Der russische Freund

Für einmal kleidet Ulrich Heyden das deutsch-russische Verhältnis in eine Geschichte, und in Geschichten gibt es zum Glück noch ein Happy End.

Wir leben in unsicheren, beängstigenden Zeiten. Mancher fühlt sich von Angst überwältigt und bleibt deshalb stumm und reglos, wie ein Käfer, der sich tot stellt in der Hoffnung, so könne er sich retten. Gegen Angst hilft Hoffnung, Mut und Lebenslust. Eine Kurzgeschichte des bekannten Russland-Korrespondenten.

Es war vor 60 Jahren. Ein schöner Sommertag. Klaus und Dmitri saßen in einer Sandkiste in Berlin-Mitte. Sie waren beide sechs Jahre alt und ganz in ihr Spiel vertieft. Plötzlich begann es zu regnen. Die Sandburg, welche die beiden gebaut hatten, wurde von Regentropfen getroffen. Einige der Türmchen aus Sand stürzten ein.

Dmitri schaute sich suchend um. Er rannte in eine Ecke des Spielplatzes. Dort lag auf einer Bank eine leere Plastiktüte. Er nahm die Tüte und eilte zurück zur Sandburg. „Wir halten die Tüte über die Burg“, sagte Dmitri und hielt Klaus einen Teil der Plastiktüte hin.

Es war anstrengend, die Tüte über der Burg zu halten. Die Luft hatte sich abgekühlt. Die Arme der beiden Jungs zitterten. Doch die Ausdauer der beiden wurde belohnt. Der Regen hörte auf, und die Sandburg war — bis auf ein paar eingefallene Türmchen — noch intakt.

Es vergingen 60 Jahre. Durch einen Zufall tauchte die Sandburg bei Dmitri in der Erinnerung auf. Beim Aufräumen fiel ihm eine Plastiktüte in die Hand. Irgendwas an dieser Tüte erinnerte ihn an die Sandburg, die er vor Jahrzehnten zusammen mit einem Freund mit einer Plastiktüte gerettet hatte. Vor Dmitris Augen war alles ganz deutlich zu sehen: der Spielplatz, die Bäume um den Platz, die friedliche Atmosphäre und die Burg.

Eine innere Stimme sagte Dmitri: Ruf Klaus mal an. Er freut sich. Die Telefonnummer hast du doch noch. Dmitri fiel ein russisches Sprichwort ein, „Ein alter Freund ist besser als zwei neue“.

Aber ganz sicher war sich Dmitri, der inzwischen in Moskau wohnte, nicht. Man sagte, in Deutschland liefen jetzt merkwürdige Dinge. Man wollte nichts mehr von Russland wissen und habe sogar Angst vor Russen. Selbst von russischen Opernsängern, die einmal sehr beliebt waren, wollte man nichts mehr wissen. Doch die Zweifel schob Dmitri beiseite. Es ging ja nicht um Politik, sondern um die gemeinsam verbrachte Kindheit.

Und so klingelte in einer Wohnung in Berlin-Mitte das Telefon. Es klingelt so merkwürdig, dachte sich Klaus. So klingelten die Telefone früher, wenn jemand aus dem Ausland anrief. Er nahm den Hörer und verstand erst nicht, wer da war. Im Telefonhörer hörte er die Stimme von einem Dmitri. Der sagte etwas von gemeinsamer Kindheit und einer Sandburg.

Die Stimme klang freundlich. Der Anrufer sprach mit Akzent. Klaus vermutete, dass es ein Russe war, der ihn da anrief. Was hatte das zu bedeuten? Warum gerade jetzt dieser Anruf, fragte sich Klaus. Liest man nicht viel über russische Bots, Trolle und Spione? Versuchte ihn da etwa jemand auszuspähen, zu kontaktieren und für etwas Verbotenes anzuwerben?

Dmitri erzählte, dass er eine Plastiktüte gefunden habe, die ihn an eine Sandburg erinnerte, die er in der Kindheit mit Klaus gebaut hatte.

Langsam begann Klaus sich an die Sandburg zu erinnern. Aber er fühlte sich unsicher. Irgendwie hatte dieser Anruf etwas Unheimliches. Er begann abzuwägen, was ein Telefongespräch mit einem Russen für Folgen habe könnte. Was würde er seiner Frau Ingrid und seinen Kindern erzählen? Dass er mit einem Russen telefoniert hatte, den er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe? Oder sollte er den Anruf einfach für sich behalten und niemandem etwas erzählen? Möglicherweise wird mein Telefon abgehört, sagte sich Klaus, und man meldet auf meiner Arbeitsstelle, dass ich Anrufe aus Russland bekomme.

Dmitri spürte, wie Klaus angestrengt nachdachte. Er ahnte, was in seinem alten Freund vorging. Und er hatte sogar Verständnis für die Zurückhaltung seines alten Freundes. Immerhin waren die Zeiten angespannt. Es gab nicht kurze Regenschauer, wie damals, in der Kinderzeit. Nein, es regnete unaufhörlich. Und doch ließ er sich nicht von seinem Plan abbringen. Er wollte sich mit Klaus an die Kindheit erinnern. War das nicht eine wundervolle Zeit gewesen? Und ist es nicht schön, das Wundervolle, Unbeschwerte wiederauferstehen zu lassen, wenn auch nur in der Erinnerung?

Das Gespräch zwischen Klaus und Dmitri kam nicht in Gang, und es drohte ein ergebnisloser Abbruch. Da ging plötzlich im Zimmer, in dem Klaus telefonierte, die Tür auf. Auf der Schwelle stand seine sechs Jahre alte Enkelin mit einer Plastiktüte in der Hand. Sie fragte: „Opa, darf ich die auf den Spielplatz mitnehmen? Es regnet. Wir wollen die Sandburg retten.“

Klaus wunderte sich. In ihm stieg plötzlich eine merkwürdige Hitze auf. Seine Augen wurden feucht. Ihm war, als säße er im Gefängnis, jemand hätte die Tür geöffnet und er — Klaus — überlegte, ob er das Gefängnis verlassen solle oder nicht.

Großvater Klaus nickte seiner Enkelin zu. Und sie lief fröhlich lachend mit der Plastiktüte davon.

„Moment mal“, sagte der Großvater. Er legte den Telefonhörer zur Seite, um sich in ein Taschentuch zu schnäuzen.

Dmitri hatte den Dialog zwischen Klaus und seiner Enkelin mitbekommen und schwieg.

Klaus sammelte alle seine Kräfte, nahm erneut den Telefonhörer und sprach mit brüchiger Stimme: „Sag mir bitte mal deine Telefonnummer. Ich rufe dich später zurück.“

Es vergingen ein paar Tage, als bei Dmitri in Moskau das Telefon klingelte. Klaus hatte sich ein Herz gefasst und seinen Freund aus Kindertagen angerufen. Diesmal kam das Gespräch in Gang. Er erzählte Dmitri von seiner Familie und dass er sich gut an die Sandburg erinnere.

Und das war noch nicht alles. Schon lange habe er darüber nachgedacht, einmal mit seiner Frau nach Moskau oder St. Petersburg zu fahren.

Die beiden Männer redeten noch länger miteinander. Nach dem Telefongespräch begannen sie sich per E-Mail Briefe zu schreiben. Durch den Briefwechsel taute Klaus auf. Er verlor seine Ängste. Die wiederbelebte Freundschaft begann, ihm Spaß zu machen, und er beschloss, mit seiner Frau Ingrid nach Moskau zu reisen und auch seine Enkelin mitzunehmen: Sie war der Schlüssel gewesen, zu einer neuen Verständigung mit dem russischen Freund.