Der Pseudo-Dissident

Während westliche Länder Alexei Nawalny noch immer hofieren, distanzieren sich Russlands führende Liberale von ihm.

„Er ist ein Schurke, aber er ist unser Schurke.“ Wenn sich der Westen erst einmal auf einen ausländischen Staatsmann als Lieblingsfeind eingeschossen hat, ist er nicht wählerisch, solange sich jemand nur als Feind dieses Feindes in Szene setzt. Wenn jemand gar als „Putin-Gegner“ auffällig wird, darf er sich der Liebe auch der westlichen Medien gewiss sein. Das betrifft natürlich auch Alexei Nawalny, dessen Ideologie im Grunde rechtsnational und illiberal ist und den sich der Westen nicht ernstlich als Nachfolger des derzeitigen russischen Präsidenten wünschen sollte. Vor allem ist er eines nicht: der „Führer der russischen Opposition“. Bedeutende Oppositionelle wie Grigori Jawlinski distanzierten sich in jüngster Zeit deutlich von Nawalny. Und das sind keineswegs alles „putinhörige“ Werkzeuge des Kreml. Jawlinski etwa gehört seit Langem zu den schärfsten Kritikern des Präsidenten, hielt es sogar für möglich, dass der Giftanschlag auf Nawalny ein Werk staatlicher Kräfte gewesen sei. Es wäre an der Zeit, dass der Westen die Vielfalt innerhalb der regierungskritischen Szene in Russland zur Kenntnis nimmt und sich nicht reflexartig hinter jeden Protest gegen Putin stellt.

Bemerkenswertes offenbart sich am Fall Nawalny. Während westliche Medien Nawalny zum Führer der demokratischen Opposition Russlands stilisieren, distanzierte sich der Gründer und langjährige Vorsitzende der Partei der Liberalen „Jabloko“, Grigori Jawlinski, öffentlich von Nawalnys „Populismus“ als „sinnlos“, „antidemokratisch“ und „national-bolschewistisch“. Sergei Iwanenko, ehemaliger Stellvertreter Jawlinskis, betonte eine „maximale Distanz“ der Liberalen von dem „Nietzscheaner“ und „Militanten“ Nawalny.

Bemerkenswert ist die Kritik Jawlinskis, weil sie von einem Mann vorgebracht wird, der seit den Tagen des Machtantritts Wladimir Putins zu dessen schärfsten Kritikern gehört. Auch jetzt erklärte er unmissverständlich, der „Vergiftungsversuch“ an Nawalny sei ein Verbrechen, das vor einem internationalen Tribunal geklärt werden müsse. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er erklärt, bei der Vergiftung handle es sich nicht nur um ein Verbrechen, „es könnte auch ein Beweis für die Existenz von staatlich sanktionierten Todesschwadronen in Russland sein.“ Jawlinski steht also mit Sicherheit nicht in dem Verdacht, Putin gegen Kritik abschirmen zu wollen — auch wenn er ihn nicht persönlich zum Mörder und Dieb erklärt wie Alexei Nawalny, sondern ihn politisch anklagt.

Sinnloser „Protestaktivismus“

Dies vor Augen, bekommt Jawlinskis Kritik, auch wenn er aus Altersgründen nicht mehr Vorsitzender der Partei ist, ihr unabweisbares Gewicht. Seine Kritik setzt mit einer Bestandsaufnahme der Protestkultur in Russland ein. Außer Illusionen habe diese Protestkultur bisher trotz allen „Protestaktivismus“ in den Jahren seit 2011 bis heute nichts gebracht, habe keine Perspektive für den demokratischen Aufbau liefern können und stattdessen viele politische Gefangene hinterlassen, um die sich niemand wirklich kümmere, der öffentlichen Druck für ihre Befreiung herstellen könne.

Die Proteste, die Nawalny mit seiner Rückkehr jetzt initiierte habe, seien nur eine Fortsetzung dieser sinnlosen Politik, die an den konkreten Verhältnissen nichts ändere und auch keine Zielvorgaben enthalte. Außer Rufen wie „Freiheit für Nawalny“ hätten die Proteste keine Intention gehabt. Vor diesem Hintergrund, so Jawlinski, „ist ein weiterer solcher Zyklus von Straßenprotesten ein Weg zu noch größerer Desillusionierung.“

Sogar Nawalnys Wahlkampfzentrale habe das verstanden, so Jawlinski, wenn sie verkünde, dass sie die Menschen nicht auf die Straße rufen werde, um sie dort verprügeln zu lassen. Allerdings nehme sie eben genau diese Situation mit ihren gegenwärtigen Aufrufen doch in Kauf.

Nötig sei aber eine langfristige, ans Grundsätzliche gehende Bewegung zum Aufbau von tatsächlichen demokratischen Strukturen, die der Bevölkerung echte soziale Alternativen geben. Auf dergleichen ziele aber die Politik Nawalnys nicht.

Nawalny sei zurückgekehrt in vollem Wissen, dass er ins Gefängnis kommen werde, ohne eine andere Zielvorgabe als „Befreit Nawalny“ zu nennen. Für Jawlinski ist klar, dass dabei nichts weiter herauskommen könne als eine ziellose Aufwiegelung der Massen.

Kritik an Korruption reicht nicht

Kritik an der Korruption allein, so Jawlinski, bringe gar nichts. Dass Korruption im Lande herrsche, sei nichts Neues für die Menschen. Wichtig sei, Wege aufzuzeigen, wie aus der Situation herauszukommen ist, die durch die kriminelle Privatisierung seit den 1990er-Jahren entstanden sei.

Jawlinski:

„Die Ermittlungen Nawalnys hatten leider keine praktischen Ergebnisse für die Gesellschaft, konnten sie auch nicht haben. Alle, die entlarvt wurden, bleiben an ihrem Platz und mit ihrem Geld. Das Problem ist nicht so sehr die uralte Tradition des Diebstahls an der Macht, sondern die Tatsache, dass während der Reformen der 1990er-Jahre und insbesondere der halbkriminellen — und in einigen Fällen, wie den Hypothekenauktionen, völlig kriminellen — Privatisierung, die auf einer Verschmelzung von Eigentum und Macht basiert, ein System geschaffen wurde, das keine unabhängige Justiz, keine unabhängigen Medien, kein echtes Parlament und keine fairen Wahlen vorsieht. Und ohne eine kategorische Trennung von Eigentum und Wirtschaft von der Macht, ohne Gewaltenteilung ist der Kampf gegen Korruption unmöglich.

Deshalb ist der wichtigste gesellschaftlich bedeutsame Effekt, auf den die Filme Nawalnys abzielen, die Aufstachelung zu primitivem sozialen Unfrieden. Auch das ist nicht neu. Genau das taten auch die Behörden, als sie Michail Chodorkowski 2003 Yukos entrissen. Das Schüren von Klassenpopulismus in Russland und das Provozieren von Zusammenstößen zwischen Reichen und Armen wird nichts bringen. (…)

Die Menschen in Russland werden ja nicht nur wegen der Korruption arm. Unsere Bürger verlieren unvergleichlich mehr wegen des Krieges in Syrien und im Donbas, wegen des Wettrüstens und der völlig grenzenlosen, intransparenten und unkontrollierten Ausgaben für den militärisch-industriellen Komplex, wegen der internationalen Sanktionen, gegen die Russland ständig anrennt, aber vor allem wegen der ineffizienten, kostspieligen Wirtschaft des Staatskapitalismus — wenn Gewinne privat und Verluste öffentlich sind. Korruption kann nur durch eine Änderung des Systems wirklich besiegt werden. Deshalb, ich wiederhole es, ist der wirkliche Kampf gegen die Korruption kein Drohnenschnappschuss auf die Anwesen korrupter Beamter, sondern ein politischer Kampf für einen neuen russischen Staat, für eine neue Verfassung, für eine verfassungsgebende Versammlung.“

Nawalny schon 2011 — quer zu allen

Hier setzt Jawlinski dann zu seiner schärfsten Kritik an. Er erinnert daran, dass Nawalny schon 2011 aus der liberalen Partei wegen nationalistischer und tendenziell sogar faschistischer Aktivitäten ausgeschlossen worden sei. Zu Bekräftigung lässt Jawlinski eine Zeugin aus dieser Zeit sprechen, Valeria Nowodworskaya, die schon damals die Position und den politischen Stil Nawalnys treffend charakterisiert habe: Nawalny könne, hatte sie geschrieben,

„der zukünftige Führer eines gestörten Mobs werden, mit einer Nazi-Neigung. (...) Der Kampf gegen die Korruption, kann dahin führen, wozu er in Weißrussland bereits geführt hat. Lukaschenko hatte das Volk verführt, indem er von morgens bis abends über den Kampf gegen die Korruption sprach. Und es war leicht, leichtgläubige Weißrussen zu kaufen. Und die unbewusste Intelligenz unterstützte ihn, weil sie dachte, sie könne ihn drehen, wie sie wollte. So sehen wir die belarussische Landschaft heute. (...) Verhaftungen sind kein politischer Ablasshandel. Die Bolschewiken wurden ebenfalls inhaftiert, und Dserschinski saß zehn Jahre lang im Gefängnis. Auch Hitler wurde inhaftiert. Schade, dass es nicht 15 Jahre lang war. Vielleicht hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. (...)

Wenn die Massen für Nawalny gehen, kann das Land in Zukunft mit Faschismus rechnen. (...) Die Welle, die sich jetzt erhebt, ist nicht nur gegen Putin. Sie erhebt sich für die undemokratische Zukunft Russlands. Es ist ein Aufstehen für den vergangenen Kommunismus oder für den zukünftigen Faschismus. Und Nawalny ist einer der potenziellen Anführer dieses neuen Untergangs.“

Seitdem, also seit 2011, so Jawlinski, habe sich überhaupt nichts geändert. Es gebe nichts Positives an Nawalnys Anspruch, mit den Ideen und der Agenda, die er vorschlage, um damit an der russischen Politik teilzunehmen. Als 2009 der Menschenrechtsaktivist Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa von Neonazis im Zentrum Moskaus ermordet wurden, habe Nawalny die „Russischen Märsche“ organisiert, bei denen zu ethnischem Hass und ähnlichen Morden aufgerufen worden sei. Auch zum Krieg mit Georgien oder bei der Kommentierung des Krieges im Donbas habe er seine nationalistischen Positionen „nicht versteckt“.

Nawalny, darf man ergänzen, hat sich bis heute von seinen nationalistischen Auftritten nicht distanziert.

Und bis heute sind die Menschen, die er anspricht, nicht links oder rechts. Im Gegenteil fordert die von ihm entwickelte Strategie des „Smart Vote“ die Menschen dazu auf, unabhängig von ihrer politischen Orientierung die Partei zu wählen, die der Partei der Macht, als Putins politischer Stütze, die meisten Stimmen abspenstig zu machen in der Lage ist. So sammeln sich in seinem Gefolge, bei Wahlen wie bei den jetzigen Protesten, Menschen quer durch das politische Spektrum, die nur die Parole „Weg mit Putin“ und die damit verbundene vage Hoffnung auf diverse Lebensvorteile auf die Beine bringt.

Ob man Nawalny als Politiker unterstütze oder nicht, so Jawlinski schließlich, bleibe jedem selbst überlassen. Aber notwendig sei zu verstehen:

„Das demokratische Russland, die Achtung des Individuums, die Freiheit, das Leben ohne Angst und ohne Repression sind unvereinbar mit Nawalnys Politik. Es sind grundlegend verschiedene Richtungen.“

Nawalnys „Stabschef“ spricht

Auf Kritik aus den eigenen Reihen antwortete Jawlinskis ehemaliger Stellvertreter Sergei Iwanenko mit einem Artikel, in dem sich noch schärfere Worte finden. Nawalny habe gewusst, so Iwanenko, dass er, wenn er nach Russland zurückkehrt, ins Gefängnis käme. Er habe sich trotzdem entschieden zu kommen und einzusitzen. Dies sei die Taktik seines politischen Spiels. Das Gefängnis werde von Nawalny benutzt, um Unterstützung zu generieren und zu versuchen, alle Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Zum Beleg zitiert Iwanenko die Erklärung, die Nawalnys „Stabschef“ Leonid Wolkow zur gegenwärtigen Strategie von Nawalnys Einsatzstab gegeben habe:

„Es gab kein Mitleid für irgendetwas, in der Tat nahm ich eine riesige moralische Last auf mein Herz. (...) Ich gab allen unseren Mitarbeitern des Hauptquartiers einen Befehl, eine Anweisung: Leute, ihr müsst für eine lange Zeit in Haft gehen, weil die Organisation dieser Kundgebungen unweigerlich mit Haftandrohungen für alle unsere Koordinatoren verbunden ist. Und so wurden sie alle als Organisatoren genommen und eingesperrt. (...)

Aber mir war klar, dass wir in dieser Situation eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit sowohl in Russland als auch außerhalb um Alexei Nawalny, um diese Verhaftung und diesen Prozess gewinnen mussten. Wir mussten die Aufmerksamkeit so weit wie möglich bündeln, um maximale Unterstützung zu erhalten. Dass Millionen von Menschen sehen, was passiert, und dahin kommen zu verstehen, dass sie sich aus den Fängen des Putinismus und der Propaganda befreien. Wir hätten also schon damals alles ins Feuer werfen sollen.

Obwohl es eine schreckliche Entscheidung war, den Leuten zu sagen: Ihr werdet mit der Kavallerie gegen die Panzer gehen, ihr werdet auf allen Kanälen des Hauptquartiers schreiben, dass wir morgen eine Kundgebung abhalten, wissend, dass die Häscher hinter euch her sein werden und ihr verhaftet werdet. Aber wir hatten keinen anderen Ausweg, wir mussten das tun, um am 23. und 31. Januar 2021 vor der Gerichtsentscheidung, vor dem Urteil, eine große soziale Konsolidierung erreichen zu können.

Und wir haben es zu einem furchtbar hohen Preis erreicht — Dutzende unserer Mitarbeiter wurden verhaftet, Hunderte von Menschen wurden in Moskau verhaftet, unter schrecklichen Bedingungen in Sacharow, 12.000 Menschen wurden inhaftiert. Niemand würde einen solchen Preis zahlen wollen. Es ist schrecklich, dass wir das bezahlen müssen. Es ist furchtbar, dass Putin das Land in eine solche Situation gebracht hat, dass es einfach so viel kostet, friedliche Menschen auf die Straße zu bringen: Hunderte von Menschen, die geschlagen wurden, einige Anklagen, alle Arten von einfach ungeheuerlichen Dingen. Es ist sehr schmerzhaft und schlimm.

Aber es hatte seinen Sinn, denn wir sammelten die öffentliche Meinung zu unseren Gunsten auf unserer Seite, bevor das Urteil gefällt wurde. Und wir haben Millionen von Zuschauern und Millionen von Menschen, die schockiert sind von dem, was sie gesehen haben. Und sie haben zugeschaut, weil wir mit unseren Veranstaltungen darauf aufmerksam gemacht haben. Und jetzt sind diese Millionen von Menschen, die von Putin enttäuscht waren, mit uns oder werden mit uns sein, werden mit uns sein bei der Smart Vote.“

„Kannibalische Taktik“

Das heißt, kommentiert Iwanenko, sie wussten, dass dies geschehen würde. „Sie warnten ihre Zentrale, aber nicht andere potenzielle Demonstranten, und warfen alles in diesen ‚Feuersturm‘, um Aufmerksamkeit für den Prozess von Nawalny zu gewinnen, zu dem er absichtlich kam. Dies ist eine ungeheuerliche, kannibalische Taktik. Warum sollten wir ihm folgen?“

Nawalny, erklärt Iwanenko an anderer Stelle seines Textes, um Nawalnys „Stil“ zu kennzeichnen:

„Nawalny ist ein Nietzscheaner, ein Nationalist, ein Gesprächspartner von Militanten (1). Das reicht aus, um uns auf maximale Distanz zu Nawalny zu bringen, egal wie viele Millionen Anhänger er hat.“

Es wäre gut, wenn diese Stimmen — die eine nicht minderkritische Position zu Putin vertreten wie Nawalny, zugleich aber auch Nawalnys Aktivitäten transparent machen — auch im Westen gehört würden, statt dass Nawalny zum Führer der Opposition aufgeblasen wird. Aber offensichtlich ist, dass dies in der Ost-West-Konfrontation, die im Gefolge des Präsidentenwechsels in den USA gegenwärtig wieder hochgefahren wird, nicht gewollt wird. Tatsache ist, dass ein Wolkow stattdessen zu den Beratungen der EU hinzugezogen wird, die Nawalnys Wirken zum Anlass für neue Sanktionen gegen Russland nimmt.


Redaktionelle Anmerkung: Der Artikel erschien zuerst am 15. Februar 2021 unter dem Titel “Nawalny — Führer der russischen Opposition?“ auf dem Blog von Kai Ehlers.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Igor Girkin-Strelkow, Kommandant in den Kämpfen um Donezk; Sachar Prilepin, Autor, Mitglied der nationalbolschewistischen Partei.

Wer sich ein eigenes Bild von den hier zitierten Texten machen will: