Der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich, Nuit debout und ein neues 68
Worum es in Frankreich gerade wirklich geht, was in den Zeitungen aber nicht zu lesen ist.
Am Sonntag, den 23. April 2017 ist der erste Wahlgang des Präsidentenwahlkampfes in Frankreich. Die Stichwahl, zu der es aller Wahrscheinlichkeit nach kommen wird, ist auf den 7. Mai 2017 datiert. Fünf Kandidaten werden Chancen für die Stichwahl eingeräumt.
Zur Wahl steht die Frontfrau Le Pen des neofaschistischen Front National. Die Light-Version heißt Emmanuel Macron, der „die bürgerliche Utopie einer technokratischen ‚Gouvernementalität’ (Didier Eribon, faz. net vom 18.4.2017) verkörpert.
Für die konservativ-republikanische Partei geht François Fillon ins Rennen.
Im Angebot ist auch der sozialistische Präsidentschaftskandidat Hamon, der sich als Hollande-light vorstellt und der „linksradikale“ und „tiefrote“ (SZ) Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, den alle anderen gemeinsam bekämpfen.
Die Einschätzungen und Prognosen schwanken zwischen „ganz schlimm“ und „gewohnt schlimm“. Alles konzentriert sich auf den Ausgang des ersten Wahlgangs und auf die Frage, wer es in die Stichwahl schafft. Dass es der neofaschistische Partei Front National auf jeden Fall gelingen wird, ist eine mehr als berechtigte Annahme.
Wir wollen den Blick ein wenig weiten, und auf das zurückblicken, was sich jenseits dieses Wahlsettings ereignet hat und darüber hinausweisen könnte.
Seit Ende März 2016 hatten Zehntausende in Frankreich in über 200 Städten öffentliche Plätze besetzt, um gegen den anhaltenden Ausnahmezustand (état d’urgence) und die geplante „Arbeitsmarktreform“ der französischen Regierung, die sich als sozialistisch ausgibt, zu demonstrieren.
Diese Bewegung ging mit massiven Protesten der Gewerkschaften einher, mit Streiks und Blockaden der Lkw-Fahrer, der Angestellten beim staatlichen Bahnkonzern SNCF, mit einem Streik der Piloten der Fluggesellschaft Air France.
Am 12. Mai 2016 hat die französische Regierung unter Hollande die Arbeitsmarktreform verabschiedet, deren Affinität zur deutschen Wirtschaftspolitik nicht zu übersehen ist. Denn was französische Regierungen zum wiederholten Mal durchzusetzen versuchen (zuletzt mit einer ‚Rentenreform’ unter Nicolas Sarcosy), ist in Deutschland sang- und klanglos über die Bühne gegangen: Die Agenda 2010 unter der damaligen rot-grünen Regierung: Ein großes Festival des Kapitals – eine einzige Niederlage der Gewerkschaften und der (außerparlamentarischen) Linken.
Doch nicht alles ist ein verspäteter, nacheilender Kniefall vor den Interessen des Kapitals. In Deutschland fand die ‚Agenda 2010’ eine ausreichende, satte parlamentarische Mehrheit. In Frankreich reicht es nicht einmal dazu. Selbst Mitglieder der Regierungspartei drohten mit einem ‚Nein’. Daraufhin entschied sich die Regierung Hollandes dazu, das Parlament einfach zu entmachten, indem sie das Gesetz per Dekret in Kraft setzte.
Mit diesem Schritt machte sich die Regierung nicht nur zum Butler französischer Unternehmer. Sie liefert der neofaschistischen Partei Front National genau das, was diese zum behaupteten „Systemwechsel“ braucht: einen Beweis mehr, dass der Parlamentarismus eine teure und überflüssige Schaubühne darstellt.
Nuit debout
All das zusammen hatte das Faß zum Überlaufen gebracht und die Bewegung ‚nuit debout’ hervorgebracht – die die Nacht zum Tage machen wollte. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sie sich wie Flugsand über die Grande Nation.
Man verbringt die Nacht nicht im Bett oder vor dem Fernseher, sondern auf der Straße. Man ‚kommuniziert’ nicht über Facebook, sondern direkt, hautnah. Man findet sich nicht ab, sondern unterbricht den Lauf der Dinge. Man wirft das diversifizierte und vereinzelte Private in den öffentlichen Raum, schafft also Raum für ein kollektives Miteinander. Dieses Wagnis findet seit Wochen statt, in großen und kleinen Städten Frankreichs, mit dem Ziel, auf unterschiedlichen Wegen die politischen und sozialen „gate communities“ zu verlassen: Ob SchülerInnen oder StudentInnen, ob Junge oder Alte, GewerkschaftlerInnen oder RentnerInnnen, AnarchistInnen oder KommunistInnen.
Am 14. Juni 2016 fand eine internationale Demonstration in Paris statt, zu der Gewerkschaften und die Bewegung ‚nuit debout’ (wache Nacht) aufrufen hatten, unter dem gemeinsamen Motto: Rücknahme des Ausnahmezustandes und der Arbeitsmarktreform.
Contre la loi Travail et son monde – Gegen das Arbeitsmarktgesetz und seine Welt
Nach Gewerkschaftsangaben hatte der Aufruf eine Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Paris (und 1,3 Millionen frankreichweit mit zusätzlichen Demonstrationen in Marseille und anderswo) auf die Straße getrieben. Nach Polizeiangaben, denen die Medien mutig und unabhängig folgten, waren es "70.000 bis 80.000" Teilnehmer in der Hauptstadt, und 125.000 landesweit.
All das fand mitten im Ausnahmezustand statt:
„Ein paar Zahlen, die das Ausmaß der allgemein verordneten Paranoia veranschaulichen: 42.000 ‚normale’ Uniformierte, 25.000 Polizisten der Öffentlichen Sicherheit, 10.000 Kollegen aus den Präfekturen, 5.000 Grenzpolizisten, 2.000 CRS – Spezialeinheit ‚Compagnies Républicaines de Sécurité’, 3.000 Gendarmen, an die 6.000 private Sicherheitsleute, 10.000 Soldaten. Bis zu 50 mobile Einheiten, die täglich Städte, Stadien und – wenn es sein muss – auch gute Stuben durchforsten sollen.“ (Hansgeorg Hermann, junge Welt vom 9.6.2016)
Der Ausnahme- wird zum Regelzustand
Noch am 14.6.2016 erklärte der französische Präsident François Hollande, dass eine Verlängerung des Ausnahmezustandes nicht in Frage käme. Sonst wäre Frankreich keine Republik mehr. Nun ist Frankreich keine Republik mehr. Ein Lastwagen, der am Nationalfeiertag in Nizza in die Menge fuhr und Dutzende von Menschen getötet hatte, hat diese weise Erkenntnis über den Haufen geworfen.
Dass nicht einmal der Ausnahmezustand einen Lastwagen aufhalten, einen solchen Anschlag verhindern kann, hat der Anschlag gezeigt.
„Nizza gehört zudem zu den französischen Städten mit überdurchschnittlich viel Sicherheitskameras: Pro Quadratkilometer hängen durchschnittlich 15 Überwachungskameras.“(tagesanzeiger)
„Amnesty berichtet von nächtlichen Durchsuchungen, die Betroffene stigmatisiert und traumatisiert hätten. Einige der 60 befragten Personen sollen nach Durchsuchungen ihren Job verloren haben. Laut Amnesty gab es seit den Anschlägen mehr als 3000 Hausdurchsuchungen und mehr als 400 Hausarreste.“ (SZ vom 4.2.2016)
Was man mit dem (Dauer-)„Notstand“ alles machen kann, hat die Wochenzeitung „ZEIT“ ausgeführt:
„Der Notstand ist in Frankreich in Gesetz Nummer 55-385 vom 3. April 1955 geregelt, das zu Beginn des Algerienkriegs verabschiedet wurde. Es erhöht kurzfristig die Befugnisse der Präfekten der Departements, des Innenministers, der Justizministerin, des Verteidigungsministers und ausführender Behörden. Sie dürfen:
• Ausgangssperren für bestimmte Orte und bestimmte Uhrzeiten verhängen.
• Aufenthaltsverbote für bestimmte Personen in bestimmten Gebieten aussprechen.
• Demonstrations- und Versammlungsverbote erlassen.
• Theater, Bars und Cafés oder sonstige Versammlungsorte vorübergehend schließen.
• Personen, die verdächtigt werden, etwas zu tun, das die allgemeine Sicherheit gefährdet, unter Hausarrest stellen.
• Die Regierung kann anordnen, Waffen der Kategorien 1,4 und 5 zurückzugeben.
• Häuser und Wohnungen dürfen zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne richterlichen Beschluss durchsucht werden.
• Die Presse und andere Veröffentlichungsorgane dürfen kontrolliert und überwacht werden. Davon betroffen sind auch Kinovorführungen und Theaterstücke.
• Militärgerichte dürfen einberufen werden.“ (zeit.de vom 16.11.2015)
Ein neuer Geist von 68
Der Soziologe Didier Eribon hat einen bemerkenswerten Beitrag zur anstehenden Wahl in seinem Land geschrieben. Hilfreich und diskussionsstiftend, weil er den „institutionellen“ Weg der Wahlbeobachtung verläßt und nicht dazu aufruft, Le Pen zu verhindern, indem man ihre Theoreme als Light-Version übernimmt.
Hier ein paar Passagen, die seine sechs Thesen zusammenfassen:
Im ersten Kapitel beschreibt er die erfolgreiche „konservative Revolution“ in Frankreich der 80er und 90er Jahre, die den Klassenkampf für überholt erklärte, genauso wie das Rechts-Links-Denken: „Als ihren Feind machten diese Diskurse nicht nur den Marxismus aus, sondern all die Referenzen, die bis dahin das linke Denken bestimmt hatten, die Existenz sozialer Klassen, der soziale Determinismus, die antagonistische Struktur der Gesellschaft. Indem man die Unterteilung in links und rechts aufhob, wollte man die politische Entscheidungsfindung ganz und gar den Experten überlassen und die Herrschaft der Finanzmärkte als das einzige unverhandelbare Prinzip durchsetzen. Konsequenz dieser Entwicklung war, dass die Linke ihren traditionellen Referenzrahmen aufgab und den der Rechten übernahm.“
Im vierten Kapitel geht er auf die geradezu groteske Gegenüberstellung von Le Pen und Macron ein: „Sie führen eine Koexistenz, sie bilden die beiden Pole desselben Systems. Die Art der Politik, wie Macron sie geradezu karikaturistisch verkörpert, bringt den Front National nach oben. Heute appelliert man an uns, Macron zu wählen, um damit ein Phänomen einzudämmen, für das Leute wie er doch maßgeblich verantwortlich sind! Wenn Macron im Mai zum Präsidenten gewählt wird, dann bekommt Le Pen beim ersten Wahlgang in fünf Jahren wahrscheinlich über 40 Prozent. Dynamisch gesehen wählt man also mit Macron schon heute Le Pen.“
In seinem fünften Kapitel beschreibt Didier Eribon die Falle, in der nicht nur die Wählerinnen und Wähler in Frankreich sitzen: „2012 haben wir Hollande gegen die Rechten gewählt und damit die Rechtsextremen gestärkt. Wählen wir heute Macron gegen Le Pen, stärken wir sie weiter.“
In seinem letzten Kapitel macht er uns Hoffnung, die Falle nicht nur rechtzeitig zu erkennen, sondern einen neuen Weg einzuschlagen: „Die Formen der Herrschaft sind vielfältig, und deshalb müssen es die Formen des Widerstandes auch sein. Die Politik besteht immer aus Ungleichzeitigkeiten und heterogenen Entwicklungen. Wer die Zeitlichkeit der Politik vereinheitlichen will, schränkt das Feld der Mobilisationen ein und zensiert die dort sich äußernden Stimmen.
Man muss nur an den Mai 1968 in Frankreich zurückdenken: zehn Millionen streikende Arbeiter, eine starke feministische Bewegung, der Kampf der Einwanderer, die Kritik am Justiz- und Gefängnissystem und so weiter. All diese Dinge zusammen sind die Linke. Die Präsidentschaftswahl führt uns vor Augen, in welcher Krise sich das linke Denken befindet. Nur wenn wir uns den Geist von ’68 wieder zu eigen machen, können wir es erneuern.“ (Didier Eribon, faz.net vom 18.4.2017)
Diese Denkanstöße können wir ohne große Mühe auch auf die Zustände in Deutschland übertragen und fruchtbar machen.
Bernard Schmid, Autor und Rechtsanwalt in Paris wird für uns über die Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich berichten.
Weiterlesen:
Wolf Wetzel: Aufstand in den Städten. Krise, Proteste, Strategien, Unrast Verlag 2012
Wolf Wetzel: Ausnahmezustand in Frankreich