Der Phantom-Hass
In der Debatte um „Hate Speech“ wird ein eher schwammig definiertes Gefühl benutzt, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Der Begriff Hassrede („Hate Speech“) wird gegenwärtig vielfach benutzt. Er wird als Begründung für politische Maßnahmen ins Feld geführt — und wurde auch im amerikanischen Wahlkampf Teil des Diskurses. Die Frage ist jedoch, was der Begriff tatsächlich beschreibt, wie tragfähig er ist und wie man ihn einordnen kann. Dieser Frage versucht der nachfolgende Beitrag nachzugehen.
Ein paar Vorbemerkungen zur aktuellen Hate-Speech-Debatte
Im Zuge des US-Wahlkampfes sprachen sich Vertreter der demokratischen Seite offen für eine Einschränkung des ersten Verfassungszusatzes aus (1, 2, 3), welcher allen Amerikanern das Recht auf freie Meinungsäußerung gewähren soll. Ob dieser Grundsatz tatsächlich kontinuierlich im Lauf der amerikanischen Geschichte realisiert wurde, darf gewiss in Frage gestellt werden. Dass nun aber auf amerikanischem Boden offen und hörbar über eine so eine Einschränkung nachgedacht wird, erscheint hingegen als neues Phänomen. Gestützt wird diese Argumentation auf die Notwendigkeit der Bekämpfung sogenannter Hassrede — Hate Speech im englischen Sprachgebrauch.
Auch Menschen ohne sprachwissenschaftliche Ausbildung könnten hier schnell zu dem Eindruck kommen, dass es sich eher um eine reine Wort-Konstruktion handeln könnte als um einen tatsächlich neuen Phänomenbereich.
Einerseits ist das Phänomen der Diffamierung bestimmter Menschen oder Menschengruppen etwas, das sich in der Menschheitsgeschichte genauso regelmäßig findet wie die Verbreitung von falschen Informationen. Dies führt bereits zu der Frage, ob der Begriff überhaupt irgendetwas Neues beschreibt.
Weiter führt auch das Nachdenken über gesellschaftlich (eventuell) notwendige Grenzen der Redefreiheit vielleicht zu dem Ergebnis, dass man zwar verschiedener Meinung sein kann, ob derartige Grenzen notwendig sind. Auch könnte es verschiedene Vorstellungen bezüglich der erforderlichen Art und des Umfanges solcher Grenzziehungen geben. Hiervon unbenommen bleibt aber die Feststellung, dass alle Länder der westlichen Welt hier gesetzliche Grenzen eingezogen haben, wenn es um Handlungen wie Beleidigung, Nötigung, üble Nachrede und so weiter geht.
Zu der begrifflichen Aufladung des Terminus trug beispielweise auch die ambitionierte Debatte der Vize-Präsidentschaftskandidaten des vergangenen US-Wahlkampfes bei. Auch hier versuchte Tim Waltz ausgehend von der Problematik sogenannter Falsch-Informationen den Begriff der Hassrede ins Spiel zu bringen, während sein Opponent JD Vance versuchte, sich als Verfechter der freien Rede zu präsentieren (4, 5). John Kerry von der demokratischen Partei hatte bereits im Vorfeld vorgetragen, dass es einer Einschränkung des ersten Verfassungszusatzes bedürfe — nicht zuletzt beim World Economic Forum (WEF) in Davos (6).
Auch auf deutschem und europäischem Boden ist die Thematik der Hassrede aktuell gegenwärtig. Sie bildet bekanntermaßen einen der Aspekte der Voranbringung des Digital Service Acts (7).
Es muss also die Frage gestellt werden, was Hassrede ist und wodurch sie sich auszeichnet.
Was ist Hassrede?
Interessanterweise erklärt uns die englische Wikipedia, dass es in den Vereinigten Staaten kaum möglich sei, Hate Speech wirksam einzugrenzen, weil dieses durch den Verfassungsgrundsatz der freien Rede verhindert werde (8). Zugleich interessant ist nun, dass dieselbe Wikipedia erklärt, dass es bisweilen keine einheitliche begriffliche Definition des Phänomens Hate Speech gebe (9).
Da die Aussagekraft und inhaltliche Tragfähigkeit der Wikipedia nunmehr natürlich in Frage gestellt werden darf, liegt es nahe, einen Blick auf Meinung der „Experten“ zum Thema Hass im Netz und Verschwörungserzählungen zu werfen. Die Amadeu Antonio Stiftung bietet hierzu etwa in ihrem Informations-Flyer #Kein Netz für Hass die nachfolgende Definition (10) an:
„Hate Speech (Hassrede oder Hassposting) beschreibt im Allgemeinen Äußerungen, mit denen Menschen beleidigt, abgewertet, bedroht oder angegriffen werden. Es handelt sich hierbei oft um vorurteilsgeleitete Sprache oder Abbildungen in Verbindung mit menschenfeindlichen oder diskriminierenden Gruppenzuschreibungen. Hate Speech kann sich gegen Einzelpersonen oder gesellschaftliche Gruppen (bspw. Frauen, geflüchtete Menschen, Jüd:innen, Politiker:innen) richten und sowohl strafbare als auch nicht strafbare Äußerungen umfassen.“
Wie ersichtlich, wird hier der Umstand gewürdigt, dass ein Teil der relevanten Inhalte, die in die geschaffene Kategorisierung fallen, ohnehin strafbewährt ist. Sogleich wird darauf hingewiesen, dass dieses nicht für das vollständige Spektrum der sogenannten Hassrede gilt. Versucht man sich die vorgenommene Definition nun genauer zu vergegenwärtigen, so fällt — gegebenenfalls nach mehrfachem Lesen — auf, wie weit das Spektrum reicht, welches hier von der Amadeu Antonio Stiftung eingeschlossen wird.
Genau genommen ließen sich alle möglichen verbalen Angriffe, abfälligen Bemerkungen oder auch jedes Vorurteil unter Zuhilfenahme dieser Definition als Hassrede einstufen. Man darf sich fragen, ob dieses gewollt sein kann.
Wer möchte, darf sich auch fragen, ob und wieweit es möglich wäre, eine ernsthafte Diskussion über die Diskriminierung gesellschaftlich benachteiligter Gruppen zu führen, wenn das Phänomen der Diskriminierung anhand einer derart offenen Definition mit vagen inhaltlichen Trennlinien beschrieben wird. Letztendlich darf attestiert werden, dass derartige Definitionen höchstens geeignet sind, den Begriff der sogenannten Hassrede zu inflationieren — kaum aber, um eine inhaltliche Diskussion zu führen.
Es sollte ergänzt werden, dass uns dieselbe Amadeu Antonio Stiftung bereits in einer Veröffentlichung von 2017 darauf hinwies, dass der Begriff Hassrede ein politischer, aber kein sprachwissenschaftlicher Begriff (11) sei.
Um eine weitere „Expertenmeinung“ heranzuziehen, sei weiter auf die Definition des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Kompetenznetzwerkes „Hass im Netz“ verwiesen:
„Als Hassrede bezeichnen wir sprachliche Handlungen oder Handlungen in Bildform (z.B. Memes) gegen Einzelpersonen und/oder Gruppen mit dem Ziel der Verletzung, Abwertung, Einschüchterung oder Bedrohung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe in der Gesellschaft. Die Person oder Gruppe muss dafür rein zahlenmäßig nicht in der Minderheit sein.
Beispiele für Hassrede sind Sexismus, (antimuslimischer) Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Neonazismus, aggressiver Nationalismus, Ethnozentrismus, Klassismus, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung), Ageismus (Alter), Homo- und Transfeindlichkeit, Diskriminierung aufgrund der Religionszugehörigkeit.
Was Hassrede ist, entscheiden zudem nicht die Hater:innen selbst (…), sondern die Angesprochenen. Auch wenn die Betroffenen sich nicht zu Wort melden, können sich natürlich Dritte einschalten, um Hate Speech zu benennen und auf sie zu reagieren“ (12).
Die Schnittmenge zur vorgenannten Definition der Amadeu Antonio Stiftung wird unmittelbar offensichtlich. Beiläufig darf festgestellt werden, dass Politiker hier nicht als Adressaten der Hassrede angeführt werden. Wichtiger ist hingegen, dass auch hier Phänomene genannt werden, die bereits je nach Stoßrichtung und Ausdrucksform des Beitrags ohnehin strafbewährt sein können. Gleichfalls wichtig ist, dass das Netzwerk davon ausgeht, dass der Umstand, ob Hassrede vorliegt (laut dieser Definition), über den Empfänger zu definieren ist. Damit gilt auch für diese Definition, dass sie in ihrer Reichweite kaum eingegrenzt ist. Anders formuliert heißt das: Sie macht es möglich, ein sehr großes Spektrum an Inhalten als Hassrede zu definieren.
In der Gesamtschau lassen sich nun folgende Schlussfolgerungen ableiten:
- Das Phänomen Hassrede oder Hate Speech ist alles andere als neu.
- Klare begriffliche Definitionen sind — je nach Quelle — entweder nicht vorzunehmen oder sie sind inhaltlich derart dehnbar und flexibel, dass eine inhaltliche Grenzziehung kaum mehr möglich scheint.
Somit läge eigentlich die Schlussfolgerung nahe, dass der Begriff kaum geeignet scheint, eine tatsächliche Gegebenheit zu beschreiben.
Jedoch ist ersichtlich, dass der Begriff Hassrede im deutschen medialen Diskurs seit Jahren vorhanden ist. Gleichfalls ist er in den Vereinigten Staaten — wie eingangs genannt — Gegenstand einer Argumentation, mit der Verfassungsänderungen erzielt werden sollen.
Der kritische Leser mag sich fragen, ob es im Ernst erfolgsversprechend — geschweige denn berechtigt — sein kann, schwerwiegende politische Maßnahmen allein durch eine vermeintliche Häufung von Bedrohungen, Beleidigungen und Beschimpfungen erklären zu wollen.
Ein anderer Blickwinkel der Einordnung
Professor Rainer Mausfeld weist uns darauf hin, dass Propaganda vielfach von dem Phänomen eines — wie er es trefflich bezeichnet — „Wort-Aberglaubens“ profitiert. Dieser führt dazu, dass der Einführung neuer Begriffe in den gesellschaftlichen Diskurs automatisch die Annahme des Publikums folge, dass diesen Begriffen auch ein manifester Inhalt zugrunde liege (13).
Gleichfalls wies Edward Bernays schon in seinem Standardwerk „Propaganda“ von 1928 darauf hin, wie gezielte begriffliche Zuschreibungen maßgeblich Assoziation und damit das Denken, Fühlen und Handeln von Menschengruppen prägen können (14).
Folgt man dem Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage und seinem Lexikon der politischen Kampfbegriffe „Die Sprache der BRD“ (15), so wäre es denkbar, dass nicht einmal die Begriffswahl des besagten Terminus eine zufällige Schöpfung wäre. Laut Kleine-Hartlage ist der Begriff von sogenanntem „Hass“ eine Zuschreibung, die insbesondere dann erfolgt, wenn es darum geht, einen Inhalt beziehungsweise einen Diskussionsteilnehmer von vornherein zu diskreditieren; den Hinweis, dass es selbstverständlich echten Hass gibt, stellt Kleine-Hartlage sehr wohl in Rechnung. Der Hass-Begriff diene an dieser Stelle dazu, der Gegenseite ein moralisches Defizit zu unterstellen. Dieses mache es möglich, die inhaltliche Würdigung der Argumente und somit auch die inhaltliche Debatte zu vermeiden. Die Zuschreibung von sogenanntem Hass als tragendes Motiv der Gegenseite werde somit Rechtfertigung und Schutzmechanismus politischer Akteure.
Zieht man die letztgenannten Punkte in Betracht, so lässt sich vermeintlich der Schlüsselstein für den Begriff der Hassrede und seine mediale Inflationierung finden. Die Genese eines neuen Begriffes, der ein — dem Augenschein nach — neues soziales Phänomen darstellt und hiermit neue Gefahren suggeriert, könnte politische Veränderungen möglich machen, die zuvor unmöglich waren — einschließlich der manifesten Einschränkung von Freiheitsrechten. So wird auch erklärbar, dass das Hate-Speech-Gespenst zur Halloweenzeit durch den US-Wahlkampf getrieben wurde. Die Anbahnung deutscher Meldestellen für Hassrede im Netz lässt hier eine ähnliche Stoßrichtung vermuten.
Der Begriff Hate Speech macht scheinbar möglich, was zuvor noch unmöglich war. Somit liegt leider nahe, dass der Begriff weniger von seiner Bedeutung als vielmehr von seiner Intention her verstanden werden muss.