Der Sadismus der Macht
Viele Phänomene im privaten und politischen Leben sind durch das dunkle Verlangen erklärbar, andere Lebewesen absolut zu beherrschen.
Warum gibt es so viel Leid, Zerstörung und Tod auf der Welt? Obwohl jeder Mensch — wie unter anderem die buddhistische Lebensphilosophie betont — nach Glück strebt und Leid zu vermeiden sucht. Eine Erklärung könnte sein, dass es Menschen gibt, die glücklich sind, wenn andere leiden. Wir fassen diesen Schattenaspekt der menschlichen Seele normalerweise nicht ins Auge, weil er uns fremd und bedrohlich anmutet. Wenn es beispielsweise um destruktive Verhaltensweisen von Politikern geht, nehmen wir normalerweise an, diese hätten gute Absichten, seien aber leider Gottes nicht sehr fähig und an ihren hohen Zielen gescheitert. Der Begriff „Sadismus“ wird nicht oft eingesetzt, um die Gründe für ein Verhalten zu beschreiben, das negative Folgen für andere Menschen oder gar für ganze Völker hat. Das liegt darin, dass Sadismus oft einseitig so verstanden wird, dass jemand sexuelle Befriedigung dabei empfindet, andere zu quälen. Wenden wir jedoch eine andere, erweiterte Definition an, wie sie unter anderem der Philosoph und Psychotherapeut Erich Fromm geprägt hat, stellen wir fest: Sadismus ist das dunkle Geheimnis hinter vielen auf den ersten Blick völlig unverständlichen, destruktiven Verhaltensweisen unserer Mitmenschen.
Nach Erich Fromm liegt vielen psychischen Erkrankungen der Moderne das Bedürfnis nach Symbiose zugrunde. Herausgelöst aus „primären“ Bindungen, aus Familienverband, Sippe, Volksgemeinschaft und religiöser Gemeinschaft fühlen wir uns isoliert und entwurzelt. In mythologischer Sprache wurde der moderne Mensch aus dem Paradies vertrieben. Er will mit Orwells Worten „seinem Ich entrinnen“, weil dieses mit Gefühlen von Schmerz, Scham und Einsamkeit zu kämpfen hat. Er strebt nun nach neuen Verbindungen, will aufgehen in einem „größeren Ich“. Wo der Weg zu einer wirklich erfüllenden Liebesverbindung verstellt scheint, entstehen oft ungesunde Formen der Symbiose — also einer Form der Verbundenheit, die die Ichgrenzen verschwimmen lässt.
Eine der Varianten dieses „Syndroms“ ist der Sadismus. Der Sadist sucht die Verschmelzung mit anderen zu einer höheren Einheit, einer Art Superorganismus. Aber er will dieses größere Ganze gleichzeitig kontrollieren, will allein über den Kurs des „Bootes“ bestimmen, in dem er gemeinsam mit anderen sitzt, obwohl seine Mitfahrer grundsätzlich das gleiche Recht hätten, über die Richtung mitzubestimmen. Die sadistische Form der Machtausübung will zwei Bedürfnisse miteinander in Einklang bringen: den Wunsch, sich nicht länger allein und isoliert zu fühlen, und den Wunsch nach Kontrolle. In gesunden Beziehungen, etwa einer funktionierenden Ehe, zügeln wir unser Bedürfnis nach Kontrolle und Dominanz aus Freude an der Gemeinschaft mit der anderen Person. Grundsätzlich müssen wir entscheiden, ob wir allein sein wollen — dann haben wir unbeschränkte Entscheidungsfreiheit — oder in Gemeinschaft mit anderen – dann müssen wir auf deren Bedürfnisse Rücksicht nehmen, die vielleicht von unseren abweichen.
Zum Gott anderer Menschen werden
Den Sadismus beschreibt Erich Fromm in seinem Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ sehr ausführlich. Fromm führt darin aus, „dass der Kern des Sadismus, der allen seinen Manifestationen gemeinsam ist, die Leidenschaft ist, absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben, ob es sich nun um ein Tier, ein Kind, einen Mann oder eine Frau handelt. Jemand zu zwingen, Schmerz und Demütigung zu erdulden, ohne sich dagegen wehren zu können, ist eine der Manifestationen absoluter Herrschaft, wenn auch keineswegs die einzige. Wer ein anderes Wesen völlig beherrscht, macht dieses Wesen zu einem Ding, zu seinem Eigentum, während er selbst zum Gott dieses Wesens wird“.
Sadismus nach Fromm ist ein scheinbarer Ausweg aus der Einsamkeit des Menschen, ein irregeleiteter Versuch, die eigene beschränkte Existenz gleichsam um den Unterworfenen zu erweitern — mit der Folge, dass dieser seiner Würde beraubt und zur „Sache“ degradiert wird.
Fromm spricht auch vom „Ton in des Töpfers Hand“, den der Beherrschte für den Dominanten darstellen soll.
Der Machthaber mit sadistischer Persönlichkeitsstruktur will beides: Verbindung und unbegrenzte Verfügungsgewalt über die mit ihm verbundenen Menschen. Diese sind für ihn dann eher Werkzeuge, formbare Knetmasse. Je mehr sie zu Gebrochenen geworden sind, zu willenloser Verfügungsmasse, desto sicherer fühlt der Mächtige sich in der von ihm angestrebten Symbiose. Der ideale Untertan eines Sadisten wird gegen einen Befehl ebenso wenig Widerstand leisten, wie sich seine Hand weigern wird, nach einer Teetasse zu greifen, wenn sein Geist dies so entschieden hat. Er wird sich auch so wenig dagegen sträuben, einen Feind seines Herren zu schlagen, wie ein Handschuh, den sich der Schlagende überstreift.
Der Herrscher braucht den Beherrschten
Machthaber im größeren Stil sehen mitunter ein ganzes Volk als ihr erweitertes Selbst. Die passiven, die unterworfenen „Mitglieder“ einer symbiotischen Gemeinschaft sind dann keine Personen mehr mit eigenen subjektiven Empfindungen und sich daraus ableitendem Recht auf Berücksichtigung ihrer Interessen. Untergebene sollen „jemand“ sein, um das Bedürfnis des Mächtigen nach Gesellschaft zu befriedigen; sie sollen jedoch zugleich „niemand“ sein, also weder Hindernis noch Gegengewicht zu seinen Ambitionen darstellen, weil ihnen nach Wahrnehmung des Dominanten die Würde des Subjekts abgeht, das Mittelpunkt seiner eigenen Erlebniswelt ist.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Sadist seine Opfer weitaus mehr braucht als diese ihn. Ein drastisches Beispiel ist der Kampusch-Entführer Wolfgang Priklopil, der Selbstmord beging, unmittelbar nachdem sein Opfer Natascha Kampusch 2006 vor ihm fliehen konnte. Erich Fromm schreibt in „Die Furcht vor der Freiheit“ darüber: „Der sadistische Mensch braucht die Person, die er beherrscht, unbedingt, da sein eigenes Gefühl von Stärke in der Tatsache begründet liegt, dass er über einen anderen Herr ist. Diese Abhängigkeit kann völlig unbewusst sein.“
Wirkliche Liebe ist diesen Menschen nicht möglich, auch wenn es sich für ihn vielleicht wie Liebe anfühlen mag, was er gegenüber den Beherrschten empfindet „Er bildet sich vielleicht ein, er wolle ihr Leben nur beherrschen, weil er sie so sehr liebt. Tatsächlich aber ‚liebt‘ er sie, weil er sie beherrscht“, schreibt Erich Fromm.
„Über einen anderen zu herrschen und dabei zu behaupten, es geschehe nur zu dessen Besten, sieht oft wie Liebe aus, aber die wesentliche Rolle spielt dabei die Lust am Beherrschen.“
Das rastlose Verlangen nach Macht
In noch abgründigeren Formen der absoluten Herrschaft gehen Machthaber so weit, andere zu quälen und zu töten — als buchstäblich „schlagende“ Beweise für die eigene Machtvollkommenheit. „Wenn es in meiner Macht liegt, den anderen zu töten, bin ich ‚stärker‘ als er. Im psychologischen Sinn jedoch wurzelt die Machtgier nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche. Sie ist Ausdruck der Unfähigkeit des Einzelnen, im Leben auf eigenen Füßen zu stehen. Sie ist der verzweifelte Versuch, sekundär zu Stärke zu kommen, wo genuine Stärke fehlt.“ Und Erich Fromm fährt fort: „Impotenz — wenn wir diesen Ausdruck einmal nicht auf die sexuelle Sphäre beschränken, sondern ihn auf alle Bereiche menschlicher Möglichkeiten ausdehnen wollen — führt zu sadistischem Streben nach Macht über andere.“
Machtlust wird nur in den allerseltensten Fällen wirklich ehrlich kommuniziert, weshalb das Statement von Robert Ley besonders aufschlussreich ist. Der Führer der Deutschen Arbeiterfront unter den Nazis schrieb über die Qualitäten von Führungspersönlichkeiten: „Wir wollen herrschen, wir haben Freude am Herrschen (…). So werden diese Männer zum Beispiel reiten lernen, um das Gefühl zu haben, ein lebendes Wesen absolut beherrschen zu können.“ Thomas Hobbes geht in seiner staatstheoretischen Schrift „Leviathan“ (1651) von einem allgemeinen Machtverlangen als Grundkonstante des Menschen aus. So sei „ein ständiges und rastloses Verlangen nach Macht und abermals Macht, das erst mit dem Tod ein Ende hat, eine allgemeine Neigung der gesamten Menschheit.“ Hier sind also nicht nur Sadisten im engeren Sinn gemeint.
Macht hat Suchtcharakter
Die vielleicht brutalste Philosophie der Macht hat Friedrich Nietzsche in seinem „Antichrist“ entworfen: „Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? — Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden werden muss.“ Der letzte Satz ist besonders aufschlussreich. Er gibt der Macht eine dynamische Komponente und erklärt teilweise, warum Mächtige „nicht genug bekommen“. Es genügt nicht, dass Macht vorhanden ist, sie muss auch wachsen — potenziell unbegrenzt und ohne ein zu erreichendes Endziel. Jeglicher Vorwand — dem Machthaber gehe es um das Wohl des Volkes und dergleichen — ist hier fallen gelassen. Ergänzend fordert Nietzsche: „Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“
Das Wachstum der Macht: Der Kreisvorsitzende will Ministerpräsident werden, der Ministerpräsident Kanzler oder EU-Ratsvorsitzender. Ist dies erreicht, will man mindestens noch den Kurs der EU und der NATO entscheidend mitbestimmen und eine möglichst große Zahl „peripherer“ Staaten mitkontrollieren. Nicht nur um die beständige Erweiterung der Zahl der „Untergebenen“ geht es jedoch, sondern auch um die Vertiefung der Macht. Im Idealfall soll der Untertan aufhören, Mensch zu sein, denn als solcher ist ein gewisser Rest an Eigenwillen nie ganz auszuschließen.
Ideal ist demnach die Charakterstruktur eines Haushaltsroboters. Der Wille des Herrschers soll, durch immer weniger Widerstände behindert, möglichst unverfälscht und unmittelbar Realität werden.
Der Befehl soll ungehindert von oben nach unten durchsickern — wie sich ein Apfel im freien Fall dem Boden nähert. Dazu braucht es aber Untergebene, die ihm ebenso wenig Widerstand entgegensetzen wie Luft.
Zwei Stoßrichtungen der Machtausübung
George Orwell beschreibt diese beiden Stoßrichtungen der Macht – Erweiterung und Vertiefung — in seinem Roman „1984“ so: „Die beiden Ziele der Partei sind, die ganze Erdoberfläche zu erobern und ein für alle Mal die Möglichkeit unabhängigen Denkens auszutilgen.“ In der Breite will Macht das Territorium ausweiten, auf dem sie herrscht; in der Tiefe will sie sich im Geist der ihr unterworfenen Menschen mehr und mehr ausbreiten, bis dieser vom Willen der ursprünglichen Persönlichkeit ganz leer geworden und mit dem Willen des Herrschers angefüllt ist. Die Idee ist, dass möglichst alle möglichst vollständig gehorchen. Solange dies nicht geschehen ist, besteht im Prozess der Machtakkumulation sozusagen noch Luft nach oben.
Merkmal des Tyrannen ist laut der Philosophin Hannah Arendt „der Wille zur Macht als solcher“. Dieser existiert „ohne alle Leidenschaft, sich auszuzeichnen“, verzichtet also auf die Ambition, zum größtmöglichen Glück von möglichst vielen Menschen beizutragen. Macht ist „nicht Mittel, sondern Zweck“, sagt Arendt, was der Definition entspricht, die auch George Orwells Parteisoldat O’Brian in „1984“ geliefert hatte, nur dass die große Denkerin zur Tyrannei auf größtmögliche Distanz geht. Der Wille zur Macht, so Arendt, sei nicht bloß ein „politisches Laster“, vielmehr handele es sich „um eine Eigenschaft, durch die alles politische Leben zerstört wird“.
Eine nichtsexuelle Definition des Sadismus
Die Frage, die sich durch den Gebrauch des Begriffs „Sadismus“ stellt, ist nun die: Hat Machtlust nicht tatsächlich eine sexuelle Komponente oder sexuelle Ursprünge? Grundsätzlich verwendet Erich Fromm eine nichtsexuelle Definition des Sadismus. Das heißt, sexuelle Erregung im Zusammenhang mit körperlicher Gewaltanwendung ist nicht sein Thema, eine geistig-emotionale Freude am Herrschen jedoch sehr wohl.
Die Form der Vereinigung, die der Fromm‘sche Masochist und Sadist anstreben, gleicht eher der frühen Symbiose des Fötus mit der ihn bergenden Mutter. Einmal daraus vertrieben, strebt die regressive Persönlichkeit nach einer neuen Symbiose, jedoch unter dem Vorzeichen der Nicht-Gleichrangigkeit.
Während die erwachsene sexuelle Liebe zwei gleich starke und unabhängige Individuen zu einer Gemeinschaft zusammenschließt, wird in der Mutter-Kind-Symbiose der eine der beiden Symbionten vom anderen umschlossen, getragen und genährt, ist ganz von ihm abhängig. Hier herrscht alles andere als ein Machtgleichgewicht. Die Vorstellung eines Volkes oder einer Partei als bergender Matrix für das Individuum knüpft an die Mutter-Kind-Bindung an. In diesem Bild ist der Sadist/Herrscher jedoch eher die „Mutter“, der Masochist/Untertan jedoch der „Fötus“. „Der Unterschied ist nur, dass der Sadist nicht dadurch Sicherheit zu gewinnen sucht, dass er sich verschlingen lässt, sondern dadurch, dass er einen anderen verschlingt“ (Erich Fromm).
Als erregend in einem fast sexuellen Sinn beschreibt auch George Orwells Folterknecht O’Brian die Machtausübung: „Aber immer — vergessen Sie das nicht, Winston — wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wächst und immer raffinierter wird. Dauernd, in jedem Augenblick, wird es den aufregenden Kitzel des Sieges geben, das Gefühl, auf einem wehrlosen Feind herumzutrampeln.“
Schmerz wirkt tiefer als Lust
Eine noch tiefer gehende Deutung von Machtlust gibt der Namensgeber des Begriffs „Sadismus“, der Marquis de Sade, in seinem Roman „Justine“: „Nicht Lust willst du deinen Partner empfinden lassen, sondern Eindruck willst du auf ihn machen; der des Schmerzes ist weit stärker als der der Lust (…); das merkt man, man nutzt ihn und findet Befriedigung.“ Es wird eher selten als Motiv für Machtausübung angegeben, dass jemand „Eindruck machen“ will. Im Prinzip aber ist Macht tastsächlich die Erfahrung, auf andere Lebewesen eine starke Wirkung ausüben zu können und diese Wirkung zu beobachten.
Wie man seinen Fußabdruck im Schnee noch lange sehen kann und der „ökologische Fußabdruck“ eine potenziell verheerende Wirkung entfalten kann, hinterlässt der Mensch gleichsam einen Abdruck auf der Seele seiner Mitmenschen. Seine Existenz, seine Handlungsweise machen einen Unterschied — und dies umso größer, je mehr Macht er hat. Jemand, den wir lieben, hat Macht über uns; jemand, der uns Schmerzen zufügen kann — wie O’Brian dem auf seiner Liege im Verhörraum angebundenen Winston Smith — ebenfalls.
Wenn wir voraussetzen, dass Macht immer bestrebt ist, sich auszuagieren, zur Anwendung zu kommen, sich spürbar zu machen, dann lässt das Zufügen von Schmerz die Macht vielleicht noch stärker hervortreten als die Freude, die wir jemandem bereiten.
Lust beruht in der Regel auf dem freiwilligen Entgegenkommen dessen, der sie empfängt. Schmerz hinzunehmen, setzt dagegen ein Machtgefälle und eine Zwangssituation voraus, der sich das Opfer nicht entzieht. Jemanden dazu zu zwingen, sich Schmerz zufügen zu lassen, ist der Beweis für das Vorhandensein von Macht schlechthin. Einen Eindruck zu machen, ist gut, einen starken Eindruck zu machen, besser, und jemandem etwas für ihn eigentlich Unerträgliches zuzumuten, ist geradezu die Königsdisziplin der Machtausübung. Mit dem Zufügen von Schmerz spürt sich der Mächtige am meisten, eben weil dies naturgemäß nicht freiwillig geschehen kann.
Motive der Sadisten
Man beachtet in diesem Zusammenhang auch Erich Fromms Ausführungen über die Motive des Sadisten: „Das Bestreben, einen anderen Menschen völlig in die Gewalt zu bekommen, ihn zu einem hilflosen Gegenstand des eigenen Willens zu machen, zum absoluten Herrscher über ihn, zu seinem Gott zu werden und mit ihm machen zu können, was einem gefällt. Ihn zu demütigen und zu versklaven, sind zur Mittel zum Zweck. Das radikalste Ziel ist, den Betreffenden zu quälen, da es keine größere Macht über einen anderen Menschen gibt, als wenn man ihm Schmerzen zufügt, wenn man ihn zwingt zu leiden, ohne dass er sich dagegen wehren kann.“
Die Macht in dieser perversen Erscheinungsform ist tatsächlich erst zufrieden, wenn sie sich zum Gott der ihr Unterworfenen macht. Wenn wir davon ausgehen, dass Machtausübung für bestimmte Charaktere lustvoll ist, dann muss klar sein, dass es sich nicht um regelmäßigen und kontrollierten Genuss handelt – in der Art eines allabendlich genossenen, immer ungefähr gleich großen Stücks Schokolade. Vielmehr können wir von einer Suchtwirkung der Macht ausgehen, jedenfalls in Fällen schwerer psychischer Störungen. Das gewohnte Befriedigungsgefühl kann bei längerer „Anwendung“ nicht mehr mit der gleichen Dosis des Suchtstoffs herbeigeführt werden.
Der Süchtige braucht irgendwann mehr desgleichen, dann noch mehr, dann noch mehr … Es wird aber irgendwann für ihn nicht mehr möglich sein, sein Herrschaftsgebiet immer weiter zu stecken. Es sei denn, er geht dazu über — wie in Star-Trek-Serien — in den Weltraum auszuweichen und durch Eroberung weiterer bewohnter Planeten quasi ein expandierendes Klingonen-Imperium zu errichten. Die Lust am Wachstum der Macht (Nietzsche) muss also auf andere Weise befriedigt werden.
Der mächtigste Deutsche
Nach Orwell streben Machtstrukturen nach Erweiterung durch 1. die Vermehrung der Anzahl der Unterworfen und 2. die Vertiefung ihres Einflusses auf den menschlichen Geist — also die Zurückdrängung jedes freien Gedankens und die vollständige Kolonialisierung des Bewusstseins der Untertanen durch Herrschaftsnarrative. Wir können nun aber noch eine dritte „Stoßrichtung“ hinzufügen: die Steigerung des „Eindrucks“ — wie der Marquis de Sade sagte —, den der Machthaber beim Ohnmächtigen hervorruft. Dieser kann angenehm und lustvoll sein oder auch unangenehm und schmerzvoll. Kollektives Glück hervorzurufen — etwa durch begnadetes politisches Handeln — ist ein Beweis der eigenen politischen Potenz. Ebenso kann man sich selbst aber als mächtig spüren, wenn man ganze Völker in Krieg und Leid stürzt.
Die Richtung der Macht — konstruktiv oder destruktiv — ist eine Sache, eine andere ist ihre Stärke, also die Intensität ihrer Wirkung auf andere. Mitunter ist diese Intensität aber größer und hält länger an, wenn man sich für die dunkle Seite der Macht entscheidet. Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und andere hellsichtige Politiker haben viele Menschen mit der Wiedervereinigung für kurze Zeit sehr glücklich gemacht. Es herrschte große Euphorie und Volksfeststimmung beim Mauerfall. Verglichen aber mit dem Schatten, den ein Adolf Hitler über das Leben von einigen hundert Millionen Menschen geworfen hatte, war die schnell verpuffende Wende-Euphorie nur ein Schlag ins Wasser.
Die größte denkbare Macht
Destruktive Machtausübung hat für viele wohl deshalb einen unvergleichlichen Reiz, weil man Leid durch geschickte Politik fast unbegrenzt vermehren kann. Wird man in seinen Expansionsgelüsten doch einmal von noch stärkeren Mächten gestoppt, so wirkt man in Form transgenerationaler Traumata im Volksgedächtnis weiter.
In gewisser Weise gibt es in Deutschland nach wie vor keinen mächtigeren Mann als Adolf Hitler. Geradezu zwanghaft sind wir alle noch immer auf ihn bezogen — durch die Spätfolgen des durch ihn verursachten Leids, durch Vermeidungs- und Abgrenzungsverhalten oder seltener auch durch bewusste oder unbewusste Nachahmung. Mehr Macht kann es eigentlich kaum geben.
Wenigen Menschen viel Leid oder vielen Menschen ein bisschen Leid zuzufügen — das bedeutet begrenzte Machtlust. Richtig interessant wird es dagegen, wenn es gelingt, viele Menschen erheblich zu quälen. Eine Diktatur zu errichten — egal unter welchem Vorwand – ist sicher die Königsdisziplin auf diesem Gebiet.
Kommen wir aber zurück zu Erich Fromms Behauptung, es gebe „keine größere Macht über einen anderen Menschen (…), als wenn man ihm Schmerzen zufügt“. Nun, das ist durchaus steigerbar. Die größte denkbare Macht besteht darin, jemandem das Leben zu nehmen. Verfügt jemand nur über eingeschränkte Machtfülle, kann er darüber entscheiden, wie andere leben; absolute Macht dagegen verleiht das Recht zu bestimmen, ob jemand überhaupt leben darf. Ein Sadist im fortgeschrittenen Stadium wird also immer eine Affinität zum Krieg haben.
Vor allem wird er bestrebt sein, einen für ihn schmerzhaften, seine Macht begrenzenden Faktor auszuschalten: seine eigene Sterblichkeit. Seine Kontrolle über das Leben möglichst vieler Menschen soll seinen Tod überdauern, selbst wenn er diese Tatsache nicht mehr persönlich wird genießen können. Wer solches anstrebt, hat im Prinzip zwei Möglichkeiten: einen Krieg anfangen oder ein Land in die Überschuldung treiben.