Der Propaganda aufgesessen
Christian Stolle stellt die russische Regierung mit der westlichen auf eine Stufe — und benutzt als Argumente hauptsächlich westliche Propaganda.
Der Krieg in der Ukraine wird begleitet von Propaganda, die von beiden Seiten ausgeht. Angesichts des Unrechts, das der sogenannte Wertewesten gegenüber anderen Staaten, auch Russland, verübt, gibt es die Tendenz in den unabhängigen Medien, Russland und seine Regierung zu glorifizieren. Dies kritisierte Christian Stolle in einem Artikel hier auf Manova zu Recht. Dann aber führt er über Seiten westliche Propaganda aus und stellt unhaltbare Behauptungen auf, die ihn zu dem Schluss gelangen lassen, beide Seiten trügen in etwa die gleiche Schuld und seien von denselben Motiven geleitet. Eine Gegenposition.
„In Propaganda geeint“, so heißt der Text von Christian Stolle, in dem er die russische Regierung mit den westlichen Regierungen auf eine Stufe stellt. Seine Behauptung, dass Putin, als Verkörperung der russischen Regierung, in den sogenannten Alternativmedien zu gut gezeichnet wird, ist zwar nicht unbedingt von der Hand zu weisen. Allerdings zu behaupten, dass die russische Regierung den westlichen Regierungen in nichts nachstehe und im Grunde genauso handele, ist angesichts der unterschiedlichen Kultur und der Tatsachen eine etwas überdehnte Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zumal seine Argumente weitestgehend der westlichen Propaganda entsprechen und sich zu einem großen Teil auf lediglich westliche — und damit wenig vertrauenswürdige — Quellen stützen.
Um nicht missverstanden zu werden: Auch die russische Regierung hat Kritik verdient. Denn bei ihr handelt es sich, wie auch bei vielen westlichen Staaten, um eine Herrschaftsclique, die oligarchische Strukturen und Korruptionsmittel für den eigenen Machterhalt nutzt. Jede Regierung — ob formal gewählt oder als „tiefer“ beziehungsweise Schattenstaat — greift auf solche Mittel zurück. Bei der russischen Regierung ist dies sogar recht augenfällig, da deren Mitglieder im Laufe ihres Lebens entweder für Geheimdienste tätig waren oder wegen diverser Verbrechen im Gefängnis gesessen haben.
Wenn man die russische Regierung kritisiert, sollte man das jedoch anhand von Tatsachen tun und nicht auf der Grundlage westlicher Propaganda, wodurch man sich letztlich noch bewusst oder unbewusst zur Durchsetzung westlicher Interessen instrumentalisieren lassen kann. Und daran hapert es leider etwas in Stolles Artikel.
So sind schon die historischen Ausführungen von einer gewissen westlichen Einseitigkeit geprägt. Ja, die Kriege in Tschetschenien waren gewaltsam, wie jeder Krieg, und haben, ebenfalls wie jeder Krieg, den Zentralstaat gestärkt. Man muss sie allerdings vor dem Hintergrund des Auseinanderfallens der Sowjetunion betrachten. Damals war die russische Regierung darum bemüht, ein kollabierendes Staatengebilde zusammenzuhalten, um es nicht den westlichen Interessen ausliefern zu müssen.
Die 1990er-Jahre waren in Russland ohnehin eine chaotische Zeit, in der wahrscheinlich jede Wahl, die eine Regierung hätte treffen können, katastrophale Folgen gezeitigt hätte. Zu berücksichtigen ist auch, dass in Tschetschenien nicht nur Einheimische kämpften. Vom Westen aufgerüstete Dschihadisten aus Afghanistan und Pakistan reisten in die Region, um ein Kalifat zu errichten und nicht um das tschetschenische Volk zu befreien. Ein Kalifat wiederum hat der Westen dem islamischen Staat auch nicht zubilligen wollen, sondern die Organisation bekämpft. In Russland gab es diesen Kampf gegen den Terror schon früher.
Auch die Ausführungen zu Georgien beruhen auf einer einseitigen Betrachtungsweise. Denn die beiden Regionen Ossetien und Abchasien gerieten unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion in einen Krieg mit Georgien, das diese Regionen für sich beanspruchte. Weder Ossetien noch Abchasien wollten unter der Herrschaft Georgiens stehen, sondern eigene Staaten gründen. Zwei Jahre dauerten die Kriege an, bis Russland einschritt und sie beendete. Das wiederum brachte beide Regionen in eine ungünstige Lage, da die dort lebenden Menschen nun zu keinem Staat gehörten und daher auch nicht über entsprechende Ausweisdokumente verfügten, was es ihnen unmöglich machte, zu reisen oder Beziehungen zu anderen Ländern aufzunehmen. In der Folge boten sowohl Georgien als auch Russland ihre Pässe an, und die Menschen entschieden sich für Russland.
Der Kaukasuskrieg von 2008 ging auf die Initiative Georgiens zurück, welches unter Saakaschwili versuchte, die beiden Regionen zurückzuerobern und dabei von russischen Soldaten zurückgedrängt wurde, die dort als Friedenswächter stationiert waren. Das führte dazu, dass russische Soldaten bis nach Tiflis marschierten, dort allerdings nicht lange blieben. Der Schritt wird vom Europarat als völkerrechtskonform, aber überzogen eingestuft.
Die georgische Regierung hat erst vor Kurzem die Umstände des Krieges neu untersuchen lassen und kam dabei zu dem Ergebnis, dass Saakaschwili den Krieg auf Anweisung des Westens vom Zaun gebrochen habe. Die georgische Regierung steht auch heute nicht im Verdacht, besonders russlandfreundlich zu sein, hat aber eine praktische Position gegenüber dem großen Nachbarn eingenommen und unterstützt auch nicht die westlichen Sanktionen, weswegen der Westen unlängst versuchte, eine Farbrevolution durchzuführen.
Damit ist aber eines der typisch westlichen Argumente widerlegt, das auch Stolle anführt, nämlich Putins angeblicher Eroberungswille. Hätte die russische Regierung diesen Willen, so hätte sie schon damals Tiflis besetzt halten und ganz Georgien unter ihre Kontrolle bringen können. Dies ist aber nicht geschehen. Ebenso hätte Russland die Ukraine bereits 2014, als der Krieg in der Ostukraine ausbrach, besetzen können. Damals wäre die Ukraine nicht imstande gewesen, sich der russischen Armee zu widersetzen. Denn, so erklärte auch Angela Merkel kurz nach Ausbruch des Krieges im Jahr 2022, die Minsker Abkommen verfolgten das Ziel, die Ukraine überhaupt erst aufzurüsten und in die Situation zu versetzen, sich gegen Russland behaupten zu können.
Der Krieg war also vom Westen seit Langem in geplant. Hätte Putin tatsächlich die ihm unterstellten Eroberungsfantasien, hätte seine Armee außerdem 2022 nach Kiew ziehen und die Stadt besetzen können.
Die Truppen waren bereits auf dem Weg dorthin und hätten ihren Weg einfach fortsetzen können. Zurückgezogen wurden sie aufgrund der Friedensverhandlungen in Istanbul. Diese wiederum zeigen auch auf, dass es nie um die Eroberung der Ukraine ging, sondern darum, eine militärische Bedrohung auszuschalten.
Es fand 2014 auch keine „Invasion“ in die Ostukraine statt. Die beiden Donbassrepubliken haben sich im Zuge der Maidanaufstände von der Ukraine abgespalten, da sie die faschistisch geprägte Koalitionsregierung nicht anerkennen wollten. Russland schickte zur Unterstützung gegen die neonazistischen Bataillone Waffen und Soldaten, um die westlichen Angriffe auf das Land zurückzuwerfen.
Die Folgen einer Untätigkeit seitens Russland kann man am Beispiel des Brandes im Gewerkschaftshaus in Odessa sehen. Damals hatten faschistische Verbände eine Gruppe von Gegnern des Maidans in das Gewerkschaftshaus getrieben und dieses dann angezündet. Jeder, der sich retten wollte, wurde erschossen oder brutal zu Tode geschlagen. Ähnlich wären die Kampfverbände in der Ostukraine vorgegangen. Tatsächlich gehen sie genauso auf dem noch nicht von Russland eroberten Gebiet vor.
Der Autor versucht weiter, glaubhaft zu machen, dass Putins Rede von der nazistischen Ukraine nichts als Propaganda sei. Tatsächlich haben der rechte Sektor und die Sowoboda-Partei als Sammelbecken für die neonazistsichen Organisationen kaum noch Zuspruch in dem Land. Jedoch haben die Rechtsextremen in der Ukraine schon vor Jahren auf einen Strategiewechsel gesetzt und die Administration sowie die Rechtsprechung des Landes unterwandert. Dass Nazibataillone wie etwa Asow nicht mehr rechtsextrem seien, weil sie unter der Oberaufsicht des Verteidigungsministeriums stünden, ist lediglich ein Mythos. Tatsächlich posieren die Kämpfer von Asow, Aidar und so weiter mit Hakenkreuzen, Wolfsangel und anderen Nazisymbolen, wie sich schon in ihrem Wappen, aber auch auf ihrem YouTube-Kanal begutachten lässt. Dass sich zudem eines der Bataillone, die in Kursk einmarschierten, mit dem Namen „Nachtigall“ schmückt, sollte Beweis genug sein für den noch immer virulenten Neonazismus in der Ukraine.
Zu behaupten, die ukrainischen Neonazis hätten ihre Überzeugungen abgelegt, nur weil angeblich auch einige Juden in diesen Bataillonen kämpfen, ist lächerliche westliche Propaganda. Auch dass die Ukraine kein neonazistischer Staat sein könne, weil Selenskyj ja Jude sei, ist eine absurde Argumentation, da die Nazibataillone regelmäßig Drohungen gegenüber Selenskyj aussprechen — für den Fall, dass dieser doch Friedensverhandlungen führt. Es war außerdem die Regierung Selenskyj, die Rasse- und Sprachgesetze einführte, welche ethnische Russen und andere Völker degradierten und ihnen die ukrainische Sprache aufzwangen. Zudem ignoriert diese Sichtweise, dass es auch jüdischen Faschismus geben kann, wie er im Staate Israel sogar eine dominante Position eingenommen hat.
Dass auch auf der Seite Russlands Nazibataillone kämpfen, wie Stolle ausführt, stimmt. Sie sind aber prozentual in einem geringeren Ausmaß beteiligt. Zudem kämpfen auch viele russische Neonazis auf der Seite der Ukraine in der Hoffnung, die russische Regierung stürzen zu können.
Stolle weist die Schuld für die Eskalation des Konflikts in der Ukraine allein Russland zu und ignoriert dabei, dass Selenskyj noch kurz zuvor ankündigte, das Budapester Memorandum aufkündigen zu wollen, das es der Ukraine untersagte, sich nuklear zu bewaffnen. Zudem bereitete die ukrainische Regierung in Kiew einen großangelegten Angriff auf die Ostukraine vor. Das erklärt, warum in den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges westliche Geheimdienste verkündeten, Russland würde bald angreifen. Sie hatten Russland bereits provoziert und ihrerseits einen Angriff auf die Ostukraine geplant.
Erst das brachte Putin dazu, nach acht Jahren die beiden Volksrepubliken als eigenständige Staaten anzuerkennen — wieder ein Argument gegen den russischen Eroberungswillen — und Beistandsverpflichtungen zu unterschreiben. Dies ist auch der Grund, weshalb die russische Regierung sich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN) beziehen kann. Dieser ermöglicht es Staaten, zur Selbstverteidigung auf militärische Mittel zurückzugreifen und dafür auch die Unterstützung anderer Staaten anzufordern. Dazu müssen diese Staaten nicht Mitglieder der UN sein. Sie müssen nicht einmal „anerkannt“ sein, da es keine internationale Institution gibt, deren Anerkennung die Staatsqualität eines Staates begründet. Zuvor hatte Putin diese Anerkennung verweigert, um die Situation mit friedlichen Mitteln lösen zu können. Das widerspricht ebenfalls der These, Putin wolle erobern. Erst als die Existenz der Russen in der Ostukraine bedroht war, sah er sich zum Handeln gezwungen.
Was Stolle auch ignoriert, sind die zahlreichen Regionen außerhalb Russlands, in denen Russen leben. Dazu gehört die damalige Ostukraine ebenso wie die Krim. Eine Abspaltung dieser Regionen von der Ukraine sowie ein Beitritt zur russischen Föderation musste daher gar nicht erzwungen werden. Es bedurfte lediglich der Möglichkeit einer Volksabstimmung. Dass diese zugunsten Russlands ausgehen würde, war von Anfang an klar. Und wer sich für die Selbstbestimmung der Tschetschenen einsetzt, der muss auch die Selbstbestimmung der Russen auf der Krim und im Donbass anerkennen.
Stolle reitet auch das tote Pferd der fehlenden Presse- und Medienfreiheit in Russland. Hier, so behauptet er, sei eine Berichterstattung überhaupt nicht möglich, und Artikel wie seiner würden wahrscheinlich verboten. Er benutzt dabei die längst widerlegte Behauptung, man dürfe im Zusammenhang mit der Ukraine nicht einmal das Wort „Krieg“ verwenden. Das ist allerdings eine westliche Propagandalüge. Natürlich darf man vom Krieg schreiben, muss dabei nur anmerken, dass das Verteidigungsministerium es als „militärische Sonderoperation“ bezeichnet. Sonst drohen Geldstrafen. Das jedoch ist eigentlich auch schon aus journalistischen Erwägungen geboten, da mit dem Begriff „militärische Sonderoperation“ eine ganze Reihe von Implikationen verbunden sind. Natürlich ist dieser Begriff einerseits verharmlosend, wie etwa „humanitäre Interventionen“ des Westens im Irak. Andererseits erlaubt die Einstufung als Sonderoperation der russischen Regierung, den Rest des Landes nicht in einen Ausnahmezustand zu überführen und die Bevölkerung in den Klammergriff eines Kriegszustands zu nehmen.
Der Lokalpolitiker Alexei Gorinow wurde daher auch nicht zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er von einem Krieg gesprochen hatte, sondern weil er erklärt hatte, in der Ukraine stürben jeden Tag Kinder aufgrund der Kämpfe. Das Gericht in Moskau befand ihn nach Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches, der die „öffentliche Verbreitung von wissentlich falschen Informationen über den Einsatz russischer Streitkräfte“ unter Strafe stellt, für schuldig. Das ist selbstverständlich eine zu kritisierende, übertriebene Strafe für eine Aussage, die grundsätzlich nicht unter Strafe stehen sollte, und schon das entsprechende Gesetz ist fragwürdig. Doch es ist faktisch falsch, dass es dabei um die Bezeichnung der „militärischen Sonderoperation“ als „Krieg“ gegangen sei.
Hinzu kommt, dass das russische Recht schon immer sehr streng war, was nur dadurch ausgeglichen wurde, dass es eher selten überhaupt zur Anwendung kam. Das birgt natürlich die Gefahr, dass das Recht als Waffe gegen politische Oppositionelle genutzt wird, ganz genauso wie das auch hier im Westen geschieht. Was Stolle aber unerwähnt lässt, ist, dass das Urteil auch innerhalb Russlands für Kritik sorgte und Revision eingelegt wurde.
Stolle schreibt zudem, dass die russischen Medien, ebenso wie die westlichen, reine Propagandainstrumente des Staates seien. Das ist zwar richtig, dennoch muss hier etwas differenziert werden. Zum einen wird man, wenn man sich die Berichterstattung der russischen Medien unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine anschaut, eine gewisse Ratlosigkeit feststellen. Die Medien wussten offenbar nichts mit der Situation anzufangen, und es ist erkennbar, dass sie im Vorfeld nicht informiert wurden. Das jedoch ist eine denkbar schlechte Propagandastrategie. Man sollte doch meinen, dass die Regierung ihre Medien auf den Einmarsch vorbereitet.
Erst nachdem Putin seine ersten Erklärungen zu der Situation abgegeben hatte, löste sich die Ratlosigkeit der Medien auf. Anders als westliche Medien geben die russischen Medienvertreter, wie Stolle selbst schreibt, offen zu, dass sie Propaganda betreiben. Sie inszenieren sich nicht als verlässliche, unabhängige und objektive Quellen. Es gibt sogar ganze Sendungen im russischen Fernsehen, in denen offen über Propaganda und ihre Funktionsweise gesprochen wird. Die Menschen in Russland sind sich dieser Funktion zudem größtenteils bewusst und misstrauen den Medien entsprechend. Das unterscheidet sie von den meisten Menschen hier im Westen.
Dass die russische Regierung im Zuge des Tschetschenienkrieges Sprengstoffattentate inszenierte, um ihre Macht ausweiten zu können, kann man sich gut vorstellen. Viele Regierungen nutzen inszenierte Attentate, so wie etwa jede westliche Regierung beziehungsweise ihre Geheimdienste seit 2001 in Deutschland, Frankreich, Spanien und den USA Anschläge durchführten und die Schuld muslimischen Terroristen in die Schuhe schoben. Und dass die russische Regierung jene verfolgen und ermorden lässt, die diesen Umstand aufdecken, wie etwa Alexander Litwinenko und Juri Felschtinski, die das Buch „Blowing Up Russia“ geschrieben haben, ist dann nur naheliegend. Allerdings handelte es sich bei Litwinenko um einen nach Großbritannien übergelaufenen ehemaligen Agenten des Inlandsgeheimdienstes der Russischen Föderation (FSB), dessen Tod von britischen Geheimdiensten Putin und seiner Regierung angelastet wurde. Ohne den Fall näher untersucht zu haben, ist hier vielleicht etwas Skepsis ob dieser Erzählung angebracht. Angesichts der anderen mysteriösen Todesfälle von Menschen, die ebenfalls dem FSB die Schuld gaben, ist es jedoch durchaus denkbar.
Weiter schreibt Stolle, dass Russland die größte Bedrohung für Minderheiten in Europa sei. Dabei bezieht er sich auf eine einzige Studie einer US-amerikanischen Universität. Zudem werden Übergriffe von Zivilisten gegenüber Minderheiten als Beweis für den Rassismus des Staates angeführt, was eine unzulässige Vermischung darstellt. Russland ist ein Vielvölkerstaat und vereint dabei eben viele Ethnien und Gruppen auf einem Staatsgebiet. Dies geschieht in Form von autonomen Gebieten und Republiken, wobei sogar die Gesetzgebung und deren Durchsetzung zu einem großen Teil den Völkern selbst überlassen bleibt.
Die Völker können in Russland ziemlich unbehelligt leben. Auch die Nomadenstämme im Nordosten des Landes werden nicht gezwungen, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben. Sie tun es eher aufgrund der sich um sie herum manifestierenden Industrialisierung und Urbanisierung — ein Punkt, der durchaus zu kritisieren ist. Dass Einzelpersonen rassistisch sein können, überrascht nicht. Doch daraus eine Gefahr für Minderheiten zu konstruieren, noch dazu bei einer relativ überschaubaren Zahl von 97 getöteten Menschen im Jahr 2008 — wobei nicht einmal klar ist, aus welchem Grunde und von wem sie eigentlich getötet wurden —, das erscheint weit hergeholt.
Stolle nutzt auch das vielfach vom Westen gebrauchte Argument, dass die Ukraine sich selbst entscheiden könne, ob sie der EU und der NATO beitreten wolle, und Russland dagegen überhaupt nichts einzuwenden haben dürfe. Er redet zudem das mündliche Versprechen der NATO klein, sich nicht nach Osten auszuweiten, und behauptet, dass dieses Versprechen keine Bindungswirkung habe. Das sind typisch westliche Argumente. Als allerdings der damalige Präsident Viktor Janukowitsch sich dazu entschloss, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen, wurde vom Westen der Euromaidan angezettelt, bei dem es sich um eine westliche Farbrevolution handelte, in welche allein die USA nach Aussagen von Victoria „Fuck the EU“ Nuland 5 Milliarden Dollar investiert haben. Dies diente dem Zweck, das Hindernis Janukowitsch beseitigen, die Ukraine in die Arme des Westens treiben und gegen Russland aufrüsten zu können. Wie war es da um die freie Wahl der Ukraine bestellt? Taktik des Westens ist es, unterlegenen „Partnern“ die Pistole auf die Brust zu setzen und sie dann vor die „Wahl“ zu stellen, ob sie gehorchen wollen oder nicht.
Wie Stolle richtig ausführt, haben russische Offizielle schon seit Jahren erklärt, dass sie eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht tolerieren würden. Den Grund dafür hat der sogenannte Wagner-Aufstand unter Prigoschin im vergangenen Jahr offenbart: Vom Donbass aus ist Moskau binnen eines Tages zu erreichen. Stationierte die NATO dort Mittelstreckenraketen, wäre eine Vorwarnzeit für den Beschuss Moskaus vernachlässigbar.
Trotzdem hat der Westen seinen Kurs, die Ukraine in die NATO zu zwingen und sie zu einem Rammbock gegen Russland umzufunktionieren, weiterverfolgt und jede Warnung, aber auch jedes Verhandlungsangebot Russlands selbst Ende 2021 und Anfang 2022 noch abgelehnt. Es ist keine Überraschung, dass die russische Regierung schließlich keinen anderen Weg mehr sah, vor allem, da die Ukraine ihre Soldaten an der Grenze zum Donbass zusammenzog.
Am Ende bleibt noch die Erzählung von der Entführung ukrainischer Kinder nach Russland. Die russische Regierung hält hier entgegen, dass es sich um eine Evakuierung handele statt um Entführungen. Und das ist etwas, worüber man zumindest mal nachdenken könnte. Zudem tauchten schon zuvor angeblich von Russland entführte Kinder plötzlich in Deutschland auf. Hinzu kommt, dass es Vorwürfe gegenüber westlichen und ukrainischen Politikern gibt, Kinder in der Ukraine zu entführen und mittels Kinderhändler-Netzwerken an Pädophilen-Netzwerke zu verkaufen. Beteiligt sein soll auch die Stiftung von Selenskyjs Frau. Da solche Äußerungen jedoch aus den Reihen einer russischen Menschenrechtsorganisation kommen, kann man dies auch für russische Propaganda halten. Dennoch sollte es der Vollständigkeit halber erwähnt werden, wenn schon die westliche Propaganda gegenüber Russland als Tatsache dargestellt wird.
Natürlich kann man an der russischen Regierung vieles kritisieren. Sie ist, wie jede Regierung und jeder Staat, auf den eigenen Machterhalt und die eigene Machtausweitung bedacht. Dabei setzt sie auch auf Gewalt und rechtswidrige Methoden. Ganz gewiss handelt es sich nicht um Engel, die im Kreml die Entscheidungen treffen, und die ukrainischen, aber auch russischen Bürger werden zwischen den gegensätzlichen Interessen verschiedener Herrschaftszentren zerrieben. Kritik sollte sich aber nicht allein auf Propaganda stützen. Denn dann läuft sie Gefahr, für die Zwecke westlicher Regierungen, die schon lange eine Zerschlagung Russlands anstreben, instrumentalisiert zu werden.