Der russophobe Kult

Die unkritische Masse kann mit jeder beliebigen Agenda angetriggert werden — nun wird sie unter blau-gelben Bannern gegen die Menschen Russlands mobilisiert.

Vorgestern war es Black Lives Matter, gestern der Regenbogenkult, heute Blau und Gelb, wohin man auch sieht. Wenige Tage nach Putins völkerrechtswidrigem Angriff auf die Ukraine stehen quasi über Nacht in weiten Teilen der Welt die Menschenmassen hinter der Ukraine. Die ukrainischen Farben zieren Straßen und Social-Media-Nutzeroberflächen. Bei naiver Betrachtung könnte einem das Herz aufgehen ob des — vermeintlichen — Wiedererwachens einer Friedensbewegung. Doch schon bei minimal genauerer Betrachtung entpuppt sich die neue Friedenstaube schlicht als gewöhnliche Taube, einfach weiß angemalt. Angesichts der massenhaften Solidaritätsbekundungen kann bei oberflächlichem Hinsehen der Eindruck entstehen, der Krieg hätte erst im Februar 2022 begonnen. Dabei stellt der Einmarsch Russlands in die Ukraine die nächste Eskalationsstufe eines Konfliktes dar, der bereits vor acht Jahren mit dem Maidan-Putsch begann. Doch diese acht Jahre des Bürgerkriegs scheinen in dem Bewusstsein der plötzlichen Ukrainefreunde nicht vorhanden zu sein. Ebenso wenig die Ost-Erweiterung der NATO, die sich entgegen den mündlichen Versprechen an Michail Gorbatschow seit den 1990er-Jahren sukzessive ostwärts bewegte und die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands verletzte. Darüber hinaus zeigt sich spätestens bei dem eruptiven Aufkeimen der Russophobie in der breiten Mitte der Gesellschaft, dass sich unter dem Gefieder der „Friedenstaube“ ein atlantischer Adler versteckt, der für westliche Interessen auf Raubzug ist.

Wie konnte es dazu kommen, dass, noch ehe der Coronakult sein Ende fand, unmittelbar ein neuer Kult die Gesellschaften erfasste und es nun en vogue ist, sich gelb-blau zu schmücken sowie einem ungezügelten Russenhass hinzugeben? Das mag sicherlich nicht auf alle Aktivisten zutreffen, doch ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung entpuppt sich — abermals — als beliebig manövrierbare Verfügungsmasse, die man für und gegen alles in Stellung bringen kann. Und das, obwohl die logischen Konsequenzen für jene Beteiligten vollkommen absehbar sind und sie sich damit selber schaden.

Angesichts des russophoben Kults wagte ich mich mal wieder an eine Pokerrecherche. Was ist eine Pokerrecherche? Bei dieser Art Recherche betrachtet man eine gesellschaftliche Dynamik, einen massenmedialen Prozess, der in seiner Entwicklung so vorhersehbar und berechenbar ist, dass man auf gewisse Ereignisse Wetten abschließen kann. Man geht also mit sich selber eine Wette ein, dass XY kommen wird, und die anschließende Google-Recherche von weniger als zehn Sekunden dient lediglich der Bestätigung der Vermutung.

Welche Wette bin ich also mit mir selbst eingegangen? Ohne, dass ich zuvor etwas darüber gelesen, gesehen oder gehört hätte, wettete ich mit mir, dass angesichts der massenmedialen Omnipräsenz der blau-goldenen Ukraineflaggen nun die Münchner Allianz Arena in eben diesen Farben erleuchtet wird. Kurz gegoogelt und ... zack: Jackpot!

Dieser Tage weiß man nun ehrlich gesagt nicht, ob einem der Mund offen steht wegen des Erstaunens über die Plumpheit der Propaganda oder wegen des Einfach-nur-noch-gähnen-Könnens bei der Beobachtung einer Abfolge der alten Tricks in neuer Intensität.

Nun überziehen die blau-goldene Ukraineflaggen das Land und die Nutzeroberflächen der Sozialen Medien. Vor zwei Jahren waren es die schwarzen Profilbilder zu Black Lives Matter, dann kam der Spritzenkult, anschließend die Regenbogenfarben und nun sind auf einmal alle Freunde der Ukraine. Ein Großteil der Bevölkerung wirkt wie eine beliebig steuerbare Verfügungsmasse, deren einzelne Individuen über jedes Agendastöckchen springen, das ihnen hingehalten wird: Klima, Antirassismus, „Impfung“, LGBTQ*+ XYZ und nun kriegslüsterne Russophobie.

Im Nachfolgenden wollen wir uns ansehen, wie sich dieses Phänomen auf der individuellen Ebene erklären lässt. Welche Typen von Menschen sind für diese Art der Propaganda empfänglich und wie schaukeln diese sich wechselseitig hoch? Zum anderen wollen wir das Phänomen auf der kollektiven Ebene betrachten.

Die Empfänger der Propaganda

„Non playable character“ (NPC) oder auch „Normopathen“

Die Bezeichnung NPC (deutsch: Nicht-Spieler-Charakter) kommt aus der Gamingbranche und bezeichnet in Videospielen jene Charaktere, die durch den Spieler selbst nicht gesteuert werden können. Das sind Charaktere, die teils wahllos durch die Gamemap (deutsch: Spielkarte) laufen und schlicht das tun und von sich geben, was die Programmierer ihnen codiert haben. Der NPC steht sinnbildlich für einen unmündigen Menschen, der stets darauf angewiesen ist, Orientierung von Dritten zu erhalten, ebenso Befehle und Erklärungen, wie etwas zu bewerten ist. Der NPC macht sich keine eigenen Gedanken, hat keine eigene Meinung, sondern kopiert schlicht die Informationen, die er durch Massenmedien erhalten hat. Eine Synthese aus zwei divergierenden Positionen zu bilden, ist dem NPC unmöglich. Widersprechen sich zwei Positionen, dann kommt es zur kognitiven Dissonanz: Der NPC blickt wie der Hund zum Herrchen (der Autorität) und bittet um Orientierung und Einordnung. Schlussfolgernd ist der NPC wie ein Rechner ohne Firewall, auf welchen sich jede Agenda installieren lässt.

Der NPC hat in der Memewelt mittlerweile ein eigenes Gesicht bekommen. Folgende Memes bringen das Phänomen NPC sehr gut auf den Punkt:

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deutsch: „Ich unterstütze die aktuelle Sache.“

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Die flexible Umprogrammierbarkeit wurde in dieser Szene aus dem Pixar-Film „Wall-E“ sehr anschaulich dargestellt. Stellen Sie sich vor, die Farbe Rot steht für „Corona/Impfung“ und die Farbe Blau für „Wir alle gegen Putin“.

Flexibles Umdenken visuell dargestellt (ab Minute 01:54).

An dieses Phänomen lässt sich natürlich auch „seriöser“ herangehen. Der Psychologe Hans-Joachim Maaz arbeitet mit dem Begriff des „Normopathen“ beziehungsweise der „Normopathie“. Gemeint ist damit die Überanpassung des Individuums an die Normen einer — kranken — Gesellschaft.

Diese Überanpassung resultiert wiederum aus einer frühkindlichen Anpassung an die Wünsche der Eltern, von deren Liebe das Kind überlebensnotwendig angewiesen war. Diese Verhaltensweise wird im weiteren Verlauf des Lebens reproduziert und das eigene Handeln nun nicht mehr an den Wünschen der Eltern, sondern von Politikern und Institutionen ausgerichtet (1). Maaz ordnet das Selbst in unterschiedliche Kategorien. Der NPC entspricht in etwa dem „abhängigen Selbst“.

„Das abhängige Selbst wird immer Vorgesetzte suchen, bei denen es sich beliebt machen oder unter denen es permanent leiden kann, weil man angeblich nicht selbstständig entscheiden darf. Ständig wird es gegen ‚oben‘ jammern, klagen und schimpfen. Der Abhängige braucht Führer in persona und Führung durch Gruppen, Parteien, Institutionen; er wird immer allen Moden und Trends frönen. Der Abhängige wird Verehrer und Fan, er ist der typische Beratungsklient, aber auch stets bereit zu Ernüchterung, Enttäuschung und Nörgelei“ (2).

Wenn nun also die Norm lautet, sich mit blau-goldenen Farben zu zieren und gegen Putin zu sein, dann weiß der NPC/Normopath sofort, was unhinterfragt zu tun ist.

Baizous und Social Justice Warrior (SJW)

Dann gibt es natürlich noch jene, die sich mit jeder politischen Agenda von Black Lives Matter bis LGBTQ* moralisch profilieren, sich selbst zur Moraloberpolizei aufschwingen und jedem nachstellen, der sich — aus ihrer Sicht — politisch unkorrekt verhält und äußert. Die Ausuferungen der Social Justice Warrior kennen wir sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt durch Phänomene wie Cancel Culture, Gendergaga sowie das völlige Aus-den-Angeln-Heben von kulturellen, traditionellen und bewährten Elementen der Gesellschaft durch eine ad absurdum geführte Auslegung des Konstruktivismus. Die Frage, ob „1 + 1 = 2“ rassistisch sei, weil die Mathematik von alten weißen Männern erdacht wurde, ist nur eines von vielen Beispielen (3).

Die SJWs agieren wie Bluthunde. Jemand hält ihnen das Tuch mit dem Geruch der aktuellen Agenda unter den Schnüffler, schon jagen sie los und schicken sich an, alles und jeden zu bekehren. Jene, die nicht für sie, sondern gegen sie sind, werden gnadenlos verfolgt, geshitstormt, gecancelt, mit Torten beworfen und bis zur Haustür verfolgt. Selbst vor Mordversuchen schrecken manche dieser Weltverbesserer nicht zurück.

In der chinesischen Sprache gibt es für dieses Phänomen ein Spottwort, das diese Wesenheit etwas drastisch, aber doch sehr präzise beschreibt, der Baizuo (ausgesprochen: Bei-tsua; deutsch „weißer Linker“):

„(…) Bezeichnung für einen vermeintlich Gebildeten, aber sehr naiven Menschen aus dem Westen, der sich offensiv für Frieden, Gleichheit und gegen Rassismus einsetzt, dies aber nicht der Sache wegen tut, sondern schlicht, um sein eigenes Gefühl der moralischen Überlegenheit zu befriedigen. Ein Baizuo kümmert sich grundsätzlich nur um Themen, bei denen im Westen gesellschaftlicher Applaus leicht verdient werden kann (wie Einwanderung, Migration, LGBT, Umwelt, Klimawandel) und klammert dabei geopolitische, historische und tiefere Zusammenhänge grundsätzlich aus. Dies geschieht meist aus Unwissenheit, oft aber auch aus Angst, den Weg der (vermeintlichen) politischen Korrektheit zu verlassen und damit auch den gesellschaftlichen Beifall für sein Gratis-Engagement zu verlieren.“

So sehen wir seit Jahren, wie landauf, landab und in den „sozialen“ Medien eine Sau nach der anderen durch das Dorf gejagt wird: mal ostdeutsche AfD-Wähler, dann Donald Trump, CO2, Querleugner, Spritzenverweigerer und nun eben Russen. Eine Chronologie, ein Aufeinanderaufbauen der Narrative sucht man hierbei vergebens. Die SJWs und Baizous kommen in einer episodenhaften Aneinanderreihung von Skandalen, Agenden und Feindbilder in repetitive Empörungswallungen, die nie zu einem Ziel führen, sondern sich immer am aktuellen Reizthema abarbeiten. Selbsterklärend fallen tiefere Zusammenhänge und historische Hintergründe unter den Tisch.

Es ist davon auszugehen, dass der heutige durchschnittliche Student, der auf eine Anti-Putin-Demo geht, im Grunde genommen gar nicht mehr auf dem Schirm hat, was sich beispielsweise im Februar 2014 auf dem Maidan abspielte. In ganz extremen Fällen wäre es sogar vorstellbar, dass manche woken Weltverbesserer die Ukraine nicht einmal auf der Weltkarte finden, würde man sie darum bitten, mit dem Finger auf der Weltkarte das Land zu zeigen.

Worum geht es den SJWs eigentlich? Die Journalistin Judith Sevinç Basad formulierte in ihrem Buch „Schäm dich!“ im Schlusswort „Wohlstandsverwahrlosung oder der Narzissmus der Bildungseliten“ eine schlüssige Erklärung:

„Der Social-Justice-Aktivismus ist eine Ersatzbefriedigung für die privilegierten Rich-Kids, die so sehr im eigenen Wohlstand versunken sind, dass sie ihn nicht mehr wertschätzen können. Sie sehnen sich nach Problemen, Intrigen und Bedrohung. Die Bewegung ist so etwas wie das Netflix für die Realität. Motto: Wir brauchen den Thrill auch im echten Leben, und wenn er nicht da ist, erfinden wir ihn. (…)

Der Social-Justice-Aktivismus bedeutet im Grunde nur eines: Ein bisschen Empörung, Thrill und Vergnügen für Tobias und Lena, die sich mit einem Chai Latte und dem neuen iPhone in der Hand auf ihrem Ikea-Sofa räkeln — und eine Bühne brauchen, um ihren eigenen Narzissmus, den eigenen Aufstieg vom bornierten Dorfkind zum intellektuellen Hipster zu feiern. Auf die realen Missstände, die meist die Unterschicht und zunehmend auch die Mittelschicht betreffen, spucken die Aktivisten. Es geht ihnen weder um echte Emanzipation noch um das Wohl anderer — sondern nur um sich selbst“ (4).

Man kann sich gewiss sein, dass ein Großteil derer, die nun Ukraineflaggen schwingen und sich mit dem Hashtag #StandWithUkraine schmücken, sich nicht sonderlich um das Leid der Ukrainer scheren. Ein Bürgerkrieg tobt dort schon seit acht Jahren, was die SWJs bis vor wenigen Tagen nicht sonderlich interessiert hat und sie auch morgen nicht mehr interessieren wird, wenn dann ein anderes Thema die Leitagenda darstellt.

Narzissten

Manche nutzen den blau-goldenen Farbenkult gar nicht mal, um sich moralisch zu profilieren. Nein, für narzisstische Influencer sind derlei Hashtags und Farben lediglich eine dankenswerterweise tief hängende Dschungelliane, nach der sie gierig greifen, um im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie noch mehr Reichweite zu generieren. Manch ein Influencer oder Influencerin packt Hashtags wie #StandWithUkraine völlig ohne Sinn und Kontext unter das aktuelle Insta-Bild, um mehr Aufmerksamkeit zu generieren. Manche versuchen zumindest, den Anschein zu erwecken, ihnen ginge das Schicksal der Ukrainer wirklich nahe. Doch selbsterklärend ist diese Betroffenheit so echt wie die gefilterte Optik von Instagram.

Der chronisch übel gelaunte YouTuber Joey B. Toonz erstellte in diesem vierminütigen Video eine Zusammenstellung der vorgetragenen Anteilnahme narzisstischer Influencer beim Thema Ukrainekrieg:


McCarthy-Ära 2.0: Es ist ein Kult! Ein neuer Kult …

Bei all den Riesendemos gegen Putin und Boykottaufrufen für alles Russische weiß man nicht so recht, wo man da anfangen soll. Vielleicht mit folgender Eingangsfrage: Sind wir schon wieder so weit?

Sind wir in Deutschland wieder so weit? Gerade einmal 80 Jahre ist es her, dass die Deutschen dem russischen Volk 27 Millionen geliebte Menschen aus dem Leben rissen.

Und nun geht man in Deutschland völlig ungeniert dazu über, russische Waren zu boykottieren, Russlanddeutsche zu diskriminieren und ein russlandfeindliches Klima zu schaffen, wie man es sich selbst zu Hochzeiten der Ukrainekrise 2014 nicht hätte vorstellen können.

Der Reihe nach:

Demonstrationen

Mittlerweile kennt man es: Wenn in den vergangenen beiden Jahren für das „Richtige“ demonstriert wurde, besteht im Grunde genommen keine Infektionsgefahr mehr. Bei den Demos gegen Putin — so berichteten mir Beobachter von der Großdemo in Berlin — kaum Masken getragen, ganz zu schweigen davon, dass irgendwelche Abstände eingehalten wurden. Währenddessen werden dieser Tage Menschen immer noch von der Polizei aufgescheucht, wenn sie in der Größenordnung von wenigen Dutzend am Montag durch ein Kuhkaff spazieren gehen.

Man könnte jetzt wieder die Selbstwidersprüche im Detail darlegen, die Inzidenzzahlen von den Tagen der Anti-Putin-Demos mit denen der regierungskritischen Demonstration vergleichen, ebenso die Infektionsentwicklungen in den darauffolgenden 14 Tagen Inkubationszeit. Aber im Grunde genommen würde man zu den gleichen Vergleichsergebnissen kommen, wie sie hier schon sattsam im Bezug auf „Black Lives Matter“ und dem Christopher Street Day erhoben wurden.

Davon abgesehen ist es doch bemerkenswert, wie sehr sich Menschen plötzlich für den Frieden interessieren, hat dieser sie in den zurückliegenden Jahren doch kaum gejuckt. Und es darf davon ausgegangen werden, dass sich unter den Demonstranten reihenweise jene tummeln, die in den vergangenen Jahren nicht müde wurden, die Gesellschaft zu spalten, Andersdenkende auszugrenzen und Regelbrecher zu denunzieren, kurzum den gesellschaftlichen Frieden zu zerstückeln.

Und außerdem: Wo waren dieser Abertausenden Menschen bei den Montagsmahnwachen 2014? Bei Stopp Air Base Ramstein? Beim Friedensfestival Pax Terra Musica? Und wo waren sie vor allem bei den illegalen Angriffskriegen der NATO, im Speziellen der USA?

Die riesigen Demos gegen den Irakkrieg sind mittlerweile fast 20 Jahre her. Wo waren diese Menschen etwa beim illegalen Krieg im Jemen? Kurz: Sie haben nicht demonstriert. Es darf davon ausgegangen werden, dass ein überwiegender Teil der Demonstranten nur für diesen wie auch immer gearteten Frieden ist, wenn dieser massenmedial en vouge ist. Mit einem echten Friedensbekenntnis hat das Ganze freilich herzlich wenig zu tun.

Im Nachfolgenden wollen wir dieses doppelzüngige Muster wie einen roten Faden durch die nächsten Teilbereiche des neuen russophoben Kults ziehen, um damit die Heuchelei dieses Massenhypes zu entlarven.

Leitmedien und Zensur

Dieser Abschnitt kann nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben, ob der unvorstellbaren Masse an plumpster Kriegspropaganda, die selbst das „Stoppt Putin jetzt“-Spiegel-Cover im Sommer 2014 zum Absturz von Flug MH 17 fast schon moderat erscheinen lässt. Dieser Tage waren Schlagzeilen wie „Wir alle gegen Putin“ oder „Die ganze (freie) Welt gegen Putin“ zu lesen. Da fragt man sich wirklich, was da in den Redaktionsstuben los ist? Hat man alle weltweit gefragt, ob sie — legitimerweise — gegen Putin sind? Oder wie kommt dieses ominöse „Wir“ zustande, welches wir bereits von Bill Gates‘ „Wir werden 7 Milliarden Menschen impfen“-Auftritt in der Tagesschau kennen?

Und die ganze Welt? Wirklich die Ganze? Nun, aus China (1,4 Milliarden Einwohner), Indonesien (272 Millionen), Pakistan (212 Millionen) oder Bangladesch (166 Millionen) vernimmt man — aus unterschiedlichen Gründen — keine Proteste gegen Putin. Allein diese Länder machen etwa zwei Milliarden Menschen und damit 25 Prozent der Weltbevölkerung aus. Hier von der „ganzen Welt“ zu sprechen, ist schlicht größenwahnsinnig und zeigt, dass in den westlichen Redaktionsstuben noch nicht durchgedrungen ist, dass die Welt mittlerweile multipolar ist. Man verharrt weiter in seiner eurozentrischen oder atlantischen Nabelschau und wähnt sich als den Mittelpunkt der Welt.

Und hier haben wir gleich erneut das doppelzüngige Muster: Wann wurden eigentlich CNN, Fox News, die New York Times und andere amerikanische Medien abgeschaltet, als die USA illegal in andere Länder einfielen? Die Frage ist natürlich rein rhetorisch.

Damit gar nicht erst ein anderer Eindruck abseits des westlichen Narratives entstehen kann, hat man hierzulande schon mal vorsorglich alle größeren Medienportale Russlands — RT DE oder Sputnik — offline gestellt. Über herkömmliche Browser sind diese Portale nicht aufrufbar, selbst Telegram und GETTR haben die Kanäle gesperrt. So viel zu dem westlichen Vorwurf, in Russland würden oppositionelle Stimmen unterdrückt und die Presse stummgeschaltet. Und ja, das mag durchaus sein. Doch das meinungsunterdrückende Gebaren des Westens zeigt, dass man selbst keinen Deut besser ist.

Vor diesem Hintergrund wird auch offenbar, was Annalena Baerbock damit meinte, als sie in Moskau von der „Fressefreiheit“ sprach: die Freiheit alternativer Stimmen, ihre „Fresse“ zu halten.

Das Abschalten der Kommunikation ist einer der ersten und wichtigsten Schritte der Kriegsvorbereitung. Die völlige mediale Abschottung von der russischen Perspektive, dem fehlenden Part, sollte bei uns die Alarmglocken schrillen lassen.

„Kauft nicht beim Russen!“

Ja, da ist er wieder, der historische Vergleich. Aber wann wäre er denn angebracht, wenn nicht jetzt? Die Regale leeren sich, die russischen Produkte verschwinden oder werden ihres Namens beraubt. Der Wodka und andere russische Waren fliegen aus den ALDI-, Edeka- und Netto-Filialen. Hier ist eine Übersicht, welche Firmen und Großkonzerne sich aus Russland zurückgezogen haben. Und dabei handelt es sich nur um eine Auswahl.

Man braucht nicht annehmen, dass dieser Boykott in erster Linie Putin oder den Kreml trifft — er trifft die einfachen Menschen in Russland, ganz gleich, wie diese zum Angriff Putins stehen. Mit der Intension halten sich manche Unternehmen gar nicht erst hinter dem Berg und geben ganz offen kund, dass sie sich der Konsequenzen für die russischen Bürger bewusst sind. Sie würden es aber dennoch tun, um den Leidensdruck der Russen zu erhöhen, damit diese Putin letztlich abwählen, wenn nicht gar stürzen. Analog zu den antisemitischen Schmierereien an jüdischen Läden im Dritten Reich werden nun auch schon Hausfassaden in Deutschland beschmiert, so in München.

Wie ließe sich das alles anders auf wenige Worte herunterbrechen als: „Kauft nicht beim Russen!“?

Was vielen — insbesondere kleineren Unternehmen — nicht bewusst sein dürfte, ist, dass diese Maßnahme zwangsläufig nach hinten losgehen muss. Wer in einer derart vernetzten Welt mit mannigfaltigen politischen und ökonomischen Interdependenzen ernsthaft glaubt, man könnte einfach mal so eine Volkswirtschaft mit 146 Millionen Einwohner abzwicken, ohne dass das auf einen selbst zurückfällt, der muss vollends naiv sein. Aber zu der — teils bewusst, teils unbewusst — in Kauf genommenen Selbstschädigung kommen wir am Ende dieses Artikels noch zu sprechen.

Hier erneut die Frage bezüglich der Doppelstandards: Wann wurden etwa amerikanische Produkte boykottiert, als die USA illegal in Länder einfiel? Wann zogen sich angesichts dieser Angriffskriege Unternehmen aus den Staaten zurück? Auf diese Frage kann zwangsläufig nur betretenes Schweigen folgen, denn die Antwort lautet klar und deutlich, dass es derlei Reaktionen auf die Vernichtungsfeldzüge des US-Imperiums schlicht nie gab!

„You‘re from Russia? You‘re fired!“

Haben wir nicht in den Antirassismuskampagnen und Diskursen der vergangenen Jahre gelernt, niemand sei durch seine Herkunft zu definieren und zu bewerten? Für die Herkunft könne man nichts. (Was durchaus stimmt.) Und man dürfe auch niemanden fragen, wo er oder sie herkomme. Das wäre ein mikroaggressiver Akt von Rassismus.

Das Gaga der Critical-Whiteness-Theorien hielt immer mehr Einzug in den Debattenraum. Die von amerikanischen Universitäten ausgehenden Theorien, wonach Weiße allesamt und ohne Ausnahme von Natur aus rassistisch seien und zeit ihres Daseins sich für ihr „Weißsein“ schämen und ihre Privilegien checken müssten. Und so machte man uns im doppelten Sinne weiß, dass es keinen Rassismus gegen Weiße geben könne. Rassismus könne es nur gegen „People of color“ geben (5). Und welcher Dynamik diese Irr-Lehre den Weg geebnet hat, sehen wir nun in einem — in dieser Intensität — über Nacht aufkeimenden Rassismus gegen Russen.

Doch all diese Lehren scheinen angesichts von Putin wie weggeblasen. Wir lesen und staunen. Im Saarland entlässt ein Unternehmen einen Familienvater mit der Begründung: Er ist Russe.

Doch es trifft nicht nur einfach Angestellte. Die Bayerische Staatsoper trennte sich von der russischen Sängerin Anna Netrebko, weil diese sich als Russin nicht ausreichend von Putin distanzieren wollte. Im Klartext: Wäre sie etwa Mexikanerin gewesen, hätte kein Kündigungsgrund bestanden, aber da sie Russin ist, muss sie sich von Putin distanzieren? Und in Berlin denkt man bereits darüber nach, wohlhabende Russen in Deutschland zu enteignen. Wie war das doch gleich damit, dass man nichts für die Herkunft kann?

Aber nein, das ist natürlich kein Rassismus, denn Russen sind ja weiß, und gegen Weiße kann es doch keinen Rassismus geben. Doch sind nicht alle Russen „weiß“, aber dieses Wissen kann man von SJWs nicht erwarten, die durch Twitter-Tweets statt durch Bücher sozialisiert und politisiert wurden.

Und hier stellen sich schon wieder Fragen: Wann wurden Amerikaner, die in Deutschland leben, aufgrund illegaler Angriffskriege Washingtons entlassen? Wann wurden amerikanische Musiker und Künstler entlassen? Wann dachte man darüber nach, wohlhabende Amerikaner hierzulande zu enteignen? Nicht, dass dies wünschenswert wäre, doch müssen diese Fragen hier gestellt werden, um die Doppelzüngigkeit dieses blinden, russophoben Aktionismus offenzulegen, der hier unter der Flagge der höchsten Moral das Land von allem Russischen zu tilgen trachtet.

Im Kamikazemodus

Den neuen russophoben Kult könnte man noch ellenlang ausweiten und Beispiele ausführlich behandeln. Etwa, dass eine Klinikdirektorin russische Patienten abweisen will. Oder dass das Ukrainische Buch-Institut dazu aufruft, weltweit russische Literatur zu boykottieren, was in Italien bereits Früchte trägt, als die Universität Milano Bicocca
eine Vorlesung über Fjodor Dostojewski — zu seiner Zeit verfolgter Kritiker im Zaren-Russland — abgesagte.

Es gilt festzuhalten: Russische Mitbürger müssen sich nun warm anziehen, denn das russlandfeindliche Klima hierzulande wurde schlagartig kälter als jeder Eiswind Sibiriens.

Was all die blau-goldenen Fahnen-Schwänger wohl nicht auf dem Schirm haben, ist die nicht existente Exitstrategie. Wie soll der Westen aus diesem Schlamassel wieder herauskommen? Jede Blockchain ist berechenbarer als die Kettenreaktionen, die durch das derzeitige Sanktionsregime in Gang gesetzt werden. Selbst wenn das erklärte Ziel, Putin abzusetzen, in wenigen Wochen erreicht wäre, könnten bis dahin unzählige irreversible Ereignisse eintreten, die die gesamte Welt ins Chaos stürzen. Ganz abgesehen davon könnten gänzlich andere Kräfte im Kreml Platz nehmen, die mit NATO-Aggressionen wesentlich „uncooler“ umgehen, als Putin das in den zurückliegenden acht Jahren — bis jetzt — tat. Diese Kräfte scharen bereits mit den Hufen und können es gar nicht abwarte, es „dem Westen heimzuzahlen“.

Europa tanzt am Abgrund. Am deutlichsten wird sich dies bei der Energieversorgung zeigen. Wenn nun in Europa laut darüber nachgedacht wird, sich von russischen Erdgaslieferungen unabhängig zu machen und stattdessen unter ökologisch katastrophalen Bedingungen gewonnenes „Freedom-Gas“ aus den Staaten zu importieren, zeichnen sich Versorgungsengpässe oder zumindest enorme Preissteigerungen bereits jetzt ab.

Hier geben sich die verschiedenen Krisenagenden gegenseitig die Klinke in die Hand. Wenn es nächstes Jahr zur neuen „neuen Normalität“ gehört, dass regulär die Heizungen ausfallen oder ihre Funktion rationiert werden und die gemieteten vier Wände kalt bleiben, haben wir gesundheitlich — kombiniert mit den eklatanten Spritzschäden — die „perfekte“ Vorlage für die nächste Welle, wenn dann Corona mit der Iwan-Variante zurückkehrt. Zugleich wird manch einer in den Leitmedien — diese Prognose sei an dieser Stelle mal formuliert — argumentieren, dass man doch zukünftig auch für das Abkühlen des Weltklimas frieren könne.

Ob die Mode-Friedensaktivisten wohl freiwillig auf eine warme Wohnung verzichten, wenn sie wählen könnten, ob sie diese mit russischem Gas heizen oder freiwillig frieren, um Putin eins auszuwischen? Nun manche hart gesottene SJWs sind anscheinend wirklich so spartanisch, dass sie lieber frieren, als Gas aus Russland zu beziehen.

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Bildquelle: © RadioEins RBB

Baerbock sprach stellvertretend für alle 83 Millionen Bundesbürger davon, dass Deutschland bereit wäre, einen hohen Preis zu zahlen. Für viele Menschen hierzulande trifft das wahrlich zu. Der Wille und die Bereitschaft zur Selbstzerstörung und Geißelung scheint bei der unkritischen Masse — nach Corona mehr denn je — sehr weit ausgebildet zu sein (6). Die in der Unterzahl befindlichen Stimmen der Opposition, Mahner und Kritiker, die Zweifel anmelden, müssen wie auch schon beim Coronakult leidend mitansehen, wie die Freiheit, die Selbstbestimmung und die Menschenwürde den Bach runtergehen. Abermals kann man Zeuge werden, wie der unbändige Wille vieler Deutscher, die „Allergutesten“ zu sein, in einem neuen Trümmerhaufen mündet.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wie ich diesen Text beenden soll. Daher überlasse ich das prophetische Schlusswort der Außenministerin Annalena Baerbock:

Annalena Baerbock: „Lasst uns dieses Europa gemeinsam verenden!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Maaz, Hans-Joachim: „Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“, München, 2020, Seite 128 und folgende.
(2) Siehe ebenda, Seite 134.
(3) Unger, Raymond: „Vom Verlust der Freiheit: Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise“, München, 2021, Seite 231 und folgende.
(4) Siehe Basad, Judith Sevinç: „Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist“, Frankfurt am Main, 2021, Seite 197 und folgende.
(5) Unger, Raymond: „Vom Verlust der Freiheit: Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise“, München, 2021, Seite 240 und folgende, 247 und folgende.
(6) Ebenda, Seite 43 und folgende, 49 und folgende.