Der Rachefeldzug
John Pilger berichtet dem australischen Arena Magazine von den menschenunwürdigen Haft- und Prozessbedingungen im Verfahren gegen Julian Assange.
„Ich glaube, ich verliere den Verstand“, sagte Julian Assange seinem Freund, dem australischen Journalisten und Dokumentarfilmer John Pilger, als dieser ihn in seiner Gefängniszelle besuchte. Und verwunderlich wäre das nicht. Die Bedingungen, unter denen das Auslieferungsverfahren gegen den WikiLeaks-Gründer in Großbritannien stattfindet, sprechen allen Vorstellungen von fairer Justiz Hohn. Verfahrensregeln werden außer Kraft gesetzt, die Würde des Gefangenen wird auf schockierende Weise verletzt und wie in einem in Diktaturen üblichen Schauprozess scheint das Urteil schon von Anfang an festzustehen. Was hier abläuft, so Pilger, ist kein ordentliches Gerichtsverfahren mehr, es ist ein Vernichtungsfeldzug gegen einen missliebigen politischen Gegner. Selbst gegenüber einem Schuldigen wären diese Haft- und Prozessbedingungen eine Schande — erst recht sind sie es gegenüber einem Mann, der der Weltöffentlichkeit mit der Aufdeckung schwerer Kriegsverbrechen einen großen Dienst erwiesen hat.
Timothy Erik Ström: Als direkter Beobachter von Assanges Prozess, wie würden Sie die Atmosphäre im Gerichtssaal beschreiben?
John Pilger: Die vorherrschende Atmosphäre war schockierend. Ich sage das, ohne zu zögern: Ich habe in vielen Gerichtsverhandlungen gesessen und selten eine solche Korrumpierung der Verfahrensregeln erlebt; das hier hatte mehr mit Rache zu tun. Das mit „britischer Justiz“ verbundene Ritual fehlte ganz, das Prozedere erinnerte stellenweise an einen stalinistischen Schauprozess.
Ein Unterschied ist aber, dass in diesen Schauprozessen der Angeklagte mitten im Gerichtssaal stand. In dem Prozess gegen Assange war der Angeklagte hinter dickem Glas eingesperrt, und wenn er mit seinen Anwälten kommunizieren wollte, musste er, unter den Augen seines Wächters, auf Knien zu einem offenen Schlitz im Glas kriechen. Die Nachricht, die dann ganz leise durch die Atemschutzmasken geflüstert wurde, wurde tatsächlich aufgeschrieben und über die Länge des Saales zu den vorn sitzenden Anwälten durchgereicht, die gegen seine Auslieferung in eine amerikanische Gefängniszelle kämpfen.
Stellen Sie sich den folgenden Tagesablauf von Julian Assange vor, eines Australiers, der für wahrheitsgetreuen Journalismus vor Gericht steht. Er wird um fünf Uhr in seiner Zelle geweckt, einer Zelle des Belmarsh-Gefängnisses in den öden südlichen Vorstädten von London. Als ich Julian das erste Mal sah, nachdem ich eine halbe Stunde lang durch Sicherheitschecks hatte gehen müssen, inklusive einer Hundeschnauze, die meine Rückseite untersuchte, fand ich eine sehr dünne Figur vor, alleine sitzend mit einem gelben Armband. Er hatte in ein paar Monaten 10 Kilo abgenommen, seine Arme hatten keine Muskeln. Seine ersten Worte waren: „Ich glaube, ich verliere den Verstand.“ Ich versuchte, ihn des Gegenteils zu versichern. Seine Widerstandskraft und sein Mut sind beeindruckend, aber nicht unbegrenzt.
Das war vor über einem Jahr. In den letzten drei Wochen wurde er, noch vor dem Morgengrauen, leibesvisitiert, mit Handschellen gefesselt und für den Transport ins Gericht vorbereitet, in einem Fahrzeug, das seine Partnerin, Stella Moris, als hochkant gestellten Sarg beschreibt. Es gab ein kleines Fenster, das man nur im unsicheren Stand erreichen konnte, um hinauszusehen. Fahrzeug und Wachpersonal gehören der Firma Serco, einer der vielen politisch wohlvernetzten Firmen, die Boris Johnsons Großbritannien am Laufen halten.
Die Fahrt zum Gerichtsgebäude namens Old Bailey dauerte mindestens anderthalb Stunden. Das bedeutete am Tag mindestens drei Stunden Holperei durch den Kriechverkehr. Julian wurde zu seinem engen Käfig im hinteren Teil des Gerichtssaales geführt. Dort hob er den Blick und versuchte blinzelnd, durch das reflektierende Glas die Gesichter auf der Besuchergalerie zu erkennen. Er sah die wohlgekleidete Figur seines Vaters, John Shipton, und mich. Unsere Fäuste gingen hoch. Durch das Glas suchte er Fingerkontakt mit Stella, die Anwältin ist und ihren Sitzplatz mitten im Gericht hatte.
Wir waren hier für das extremste dessen, was der Philosoph Guy Debord die „Gesellschaft des Spektakels“ nannte: ein Mann, der um sein Leben kämpft. Doch sein Verbrechen besteht darin, der Öffentlichkeit einen heldenhaften Dienst erwiesen zu haben, nämlich publik zu machen, was wir ein Recht haben zu wissen: die Lügen unserer Regierungen und die Verbrechen, die sie in unserem Namen begehen. Seine Erfindung von WikiLeaks mit dessen hunderprozentigem Quellenschutz hat den Journalismus revolutioniert und ihn der Vision der Idealisten angenähert. Edmund Burkes Idee eines freien Journalismus als vierte Gewalt ist nun eine fünfte Gewalt geworden, die diejenigen scharf beleuchtet, die mit ihrer kriminellen Geheimniskrämerei der Demokratie selbst schaden und Abbruch tun. Deshalb ist Assanges Bestrafung so extrem.
Die schiere Voreingenommenheit der Gerichte, in denen ich in diesem und dem letzten Jahr gesessen habe, in Verhandlungen über Julian, spricht jeder Vorstellung von britischer Justiz Hohn. Nachdem die Polizei ihn aus dem Asyl der ecuadorianischen Botschaft davongeschleift hatte — auf dem Foto sieht man ihn ein Buch von Gore Vidal umklammern; Assange hatte einen ähnlichen politischen Humor wie Vidal —, verurteilte ein Richter ihn zu ungeheuerlichen 50 Wochen Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis — für die bloße Verletzung von Kautionsauflagen.
Monatelang bekam er keine körperliche Bewegung und musste, unter dem Vorwand der Gesundheitsvorsorge, in Einzelhaft bleiben. Er erzählte mir einmal, dass er, an der Längsseite seiner Zelle vor- und zurücktigernd, einen halben Marathonlauf absolviert hatte. In der nächsten Zelle befand sich ein Mensch, der die ganze Nacht über schrie.
Zuerst verweigerte man ihm seine Lesebrille, die bei der brutalen Festnahme in der Botschaft zurückgeblieben war. Man verweigerte ihm die juristischen Dokumente, um seinen Fall vorzubereiten, ebenso den Zugang zur Gefängnisbibliothek und die Benutzung eines einfachen Laptop-Computers. Bücher, die ihm ein Freund schicken wollte — der Journalist Charles Glass, ein Überlebender des Geiseldramas von Beirut —, wurden zurückgeschickt. Er konnte nicht mit seinen amerikanischen Anwälten telefonieren. Er wurde von den Gefängnisbehörden ständig unter Medikamente gesetzt. Ich fragte ihn, was für Medikamente — er wusste es nicht. Der Gefängnisdirektor von Belmarsh ist Träger der Auszeichnung „Order of the British Empire“.
Im Old Bailey war es die medizinische Sachverständige Dr. Kate Humphrey, eine klinische Neuropsychologin am Imperial College zu London, die den Schaden beschrieb: Julians Intellekt, der früher im oberen oder wahrscheinlich obersten Rand der Verteilung lag, ist „signifikant unter“ dieses optimale Niveau gefallen, bis hin zu dem Punkt, wo er kaum noch neue Information verarbeiten kann und im „Bereich des unteren Durchschnitts“ abschneidet.
Das ist das, was Professor Nils Melzer, der spezielle UN-Berichterstatter für Folter, als „psychologische Folter“ bezeichnet, das Resultat eines bandenartigen Mobbings seitens der Regierungen und ihrer medialen Helfer. Ein Teil der medizinischen Evidenz, die von den Sachverständigen geboten wurde, ist so schockierend, dass ich sie hier nicht wiedergeben werde. Es mag genügen zu sagen, dass Autismus — ein Asperger-Syndrom — diagnostiziert wurde, und es besteht — nach Aussage von Professor Michael Kopelmann, einem der führenden Neuropsychiater der Welt — eine fixe suizidale Neigung, die im Falle einer Auslieferung an die USA wahrscheinlich zum Suizid führen wird.
James Lewis QC (das QC steht für „Queens Counsel“, ein staatlich verliehener Ehrentitel für Anwälte, Anmerkung des Übersetzers), Amerikas britischer Strafverfolger, nutzte den größten Teil seines Kreuzverhörs mit Professor Kopelmann dazu, Geisteskrankheit und ihre Gefahren als „Simulation“ erscheinen zu lassen. Ich habe noch nie in einem modernen Rahmen derart primitive Ansichten über menschliche Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit zu hören bekommen.
Meine eigene Einschätzung ist, dass Assange, wenn er freigesprochen wird, gute Chancen hat, einen wichtigen Teil seines Lebens zurückzuerobern. Er hat eine liebende Partnerin, treue Freunde und Verbündete und die immanente Stärke eines von Prinzipien geleiteten politischen Gefangenen. Hinzu kommt sein Sinn für schwarzen Humor.
Aber das scheint nun in weiter Ferne zu liegen. Die Momente unausgesprochener Einigkeit zwischen der Richterin — einer gothisch anmutenden Beamtin namens Vanessa Baraitser, über die nicht viel bekannt ist — und der für das Trump-Regime arbeitenden Strafverfolgung waren schamlos. Mit Ausnahme der letzten Tage wurden alle Einsprüche der Verteidigung routinemäßig abgeschmettert. Der Chefankläger und zurzeit höchster Richter auf den Falklandinseln, James Lewis QC, kriegt im Großen und Ganzen seinen Willen, zum Beispiel ein Zeitbudget von bis zu vier Stunden, um sachverständige Zeugen zu zerpflücken, während die Kreuzverhöre der Verteidigung nach einer halben Stunde abgebrochen werden. Ich habe keinen Zweifel: Wenn es eine Jury gäbe, würde Julian freigesprochen.
Der Dissident und Künstler Ai Weiwei kam eines Morgens zu uns auf die Besuchergalerie. Er bemerkte, in China würde das Urteil längst feststehen. Dies führte bei uns zu einer Welle von schwarzer Ironie. Mein Nachbar in der Galerie, der scharfsinnige Blogger und britische Ex-Botschafter Craig Murray, schrieb:
„Ich fürchte, dass jetzt über ganz London ein schwerer Regen auf alle die niedergeht, die ein Leben lang in den Institutionen der liberalen Demokratie gearbeitet haben und sich zumindest üblicherweise ungefähr im Rahmen ihrer eigenen verkündeten Prinzipien bewegten. Es war mir vom ersten Tag an klar, dass ich Zeuge einer Farce sein würde.
Es überrascht mich kein bisschen, dass Baraitser nicht glaubt, irgendetwas außer den schriftlich fixierten Anklagepunkten sei von Belang. Wie ich immer wieder berichtet habe, bringt sie, wenn gerichtliche Entscheidungen zu treffen sind, diese schriftlich vorformuliert mit in den Saal, bevor sie sich die Argumente dazu anhört.
Ich habe den deutlichen Eindruck, dass auch das Urteil in diesem Falle schon feststand, bevor die Anklage verlesen wurde.
Der Plan der US-Regierung ist es von Anfang an gewesen, die öffentlich zugängliche Information zu limitieren und auch den zugänglichen Teil von den breiten Massen fernzuhalten. Aus diesem Grunde erleben wir die extremen Zugangsbeschränkungen — sowohl für physischen Zugang als auch für den Zugang zum Videostream. Mit im Boot sitzen die Mainstreammedien und sorgen dafür, dass nur die wenigsten Menschen in der Bevölkerung wissen, was vor sich geht.“
Es gibt nur wenige Aufzeichnungen des Verfahrens. Dazu gehören: Craig Murrays persönlicher Blog, Joe Laurias Live-Berichterstattung auf consortiumnews.com und der World Socialist Web Site wsws.org. Der Blog des amerikanischen Journalisten Kevin Gosztola, shadowproof.com, den er überwiegend selbst finanziert, hat mehr über die Verhandlung berichtet als die großen Presse- und Fernsehkanäle der USA, inklusive CNN, zusammen.
In Assanges Heimatland Australien folgt die „Berichterstattung“ einer bekannten Formel aus Übersee. Die Londoner Korrespondentin des Sydney Morning Herald, Latika Bourke, schrieb vor Kurzem dies:
„Das Gericht erfuhr, Assange sei in den sieben Jahren in der ecuadorianischen Botschaft depressiv geworden, in der er politisches Asyl suchte, um der Auslieferung nach Schweden zu entgehen, wo er wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung gesucht wurde.“
Es gab in Schweden kein Verfahren wegen „Vergewaltigung und sexueller Nötigung“. Bourkes nachlässiger Fehler ist alles andere als selten. Wenn dies der politische Prozess des Jahrhunderts ist — und es sieht danach aus —, dann wird er nicht nur das Schicksal eines Journalisten, der seinen Job gemacht hat, besiegeln, sondern auch, auf dem Wege der Einschüchterung, gegen die Prinzipien von Presse- und Meinungsfreiheit selbst vorgehen. Das Fehlen von seriöser Mainstream-Berichterstattung über den Prozess ist — um das Mindeste zu sagen — selbstdestruktiv. Die Journalisten sollten sich fragen, wer wohl als Nächster drankommt.
Wie erbärmlich das alles ist: Vor 10 Jahren nutzte der Guardian Assanges Arbeit aus, erzielte dafür Profit und Preise und einen lukrativen Vertrag mit Hollywood und wandte sich dann mit giftigem Angriff gegen Assange.
Zwei Namen wurden während des gesamten Verfahrens im Old Bailey immer wieder von der Anklage zitiert: David Leigh vom Guardian, jetzt im Ruhestand als „investigativer Redakteur“, und der russophobe Luke Harding, Autor einer fiktionalen „Exklusivmeldung“ des Guardian, in der er behauptete, der Trump-Berater Paul Manafort hätte, zusammen mit einer Gruppe von Russen, Assange in der ecuadorianischen Botschaft besucht.
Das ist nie passiert, und der Guardian hat sich noch nicht entschuldigt. Das Buch, das Harding und Leigh über Assange — hinter dessen Rücken — geschrieben haben, verriet ein geheimes Passwort zu einer WikiLeaks-Datei, das Assange ihnen in der Zeit der „Partnerschaft“ mit dem Guardian anvertraut hatte.
In diesem Buch wird auch Assange zitiert, wie er bei einem Abendessen in einem Londoner Restaurant gesagt haben soll, es sei ihm egal, ob die Informanten, deren Namen in den Leaks (1) genannt werden, dadurch zu Schaden kämen. Weder Harding noch Leigh waren bei dem Abendessen dabei. John Goetz, ein Investigativreporter des Spiegel, war dabei und sagte aus, dass Assange nichts Derartiges gesagt habe. Unerklärlicherweise stoppte Richterin Baraitser Goetz, bevor er diese Aussage vor Gericht wiederholen konnte.
Trotzdem ist es der Verteidigung gelungen darzulegen, in welchem Ausmaß Assange in den von WikiLeaks veröffentlichten Dateien die Namen von Informanten geschützt und unkenntlich gemacht hat und dass kein Fall bekannt ist, in dem die Leaks (1) einer Person nachweislich geschadet hätten. Der Whistleblower Daniel Ellsberg weiß von 15.000 Dateien, die Assange persönlich redigiert hat. Der renommierte neuseeländische Journalist Nicky Hager, der mit Assange an den Leaks (1) zum afghanischen und irakischen Krieg arbeitete, beschrieb, wie Assange „mit außerordentlicher Sorgfalt die Namen von Informanten redigierte“.
Welche Folgen wird das Urteil in diesem Verfahren für den Journalismus allgemein haben — ist es ein Omen für die Zukunft?
Der „Assange-Effekt“ ist jetzt schon rund um die Welt wahrnehmbar. Investigativjournalisten, die das Regime in Washington verärgern, müssen mit Verfolgung unter dem „US Espionage Act“ von 1917 rechnen, sobald es den Präzedenzfall gibt. Es spielt keine Rolle, wo du bist. Für Washington spielte die Nationalität und Souveränität anderer Leute schon bisher kaum eine Rolle, nun existiert dieser Faktor überhaupt nicht mehr. Großbritannien hat seine Jurisdiktion de facto dem korrupten Justizministerium Trumps unterstellt. In Australien gibt es jetzt einen „National Security Information Act“, der bei Übertretungen kafkaeske Gerichtsverhandlungen erwarten lässt.
Die Australian Broadcasting Corporation wurde von einer Polizeirazzia heimgesucht, bei der die Computer von Journalisten beschlagnahmt wurden. Die Regierung verlieh Vertretern der Geheimdienste nie dagewesene Befugnisse, die journalistische Enthüllungen fast unmöglich machen. Premierminister Scott Morrison bemerkte, Assange müsse sich nun „der Musik“ stellen. Die Banalität dieser Aussage bringt deren perfide Grausamkeit erst richtig zur Geltung.
„Das Böse“, schrieb Hannah Arendt, „kommt von fehlendem Denken. Es trotzt dem Denken, denn sobald das Denken das Böse zu verstehen sucht und die Prämissen und Prinzipien, die ihm zugrundeliegen, wird es frustriert, weil es da nichts findet. Das ist die Banalität des Bösen.“
Nachdem Sie die Geschichte von WikiLeaks über eine Dekade lang verfolgt haben, wie hat dies Ihr Verständnis davon beeinflusst, was in dem Verfahren von Assange auf dem Spiel steht?
Ich kritisiere seit Langem den Journalismus als ein Echo von unkontrollierter Macht und als Verstärker der jeweiligen Trendsetter. Deshalb war für mich die Entstehung von WikiLeaks so entscheidend. Ich bewunderte Assanges Art, der Öffentlichkeit mit Respekt zu begegnen. Er war bereit, mit dem „Mainstream“ zusammenzuarbeiten, aber nicht, ihrem verschworenen Club beizutreten. Dies, zusammen mit nacktem Neid, verschaffte ihm Feinde unter den Überbezahlten und Unbegabten, die mit ihrer angeblichen Unabhängigkeit und Überparteilichkeit auf dünnem Eis stehen.
Mir imponierte die moralische Dimension von WikiLeaks. Assange wurde selten danach gefragt, aber viel von seiner bemerkenswerten Energie speist sich aus der moralischen Überzeugung, dass Regierungen und andere bevollmächtigte Instanzen nicht hinter den Mauern der Geheimhaltung operieren sollten. Er ist ein Demokrat. Er erklärte dies bei einem unserer ersten Interviews, im Jahr 2010 bei mir zu Hause.
Was für den Rest von uns auf dem Spiel steht, war immer schon bedroht: die Freiheit, Rechenschaft von den Autoritäten zu fordern, sie infrage zu stellen, ihnen Heuchelei nachzuweisen, anderer Meinung zu sein. Was sich bis heute geändert hat, ist, dass die imperiale Weltmacht USA noch nie so unsicher bezüglich ihrer metastasierenden Autorität war wie heute. Wie ein um sich schlagender Schurke steuert sie mit uns auf einen Weltkrieg zu, wenn wir es zulassen. Nur selten wird diese Bedrohung in den Medien reflektiert.
WikiLeaks hingegen hat uns einen Einblick gegeben in den ungezügelten Marsch des Imperiums durch ganze Gesellschaften — denken Sie nur an das Gemetzel im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien, dem Jemen, denken Sie an die Vertreibung von 37 Millionen Menschen und den Tod von 12 Millionen Männern, Frauen und Kindern, die der „Krieg gegen den Terror“ gekostet hat. Das meiste davon geschah verborgen hinter einer täuschenden Fassade.
Julian Assange stellt für diesen periodisch wiederkehrenden Horror eine Bedrohung dar — das ist der Grund, warum er verfolgt wird, warum ein Gericht zum Unterdrückungswerkzeug geworden ist, warum er unser kollektives Gewissen sein sollte, warum wir alle diese Bedrohung darstellen sollten.
Das Urteil wird am 4. Januar bekannt gegeben.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Eyewitness to the Agony of Julian Assange“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Ein „Leak“ ist eine weitergegebene Information, die die in einer Gruppe verabredete Geheimhaltung durchbricht. In diesem Text sind das meistens Dateien. Das deutsche Wort „Leck“ wird nicht in dieser Bedeutung verwendet. Ich bleibe daher bei „Leak“ (Anmerkung des Übersetzers).