Der rätselhafte Absturz
Der wahrscheinliche Tod des Wagner-Führers Prigoschin wirft Fragen auf und regt zu Spekulationen an.
Am Mittwoch, dem 23. August 2023, stürzte in der Region Twer in Russland eine Privatmaschine ab, die dem Anführer der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin gehörte. Medienberichten zufolge soll er selbst sich an Bord befunden haben und bei dem Absturz gestorben sein. Momentan ist wenig bekannt, verlässliche Informationsquellen gibt es nicht. Daher kann über die Hintergründe nur spekuliert werden.
Am späten Nachmittag des vergangenen Mittwochs erschienen erste Meldungen vom Absturz eines Flugzeugs des Typs Embraer Legacy in der russischen Region Twer. Ziemlich schnell wurde klar, dass alle zehn Insassen, sieben Passagiere und drei Crewmitglieder, bei dem Absturz ums Leben gekommen waren.
Kurze Zeit später hieß es, dass es sich bei dem Flugzeug um die Privatmaschine des Führers der privaten Militärfirma Wagner, Jewgeni Prigoschin, handelte, und kurz darauf sprachen erste Meldungen davon, dass Prigoschin selbst an Bord gewesen und bei dem Absturz gestorben sei. Laut der russischen Luftfahrtbehörde Rosawiazija soll auch Dmitri Utkin, der eigentliche Gründer der Wagner-Gruppe, nach dessen Kampfname „Wagner“ das Unternehmen benannt ist, mit an Bord gewesen sein. Die Maschine war offenbar auf dem Weg von Moskau nach Sankt Petersburg, wo Wagner seine Geschäftszentrale hat.
Dabei ist der Hergang des Absturzes bislang alles andere als klar. Denn russische Medien haielten sich anfangs mit der Berichterstattung sehr zurück, und so sind die einzigen Quellen Augenzeugenberichte und Videos. Diese zusammengenommen ergeben allerdings nicht das Bild eines gewöhnlichen Absturzes. Das Flugzeug stürzte senkrecht zu Boden und brannte vollkommen aus. Augenzeugen berichten von mehreren Explosionen, sodass zunächst die Rede von einem Abschuss durch die russische Luftverteidigung war. Der russische TV-Sender Zargrad berichtete später, dass das Flugzeug in der Luft gesprengt worden sein soll.
Die örtlichen Behörden nahmen umgehend Ermittlungen auf. Sie untersuchten das Wrack und bargen die Leichen, untersuchten die Witterungsverhältnisse in der Region und die möglichen Ursachen des Absturzes, und sie wollen auch genetische Untersuchungen anstellen. Zudem gab es widersprüchliche Angaben über den Tod von Prigoschin. Während schon am Donnerstag erste Medien berichteten, dass sein Leichnam und der von Utkin identifiziert worden seien, hieß es noch am Freitag von westlichen Medien, dass der Leichnam Prigoschins eben noch nicht identifiziert worden sei. Dass er unter den Opfern ist, wird also lediglich aus dem Umstand gefolgert, dass sein Name auf der Passagierliste stand und Putin seinen Tod angeblich „indirekt“ bestätigt habe, indem er von Prigoschin in der Vergangenheit sprach.
Die verbliebene Führungsriege Wagners kündigte ein Krisentreffen an und setzte einen Notfallmechanismus in Gang, der schon seit langer Zeit für einen solchen Fall vorgesehen ist und das weitere Funktionieren der Gruppe gewährleisten soll. Vor dem Wagner-Hauptquartier in Sankt Petersburg kamen am Donnerstagabend viele Menschen zusammen. Sie legten Blumen und Kerzen nieder und drückten so ihre Anteilnahme aus. Wagner ist in Russland sehr populär, weil die Gruppe eine wichtige Rolle beim Krieg in der Ukraine spielt.
Der russische Präsident Putin hat bei einem Treffen mit dem stellvertretenden Leiter der Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, den Absturz der Maschine als eine Tragödie bezeichnet. Dabei sprach er den Familien seine Anteilnahme aus und erklärte, dass die Ermittlungen darauf hindeuteten, dass Mitarbeiter von Wagner an Bord der Maschine gewesen seien. Bezüglich Prigoschin sagte er, dass es sich um einen Mann mit einem schweren Schicksal gehandelt habe, der in seinem Leben auch Fehler gemacht habe. Zudem bezeichnete er ihn als „besten Geschäftsmann“, der auch ausgezeichnete Ergebnisse für „unsere Sache“ erzielt habe. Damit bezog er sich auf den Krieg in der Ukraine, insbesondere auf die Bedeutung der Wagner-Gruppe bei der Eroberung von Bachmut.
Mögliche Hintergründe
In westlichen Medien schießen die Spekulationen umgehend ins Kraut. Sie vermuten Putin hinter dem Absturz der Maschine. Denn seit den Ereignissen von vor zwei Monaten, die man hierzulande gerne den Wagner-Putsch oder -Aufstand, die Wagner-Rebellion oder auch -Meuterei nennt, befinden sich westliche Medien in dem Irrglauben, dass es sich bei Prigoschin um einen Gegenspieler von Putin handele. Dabei wird immer wieder fälschlicherweise wiederholt, dass sich der Aufstand gegen Putin gerichtet habe, obwohl Prigoschin selbst mehrmals betont hatte, dass er fest an der Seite des Präsidenten stehe und sich seine Protestaktion, wie er es nannte, lediglich gegen das Führungskommando der Streitkräfte und den Verteidigungsminister Sergej Schoigu richtete.
Zudem hätte Wladimir Putin sich Prigoschins auch schon unmittelbar nach dem sogenannten Aufstand entledigen können. Immerhin war Prigoschin wegen Hochverrats angeklagt worden. Putin selbst war es, der nach der vom weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ausgehandelten Einigung dafür gesorgt hatte, dass die Anklage zurückgezogen wurde.
Und er war es auch, der Prigoschin ein Exil in Weißrussland mit einem neuen Einsatzgebiet für einige der Wagner-Kämpfer eröffnet hatte.
Der US-amerikanische Präsident Joe Biden sagte, er sei von dem Absturz „nicht überrascht“. Es gebe in Russland nichts, hinter dem nicht Putin stecke. Damit legt auch er nahe, dass die russische Regierung die Schuld an dem Absturz trage, und das, obwohl er selbst zugibt, nicht über genügend Informationen zu verfügen. US-amerikanische Geheimdienste vermuten ebenfalls, dass das Flugzeug aufgrund einer Explosion abgestürzt ist, wobei unklar ist, woher sie ihre Informationen bekommen wollen. Auch deutsche Medien stellen den Absturz als die Rache Putins dar. In dieselbe Kerbe schlägt das Pentagon, welches schon nach kurzer Zeit verlautbaren ließ, dass Prigoschin aller Wahrscheinlichkeit nach tot sei.
Der Ex-Aufklärungsoffizier der US-Marineinfanterie und frühere UN-Waffeninspekteur Scott Ritter erklärte dazu, dass Prigoschin gegen seine „Bewährungsauflagen“ verstoßen habe. Prigoschin habe sich in Sankt Petersburg aufgehalten, wo er nicht hätte sein sollen. So besteht die Möglichkeit, dass nun doch noch eine Strafe folgte, indem sich die russische Führung dieses unberechenbaren Faktors entledigt. Allerdings ist ein echter Nutzen nicht zu erkennen. Durch einen gezielten Abschuss besteht höchstens die Gefahr, dass Putin sich in der Bevölkerung unbeliebt macht, bei der Wagner ein hohes Ansehen genießt, und dass er die Wagner-Kämpfer gegen sich aufbringt. In deutschen Medien und von dem Berater des ukrainischen Präsidenten, Michail Podolja, wird spekuliert, dass der Abschuss ein Signal an die russische Elite vor der Wahl im kommenden Jahr sein könnte, dass Ungehorsam bestraft werde. Doch hat die russische Elite sich während des sogenannten Wagner-Aufstands beinahe geschlossen hinter Putin gestellt und auch schon anlässlich des Krieges in der Ukraine die Reihen geschlossen. Nur einzelne, eher unbedeutende Stimmen haben den Wagner-Aufstand offen unterstützt.
Damit spricht einiges gegen eine Sprengung der Maschine auf Geheiß der russischen Regierung. Handfeste Motive könnten dagegen der ukrainische Geheimdienst SBU und die ukrainische Regierung haben. Diesen ist Wagner aufgrund der Bedeutung im Krieg und der enormen Erfolge der Militärfirma ein Dorn im Auge.
Gezielte Anschläge des ukrainischen Geheimdienstes auf bedeutende russische Persönlichkeiten hat es auch schon zuvor gegeben. Beispielhaft sei hier die Sprengung des Fahrzeuges von Darja Dugina, der Tochter des Philosophen Alexander Dugin im vergangenen Jahr genannt. Auch westliche Geheimdienste könnten hinter dem Anschlag stecken, die ein Interesse am Zerfall der Wagner-Gruppe haben. Diese ist nicht nur in der Ukraine, sondern seit Jahren auch verstärkt in Afrika aktiv, wo sie die kolonialen Interessen des Westens stört und antiwestliche Regierungen, wie seit Kurzem die Militärjunta in Niger, unterstützt. Eine Enthauptung der Wagner-Gruppe durch die gezielte Tötung ihrer Führungsspitze könnte also der Versuch sein, die Gruppe zu zerschlagen.
Es gäbe jedoch noch eine ganz andere Möglichkeit. Der Tod Prigoschins wurde bislang nur auf der Grundlage der Passagierliste, widersprüchlicher Angaben von Behörden sowie „indirekter“ Schlussfolgerungen aus Putins Worten suggeriert. Passagierlisten kann man fälschen oder erfinden, ebenso wie Autopsieergebnisse und genetische Befunde. Einen wirklichen Beweis dafür, dass sich Prigoschin und Utkin überhaupt an Bord der Maschine befunden haben und dass sie ums Leben gekommen sind, gibt es daher nicht. Es könnte sich also auch um eine Inszenierung handeln, mit dem Zweck, dass Prigoschin und Utkin von der Bildfläche verschwinden. Dafür spricht auch, dass auch Prigoschins Stellvertreter, Walerij Tschekalow, an Bord des Flugzeuges gewesen sein soll sowie mehrere seiner Leibwächter.
Denn schon vor dem sogenannten Aufstand verfolgte das Verteidigungsministerium das Ziel, die private Wagner-Gruppe in das Verteidigungsministerium einzugliedern, ein Ziel, dem Putin selbst zugestimmt hat. Dafür sollten die Wagner-Kämpfer Verträge mit dem Verteidigungsministerium schließen. Dagegen richtete sich die Protestaktion Prigoschins vor zwei Monaten, der den Verlust seines Geschäftsmodells fürchtete. Mit der Einigung zwischen Prigoschin und Putin wurde diese Eingliederung aber weitgehend beschlossen, und Prigoschin wurde nach Weißrussland verbannt. Das Problem ist, dass die Wagner-Gruppe eigene Strukturen hat, die sich kaum in die regulären Streitkräfte integrieren lassen.
Damit könnte die die Nachricht vom Tod Prigoschins Teil des Versuches sein, die Wagner-Kämpfer unter das Kommando des Verteidigungsministeriums zu stellen. Möglicherweise stand Prigoschin als anerkannter Anführer der Gruppe und als öffentliche Figur diesem Vorhaben im Weg und musste also verschwinden. Dieses Verschwinden könnte nun durch eine Inszenierung seines Todes erreicht worden sein.
Dabei ist von Bedeutung, dass neben Prigoschin auch Utkin sowie weitere führende Mitarbeiter Wagners angeblich an Bord der Maschine gewesen sein sollen. Für die These einer Inszenierung spricht auch, dass sich Prigoschin noch am 22. August offenbar in Afrika aufgehalten hat. Von dort veröffentlichte er eine Videobotschaft mit der Erklärung, dass sein Unternehmen dort die „ihm gestellten“ Aufgaben erfüllen werde, ohne jedoch zu erläutern, worin diese Aufgaben bestehen. Er sagte lediglich, dass Wagner dazu beitragen wolle, dass Afrika „noch freier“ werde. Wagner ist in mehreren Ländern Afrikas aktiv, unter anderem Mali und seit Kurzem auch Niger. Dort trägt die Gruppe dazu bei, islamistische Terrormilizen wie al-Qaida oder den IS zu bekämpfen.
Nach seinem Auftritt am 22. August hätte Prigoschin somit nur einen Tag gehabt, um nach Russland zurückzukehren. Das ist nicht unmöglich; so könnte er auf dem Rückweg nach Sankt Petersburg über Moskau geflogen sein, was auch Putin in seiner Erklärung äußerte. Allerdings spräche das noch mehr gegen einen Anschlag des russischen Geheimdienstes im Auftrag der Regierung Russlands, da Wagner in Afrika im Auftrag dieser Regierung handelt, die ohnehin Wagner finanziert.
Der russische Außenminister Sergei Lawrow verfolgt die westliche Berichterstattung eher irritiert, und erklärte, dass man sich nicht an Spekulationen beteiligen, sondern lediglich die Fakten betrachten solle. Letztlich ist zum derzeitigen Zeitpunkt ohnehin keine wirklich gesicherte Aussage möglich. Alles, was gesagt werden kann, ist, dass in Russland ein Flugzeug abgestürzt ist, das wahrscheinlich in der Luft gesprengt wurde. Dass auf der Passagierliste Prigoschin, sein Stellvertreter sowie Utkin standen, deutet darauf hin, dass sich irgendwer, entweder die Ukraine, der Westen oder die russische Regierung, der Führungsspitze von Wagner entledigen wollte, sei es tatsächlich oder durch einen fingierten Tod.
Auffällig ist nur, dass der Westen das Ereignis ausschlachtet, um die russische Regierung wieder in eine Reihe mit der Mafia und dem Teufel zu stellen, also die volle Propagandamaschine zu bedienen.
Ob Prigoschin überhaupt ums Leben gekommen ist, wird dabei nicht mehr groß in Zweifel gezogen, und die Annahme, dass er an Bord des Flugzeuges war, nährt antirussische Erzählungen. Denn der Verdacht kann maximal ausgeschlachtet werden, und auch bei jenen, die der westlichen Berichterstattung zum Thema Russland und Ukraine kritisch gegenüberstehen, die Erzählung vom diabolischen Putin zu nähren. Auch in Russland wird viel spekuliert, allerdings deckt die mediale Berichterstattung die ganze Bandbreite ab, bis hin zu der Idee einer Inszenierung. Wenn es sich tatsächlich um einen fingierten Tod Prigoschins handelt, kommen Berichte über sein Dahinscheiden dem Sinn und Zweck des Ganzen natürlich sehr entgegen.
In Zeiten von Krieg, totaler Propaganda und Vernebelung auf allen Seiten kann man sich auf Berichte und Aussagen von Medien und Behörden ohnehin nicht verlassen. Alle Ermittlungsergebnisse, die später noch präsentiert werden, könnten ebenso gut Fälschungen und bloße Behauptungen sein. Möglicherweise wird die Wahrheit niemals ans Licht kommen.