heinemann sich niemals in irgendeiner Weise daran beteiligt. Dies wird überdeutlich, befasst man sich eingehend mit der Biografie des ehemaligen Bundespräsidenten und Friedensaktivisten. Es ist die Chronik eines Unangepassten, eines Unbestechlichen, der seinen Werten und seinem inneren Kompass immer treu blieb und dafür auch Entbehrungen, Ausgrenzung und Anfeindungen in Kauf nahm. Egal ob im Kaiserreich, der Weimarer Republik, in der NS-Diktatur und letztlich in der BRD — Heinemann war stets der Sand respektive der Sandmann im Getriebe. Überall dort, wo sich Ungerechtigkeiten oder Kriegslüsternheit Bahn brachen, da „muckte“ er auf. Seine Lebensgeschichte ist darüber hinaus ein Spiegel bewegender deutscher Geschichte. „Alle Zukunft wächst aus der Vergangenheit. Die Auffrischung unseres Gedächtnisses könnte helfen, aus ihr zu lernen“, sagte er einst. Somit ist dieser Leuchtturm-Beitrag Gustav Heinemann gewidmet, damit wir uns an dieses leuchtende Vorbild erinnern und uns für diese turbulenten Zeiten vielleicht sogar mehr als nur eine Scheibe abschneiden.
„Gleichmäßiger Druck von allen Seiten erhöht die Standfestigkeit“ (Gustav Heinemann).
Der widerspenstige Gustav Heinemann erblickte ein halbes Jahr vor der Jahrhundertwende das Licht der Welt. 1899 geboren als erster Sohn von Johanna Heinemann und dem Krupp-AG-Prokuristen Otto Heinemann, eckte der kleine Gustav bereits in jungen Jahren in der Schule an. Jedoch zerschellte seine Aufmüpfigkeit gegenüber Lehrkräften schnell am Rohrstock, der damals noch als Erziehungsmethode gang und gäbe waren.
Sein bestechend scharfer Verstand zeigte sich in Schriften wie Gedichten und Dramen, die der junge Heinemann schon in Jugendtagen verfasste und die von einer sprachlichen Brillanz zeugen, die man von der heutigen, nur noch in Hashtags denkenden TikTok-Generation schmerzlich vermisst.
Sein schon in jungen Jahren herangereiftes Misstrauen gegenüber Autoritäten und seine Eigensinnigkeit konnten ihn jedoch nicht davor bewahren, vom Sog der Kriegslust des Jahres 1914 mitgerissen zu werden. Erst als er 1917 nach seinem Notabitur eingezogen wurde, erkannte der jugendliche Heinemann, dass die Soldatenrealität mit der versprochenen Heldentum-Romantik der Kriegspropaganda wenig gemein hatte. Glücklicherweise ereilte ihn das Unglück, lange und schwer zu erkranken, wodurch er von dem noch größeren Unglück — an die Front geschickt zu werden — verschont blieb. Seine sich in seinem kurzen Soldatensein einstellende Desillusion vom militärischen Heldentum legte wohl den Grundpfeiler für sein weiteres friedenspolitisches Engagement.
Nach dem Krieg studierte er Rechts- und Staatswissenschaften sowie Geschichte in Münster und Marburg und anschließend Volkswirtschaft in seiner Heimatstadt Essen. Bereits während seiner Studentenzeit in der Weimarer Republik mischte Heinemann politisch mit. So reiste er 1918 als Kurier in einem Sonderzug mit Abgeordneten aus Berlin, die vor ostpreußischen Militärs über Kassel nach Marburg flohen. Sein Auftrag bestand darin, dem hessische Oberpräsidenten mitzuteilen, dass es an der Uni Marburg zu einem Streik kommen würde, sollten Studenten eingezogen werden, um den Putsch gegen die demokratische Regierung zu unterstützen. An Bord befand sich unter anderem der erste Reichskanzler Philip Scheidemann von der SPD.
Seine spitze Zunge bewies der junge Heinemann in Marburg mit der Herausgabe der Satirezeitschrift „Stadtbrille“, mit der er das Lager der Reaktionären aufzuwirbeln wusste. Und auch zur Zeit des Dritten Reiches setzte sich Heinemann publizistisch mit dem geheimen Drucken und Herausgeben der „Grünen Blätter“ zu Wehr.
Bereits mehr als ein Jahrzehnt vor der Machtergreifung der Nazis bot er dem späteren Diktator Adolf Hitler Paroli. Als er 1920 in München seinen Auftritt mit einem Zwischenruf gegen dessen Judenhass unterbrach, ergriffen ihn zwei Ordner und warfen ihn aus dem Saal.
Christ im Widerstand
Mit Ende zwanzig fand er aus für Außenstehende unverständlichen Gründen einen Zugang zum christlichen Glauben evangelischer Konfession. Vormals hatte er mit Religiösem wenig am Hut, doch mit der Heirat seiner Frau Hilda Ordemann im Jahr 1926 nahmen der christliche Glaube und die Rolle der Kirche einen immer größeren Raum in seinem Leben ein.
Dieser wurde im Dritten Reich zugleich sein Raum des Widerstandes gegen das NS-Regime. Heinemann, mittlerweile Anwalt und gut bezahlter Prokurist der Stahlwerke Essen, engagierte sich in der Bekennenden Kirche, einer Oppositionsbewegung evangelischer Christen gegen Versuche einer Gleichschaltung von Lehre und Organisation der Deutschen Evangelischen Kirche mit dem Nationalsozialismus.
Die evangelische Kirche war in diesen zwölf dunklen Jahren zwiegespalten. Ein großer Teil der Protestanten, allen voran die Deutschen Christen und später die Lutherdeutschen, biederte sich dem NS-Regime an und handelte diametral zum christlichen Glaubensbekenntnis, wusste aber dennoch, seine Taten so zu rechtfertigen, dass sie faschistische Ideologie und christlicher Lehre vereinen konnte. Dagegen lehnte sich die abgespaltene und in den Augen des Regimes abtrünnige Bekennende Kirche auf.
Nach Kriegsende konnte Heinemann den Alliierten gegenüber einen tadellosen Persilschein vorweisen. Seine Widerspenstigkeit gegen das Hitlerregime war nicht schwer zu belegen.
Entsprechend schnell besetzte er nach Kriegsende als CDU-Mitglied politische Ämter. Zunächst war er Bürgermeister von Essen, anschließend Justizminister von Nordrhein-Westfalen. In der frisch gegründeten BRD wurde er zum Bundesinnenminister ernannt. Als es dann um die Wiederbewaffnung Deutschlands ging, geriet er mit Bundeskanzler Adenauer einander …
„Das längste Verhandeln ist besser als der kürzeste Krieg.“
Die Wiederbewaffnung Deutschlands in den 1950er-Jahren stand für Heinemann nicht zur Disposition. „Das mache ich nicht mit!“, verdeutlichte er 1950 im Adenauer-Kabinett und auf seine Nachfrage, was dies bedeutete, verkündete er: „Ich scheide aus!“.
Eine solche antimilitaristische Haltung eines Politikers der CDU(!) sucht man heute selbst bei Linken und Grünen vergeblich.
„Alles Rüsten muss einen politischen Sinn haben. Rüstung an sich kann doch nichts Gutes sein.“
Diese Worte Heinemanns wirken dieser Tage wie von der Zeit verschluckt, wenn nun 100 Milliarden Euro beziehungsweise 200 Milliarden D-Mark für Rüstung ausgegeben werden. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt der BRD betrug 1950 — in Euro umgerechnet — gerade einmal knapp 50 Milliarden und somit nur die Hälfte(!) des sogenannten Sondervermögens, welches nun für Todesmaschinerien ausgegeben wird. Und sogar bis 1955 lag das Bruttoinlandsprodukt unterhalb dieser 100 Milliarden.
Heinemann war in den folgenden Jahren sowohl in der außerparlamentarischen Opposition als auch in der von ihm mitgegründeten pazifistischen Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) tätig, bis er dann 1957 der SPD beitrat. Bei seiner Tätigkeit als Anwalt in den 1950er-Jahren verteidigte er mit großem Erfolg Menschen, die in der jungen BRD in das Visier des Staates gerieten, etwa weil sie verdächtigt wurden, für sozialistische Umtriebe verantwortlich zu sein. Die Art und Weise, wie er dabei in Hast kreuz und quer für seine verfolgten Mandanten durch die Republik reiste, erinnert an die heutigen maßnahmenkritischen Anwälte, die landesweit ihre Klienten gegen die Anklage verteidigen, sie hätten gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen.
Im Jahr 1958 setzte er sich dann als SPD-Politiker entschlossen gegen die atomare Aufrüstung ein. Er benannte Atomwaffen als „Ungeziefervertilgungsmittel, bei denen diesmal der Mensch das Ungeziefer sein soll“. Diese Weitsicht wünscht man sich im heutigen politischen Berlin vergebens.
Der Staatsmachtzähmer
Von 1966 bis 1969 hatte Heinemann das Amt des Bundesjustizministers inne. Maßgeblich trug er zur Reform des Strafgesetzbuches bei, welches in vielerlei Hinsicht noch auf dem Rechtsverständnis von 1871 fußte. Die langwierige Reform trug ihre Früchte in Form von deutlichen Abmilderungen und in einer Zurückdrängung des Obrigkeitsstaates. So wurde das politische Strafrecht, das 1951 unter dem Eindruck des Kalten Krieges verschärft worden war, in dem Sinne gezähmt, als dass der Staat gegenüber potenziellen Staatsfeinden nur bei konkreten Tatverdacht tätig wird und nicht auf Grundlage vager Vermutungen.
Auch arbeitete Heinemann darauf hin, die Anzahl der strafbaren Tatbestände drastisch zu reduzieren und zum Teil in den Bereich der Ordnungswidrigkeit zu überführen. Der Strafvollzug reformierte er dahingehend, dass in den Vollzugsanstalten menschenwürdigere Bedingungen Einzug hielten und eine bessere Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft ermöglicht wurde.
Das Zuchthaus, das zuletzt als Strafanstalt für schwere Verbrechen unter verschärften Haft- und Sicherheitsbedingungen diente, wurde wie die gleichnamige Strafe abgeschafft. Des Weiteren wurden unter Heinemann die Strafvorschriften für Homosexualität unter Erwachsenen und Ehebruch gestrichen, ebenso die Verjährung von NS-Verbrechen.
Abseits seiner Aufgabenfelder tat er sich als ein Minister hervor, der die politische Blase Bonns auch ab und an verließ. So pflegte er immer wieder Kontakt zu Studenten der 68er-Bewegung. Insbesondere nach dem Mord an Rudi Dutschke bemühte sich der Justizminister darum, in der erhitzte Stimmung im Land die Wogen wieder zu glätten und deeskalierend auf beide Seiten einzuwirken.
„Wer nicht schießen will, muss reden.“
Der Bürgerpräsident
Am Ende seiner politischen Laufbahn war Heinemann von 1969 bis 1974 dann schließlich der erste Sozialdemokrat im Amt des Bundespräsidenten. Seine Staatsbesuche galten in erster Linie den Ländern, die unter den Angriffen der Nationalsozialisten besonders gelitten hatten. So war er der erste Bundespräsident, der die Niederlande besuchte, dort einen Kranz für die Opfer des Nationalsozialismus niederlegte und anschließend beim niederländischen Königshaus einen sehr menschlichen wie angenehmen Eindruck hinterließ und damit den Grundpfeiler legte, für ein sich wieder verbesserndes Verhältnis zwischen beiden Ländern.
Weiterhin führte ihn seine Reise auch nach Hiroshima, wo er an der Atombombenkuppel einen Kranz zum Gedenken der Opfer des Atombombenabwurfes niederlegte.
Während seiner Amtsausübung als deutsches Staatsoberhaupt gelang ihm der Drahtseilakt, sich einerseits nicht zu verbiegen, seinen Werten treu zu bleiben und andererseits die gebotene Neutralität eines Bundespräsidenten zu wahren.
Wahre menschliche Größe zeigte Heinemann in Reaktion auf vereitelte Anschläge auf seiner Person. Diese nahm er nämlich nicht persönlich, sondern sah in ihnen eine Saat der Gewalt, die durch rechtsextreme Umtriebe in der BRD verteilt wurde. So stellte die Polizei einen 20-jährigen Gärtner, der mit einem Messer bewaffnet im Begriff war, Heinemann in der Villa Hammerschmidt — dem damaligen Bundespräsidentensitz in Bonn — zu ermorden. Glücklicherweise war Heinemann zu diesem Zeitpunkt auswärts. Bei einem Vortrag im Rahmen einer Versammlung des Bundesverbands junger Unternehmer wurde Heinemann von einem 54-jährigen Arbeiter niedergeschlagen. Nachdem die Polizeibeamten den als „psychisch gestört“ eingestuften Mann überwältigten, zündete sich Heinemann zur Beruhigung eine Zigarette an und teilte den Anwesenden mit, der Mann täte ihm leid.
Wenn Heinemann heute noch da wäre …
1974 verzichtete Heinemann auf eine zweite Amtszeit als Bundespräsident und zog sich aus der Politik zurück. Zwei Jahre später verstarb er infolge einer Durchblutungsstörung der Nieren und des Gehirns und wurde auf dem Parkfriedhof seiner Heimatstadt Essen beerdigt.
Was bleibt von diesem Mann? Ein Mann, den man im klassischen Sinne mit Fug und Recht als Querdenker bezeichnen kann. Ein Mann, der seinen Werten treu blieb und dabei auch nicht davor zurückschreckte, einen beschwerlichen Neustart mit all den verbundenen Umstrukturierungen zu vollziehen, wenn sich die alten Strukturen als nicht mehr kompatibel mit seinen Zielvorstellungen erwiesen. So vollzog Heinemann immerhin zweimal einen Parteiwechsel, was ihm gleichermaßen Lob und Kritik entgegenbrachte.
Heinemann war nicht bequem und opportunistisch, weder zu sich selbst noch zu anderen. Wenn der Wind in die falsche Richtung wehte, dann stemmte sich Heinemann gegen die Böen, statt sich — was viel einfacher gewesen wäre — von diesen treiben zu lassen, wie die meisten taten. Als die Faschisten an die Macht kamen, „muckte“ Heinemann auf. Als Adenauer die BRD wiederbewaffnen wollte, trat Heinemann zurück. Rückgrat zu besitzen, war diesem Mann immanent.
Und heute? Was würde ein Heinemann sagen, sähe er das heutige Kabinett? Würde er womöglich vor lauter Erstaunen und Entsetzen die Brille abnehmen, angesichts eines Olaf Scholz, einer Annalena Baerbock und eines Karl Lauterbach.
Wie blass und profillos wirken die eben genannten Personen neben einer politischen wie menschlichen Größe wie Gustav Heinemann? Und dass, obwohl sich der Grad des In-Szene-Setzens von Politikern mit Social Media et cetera seit den 1970er-Jahren vervielfältigt hat. „Political interest“ werden durch „human interest“ ersetzt, wie Herfried Münkler diese Tendenz einmal beschrieb, gemeint ist also ein Wegführen des öffentlichen Fokus von politischen Inhalten hin zu den einzelnen, menschlichen Akteuren der Politik. Das In-den-Vordergrund-Stellen privater Angelegenheiten kann als Strategie dienen, politische Inhalte in den Hintergrund verrücken zu lassen.
Und genau hier mag die Krux bei der ganzen Sache liegen. Wir wissen heute mehr denn je über die Persönlichkeit von Politikern, die selbst aber keine Persönlichkeiten sind und deshalb mithilfe von Medienkampagnen zu vermeintlich bedeutsamen Personen hochgejazzt werden.
Und in Zeiten, in welchen politische Inhalte dem Kult um Personen weichen, da ist eine menschliche Eigenschaft nicht weit: die Eitelkeit.
Wir beobachten Politiker, wie sich auf den Social-Media-Plattformen — im Besonderen auf Twitter — wie ein Sonnenkönig aufführen und in selbstherrlich-narzisstischer Weise denken, sie müssten die gesamte Bevölkerung an ihrem privaten wie politischen Leben teilhaben lassen.
Gustav Heinemann bei Twitter? Undenkbar! Das dort vorherrschende sprachliche Niveau sowie die Zeichenbegrenzung hätten den ehemaligen Bundespräsidenten wohl einen weiten Bogen um diese Plattform machen lassen. Auch hätte ihn dort die ununterbrochen zur Show gestellte Eitelkeit der Akteure wohl angewidert. Sein Parteifreund Erhard Eppler sagte einst über ihn:
„Die Berufskrankheit der Politiker ist nicht die Lüge, sondern die Eitelkeit. Gustav Heinemann ist der am wenigsten eitle Politiker, den ich kenne. Er versucht, nie zu brillieren. Er wird höchstens aus Versehen brillant.“
Im Nachfolgenden wollen wir einige Phänomene unserer Zeit betrachten und im Verhältnis dazu uns ansehen, was Gustav Heinemann damals schon dazu zu sagen wusste:
Vorübergehend dauerhafte Aussetzung des Grundgesetzes
In dem Abschnitt über Heinemanns Zeit als Justizminister wurde bereits überdeutlich, dass er sich gegen einen übergriffigen Staat stark machte und etliche Straftatbestände zugunsten der Verhältnismäßigkeit in den Bereich der Ordnungswidrigkeit überführte. Die Kriminalisierung und Verfolgung von Maßnahmen- und Regierungskritikern hätte er so wohl nie hingenommen. Dass Arztpraxen gestürmt werden, wenn ansässige Ärzte dort Maskenatteste ausstellen, dass Familienrichter trotz ordentlicher wie rechtmäßiger Amtsausübung der Rechtsbeugung angeklagt werden — das alles wäre bei Heinemann mindestens auf Unverständnis gestoßen, höchstwahrscheinlich aber zu einer schweren Verurteilung.
Das Grundgesetz — laut Heinemann die verkörperte Erfahrungsweisheit der Besten unserer Vorfahren — auf unbestimmte Zeit und auf fadenscheiniger Grundlage zu suspendieren, hätte er wohl auf das Schärfste verurteilt.
Cancel Culture
Heinemann war ein Freund und Verteidiger des freien Wortes. Unliebsame Meinungen zu „canceln“ wäre ihm so was von fremd gewesen. Zur Meinungsfreiheit sagte er einst:
„Kritik braucht den freien Markt der Meinungen und Gegenmeinungen, um fruchtbar zu bleiben. (…) Zum freien Markt der Meinungen und Gegenmeinungen gehört auch, dass man sich irren oder gar verwirren kann, ohne dafür nach Jahren zur Rechenschaft gezogen zu werden, zumal wenn die Irrtümer inzwischen eingesehen und überwunden werden.“
Heinemann räumte jeden Menschen wie selbstverständlich das Recht zu irren ein, was auch impliziert, dass ein Mensch nach einem begangenen Irrtum rehabilitiert werden kann. In dem heutigen Diskurs der Öffentlichkeit sucht man derlei Barmherzigkeit vergebens.
Ebenso hielt Heinemann von der sogenannten Kontaktschuld gar nichts außer Abstand. Als in der DDR Stimmen laut wurden, die sich wohlwollend über Heinemann äußerten, warf ihm ein katholischer Studienrat in Hamburg vor, er, Heinemann, hätte eine untragbare Nähe zum ostdeutschen System. Heute würde man von „Kontaktschuld“ sprechen. Heinemann erwiderte in einem Brief:
„Ich bin niemals das, was diejenigen sind, welche sich auf mich berufen, sondern ich bleibe meiner selbst auch dann sicher und gewiß, wenn man mich auf anderer Seite in Anspruch nimmt. Wie wollen Sie in einem geteilten und in seinen Stücken in entgegengesetzte Machtblöcke eingespannten Vaterland überhaupt Politik machen, ohne daß Sie von der einen oder anderen Seite in Anspruch genommen werden. Wenn immer nur das Gegenteil von dem richtig sein soll, was drüben gesagt wird, geben wir die Steuerung der hiesigen Politik auf eine sehr billige Weise nach drüben ab. Entscheidend muß doch bleiben, was sachlich richtig ist.“
Krieg und Frieden
Dass Heinemann seit Ende des Ersten Weltkrieges ein entschlossener Kriegsgegner ist, wurde hier bereits ausführlich herausgearbeitet. Eskalationen wie die heutigen hätte er nie und nimmer gutgeheißen. Sein Streben nach Diplomatie und Friedensverhandlungen hätte er sich wohl nie verbieten lassen:
„Nicht Frieden um jeden Preis! Aber auch: Krieg um keinen Preis, sondern die Bereitschaft zur Verständigung bis zuletzt.“
Wie leichtfertig aktuell mit einem potenziellen Kriegseintritt Deutschlands gespielt wird, liefert Zeugnis davon, dass die Politiker von heute keinerlei biografische Berührungspunkte mit den Weltkriegen haben.
Wer in Frieden aufgewachsen ist und diesen als so natürlich wahrnimmt wie die Fische das Wasser, der mag es nicht mehr in den Knochen haben, was dieses Elend bedeutet. Anders lässt sich nicht erklären, wie sehr die Last eines Krieges auf die leichte Schulter genommen wird. Ganz anders Heinemann, der einen Weltbrand gleich zweimal miterlebte. Dieser wusste noch, was es bedeutet, wenn nachts das Pfeifen herabfallender Bomben die Stille durchreist, gefolgt von dem tödlichen Donner der Detonation.
„Nicht der Krieg, sondern der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“
Identitätspolitik
Heinemann war ein Liebhaber der deutschen Sprache, wie sich schon in jungen Jahren zeigte. Der Genderstern wäre ihm wohl im Halse stecken geblieben und nichts hätte ihm wohl ferner gelegen, als die deutsche Sprache derart zu verunstalten.
Wie er sich zu dem Genderwahnsinn und dem Geschlechterwirrwarr verhalten hätte, ist sehr schwer einzuschätzen. Derlei Unfug konnte sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts wohl niemand ausmalen. Was als gesichert gelten kann, ist, dass Heinemann durch und durch ein Freund einer rationalen und ausgewogenen Form von Gleichberechtigung war:
„Gleichberechtigung zielt darauf ab, dass Männer und Frauen unserer Gesellschaft, in voller Gleichwertigkeit dessen, was sie an körperlichen, geistigen und seelischen Verschiedenheiten einbringen, miteinander gestalten.“
Technischer Machbarkeitswahn
Künstliche Intelligenz, Algorithmen, Plattform-Ökonomie, Transhumanismus, 5G, Biopolitik, Genspritzen — wie hätte sich Gustav Heinemann wohl dazu verhalten? Auch das ist schwer einzuschätzen. Heinemann legte sein Amt in einer Zeit nieder, als offizielle Briefe noch per mechanischer Schreibmaschine aufgesetzt wurden. Von der Explosion an technischen Möglichkeiten konnte selbst er als Vordenker wohl nichts ahnen.
Dennoch gibt es ein Zitat, welches nahelegt, dass Heinemann dem Wahn der technischen Machbarkeit auf vielen Ebenen den Riegel vorschieben würde:
„In einem nie zuvor erlebten Tempo macht sich die Menschheit die Schöpfung bis in den Weltraum hinein untertan. Der Einzelne aber wird immer ohnmächtiger.“
Das gelebte Leben des Gustav Heinemann
Man könnte folgern, dass Gustav Heinemann privat wie politisch so war, wie er war, weil es in seinem Leben immer einen Sinn sowie ein stabiles Wertegerüst als orientierungsgebenden Polarstern gab. Heinemann lebte nicht für den kurzweiligen Politiker-Ruhm und Selbstbeweihräucherung. Er sah sich seinem Gewissen verpflichtet und stellte dieses häufig über seine persönlichen Befindlichkeiten. Das unterscheidet ihn von so vielen der opportunistischen Politiker der Jetztzeit.
Darüber hinaus dürften ihm zwei weitere Faktoren Stabilität verliehen haben: die Liebe zu seiner Frau Hilda Heinemann — „Ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!“ — und seine nicht vorhandene Angst vor dem Tod. Weite Teile der Coronapolitik können mitunter erklärt werden mit der weitverbreiteten Angst vor dem Tod und der damit einhergehenden Angst vor dem nicht gelebten Leben. Dem gläubigen Gustav Heinemann war dies fremd:
„Nein, der Gedanke, morgen nicht mehr da zu sein, schreckt mich nicht. Wenn es hoffnungslos werden sollte, dann will ich keine künstliche Lebensverlängerung (…) Ich habe immer gesagt, Gott regiert die Welt — und das beziehe ich auch auf mich.“
Quellen und Anmerkungen:
Die Worte von Gustav Heinemann wurden aus folgender Literatur zitiert:
- Hermann, Dirk: „Vordenken und Querdenken: Hundert Worte von Gustav Heinemann“, München, 2010, Verlag Neue Stadt.
- Winkle, Hermann: „Gustav Heinemann“, Bornheim, 1986, Lamuv Verlag.
Darüber hinaus verwendete Literatur:
- Münkler, Herfried: Theatralisierung der Politik, in Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Herausgeber): Ästhetik der Inszenierung — Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main, 2013, Seite 144 bis 159.