Der Pastor und das schwere Amt
Die Doppelmoral der Kirchen ist kaum mehr zu vermitteln.
Immer vor den großen Kriegen und erst recht vor der Endlösung geht es hoch zu und her. Die Überlegenheit der Waffen verschränkt sich mit der Überlegenheit der Moral. Das wusste man auch damals. Bevor man Polen überfiel. Oder Hiroshima einer atomaren Operation unterzog. Das weiß man bei der Verhaftung eines jeden Feindes, den man in Fußfesseln legt oder an den Pranger stellt. Wie aber ergibt sich diese moralische Überlegenheit? Wo entsteht sie? Und wie geht das zusammen mit Drohnentoten und Kopfabschneidern? Ein Beispiel aus der westchristlichen Wertepraxis.
Aus der Reihe ‚Gute-Nacht-Geschichten‘ von Teer Sandmann.
Was ist das, ein schweres Amt? Ist es etwas, das ständig zu Boden fällt, weil es so schwer ist? Etwas, das drückt und lastet? Auf wem? Auf dem, der es hat? Auf denen rundherum?
Liebe Kinder, ich erzähle euch eine Geschichte und die geht so: Da war ein Anschlag oder etwas Ähnliches auf eine Fußballmannschaft. Die Umstände im Detail habe ich vergessen. Jedenfalls waren da Fußballer drin in einem Bus und die wollten einfach nur Fußball spielen. Und es war dieser Anschlag andererseits, der das verhindern wollte. Getötet wurde keiner. Aber der Schock saß tief. Das Spiel wurde um einen Tag verschoben. Und das gab Anlass zur Kritik. So viel zur Ausgangslage.
Ich saß dann am Sonntag in einer Predigt in einer lutherischen Kirche und da nahm sich der Pastor des Themas an, obgleich Fußball in der Bibel ja nicht vorkommt. Aber wie ihr vielleicht wisst, möchten die Kirchen, vor allem die reformierten und evangelischen und lutherischen, immer ganz aktuell sein, damit nicht noch mehr Menschen austreten. Der Pastor nahm also das Thema auf und sagte, was das für ein Schock gewesen sein müsse für diese jungen Menschen. Und er sagte: Auch wenn das größtenteils Millionäre seien, diese Fußballer, so hätte man erwarten dürfen, dass der Fußballverband denen doch mehr als bloß einen Tag Zeit gegeben hätte, um diesen Anschlag zu verkraften. Und er schloss und sagte, in unserer Zeit sei einfach keine Zeit mehr für Trauer und Besinnung und Stille.
Nun, ich bin kein Freund von plumpen Bezügen auf Aktuelles, liebe Kinder, wie ihr ja auch an diesen Gute-Nacht-Geschichten erkennen könnt, aber gleichwohl hat mich diese Predigt ergriffen – er hat eine wunderbare Stimme, dieser Pastor, das muss ich vielleicht ergänzen – und ich fand in echt, der Pastor hätte auf ein fundamentales Daseinsproblem aufmerksam gemacht. Das bewog mich, ihm eine Mail zu schreiben, einerseits für die Rede dankend, andererseits den Gedankengang etwas ausweitend, den er, aus meiner Sicht, zu früh abgebrochen hatte.
Und so gab ich zu bedenken, ob nicht zuletzt der Fußball selbst wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaft sei, die Besinnung und Stille verdrängt habe, und ob nicht zuletzt der Fußball die Erkenntnis mit verhindere, dass Gewalt und Terror vielleicht nicht so ganz aus dem Nichts, sondern womöglich ebenso aus Anschlägen hervorgingen, die beispielsweise in Pakistan halbe Dorfgemeinschaften ausgelöscht hätten.
Diese Anschläge, wie er bestimmt wisse, würden unter anderem von Deutschland aus gesteuert. Ich würde es begrüßen, so schrieb ich abschließend, wenn er das Bewusstsein für diese Verstrickungen bei einer nächsten Predigt über Anschläge, Zeit und Besinnung ebenso in die Kirche hineintrüge.
Der Pastor bedankte sich mit ein paar allgemeinen Worten, dem Sinne nach, ja, es wäre noch viel zu tun. Das wiederum, liebe Kinder, ärgerte mich insgeheim und ich beschloss, konkret zu werden, stand doch gerade der sogenannte reformierte Kirchentag an, auf dem der soeben abgetretene Präsident der freien Welt, der mit dem schönen Gesicht und dem Nobelpreis für Frieden, für viel Geld, seine Weltumseglung mit einer Yacht unterbrechend, eine kleine Rede halten sollte. Und also schrieb ich diesem Pastor, den ich als Person schätzte, eine weitere Mail. Darin fragte ich, wie es käme, dass als Redner für den demnächst stattfindenden Kirchentag just der eingeladen worden sei, der die Anschläge auf Dörfer in Pakistan angeordnet hätte. Das schöne Gesicht allein könne das wohl kaum erklären.
Das nun war zu anschaulich, als dass es mit Allgemeinheiten zu glätten gewesen wäre. Der Pastor bedankte sich denn tatsächlich für die Deutlichkeit meiner Worte und ergänzte: Dass man das so anschauen könne, das sei für ihn neu und darüber müsse er nachdenken. Gleichwohl, es sei eine große Sache, dass man den Nobelpreisträger und Weltumsegler als Redner habe gewinnen können. So schloss er.
Nun wusste ich bestimmt, dass der Pastor Anschläge auf Busse voller Fußballmillionäre mit einem leicht Verletzten als Resultat in die Predigt einbauen würde und die gleichzeitig mittels Drohnen ausgeführten Anschläge auf Dörfer in Balutschistan ohne Millionäre und mit der stets unabsichtlichen Vernichtung der Hälfte der Bevölkerung dort eben nicht. Und weiter wusste ich, dass mein Schreiben daran nichts ändert. Und so war es im Grunde Trotzerei, liebe Kinder, was mich zu einer letzten Mail trieb.
Ich wäre nicht sicher, ob Jesus, auf den sich die Kirche beim Aufbau ihrer Moral ja ab und an berufe, Freude an diesem Redner gehabt hätte. Einem Redner, der nicht nur ganze Dörfer auslösche, sondern beispielsweise beim jemenitischen Präsidenten durchrufe, um diesen anzuweisen, einen Journalisten im Gefängnis zu behalten, der über ein Massaker von US-Truppen in einem Dorf in den Bergen dort berichtet hatte.
Die jemenitische Regierung, liebe Kinder, wollte den nämlich wieder freilassen, weil sie einsehen musste, dass er nicht gelogen hatte – und dann meldete sich eben der Friedensnobelpreisträger, damit weiterhin die Massaker der Bösen im Bewusstsein verbleiben, von Srebrenica bis Aleppo, und dass diese Massaker der Bösen im Bewusstsein der Guten nicht von Massakern wie jenen in Jemen, begangen von Guten auf Geheiß des Guten, gestört würden. Der Pastor, das erstaunte mich, schrieb seinerseits ein letztes Mal zurück. Darin stand: Ja, er hätte ein schweres Amt, dieser Obama.
Schwere Ämter, liebe Kinder, gibt es viele. Auch Hitler hatte ein schweres Amt. Und das fand auch die Kirche damals und schmiegte sich eng an den Amtsträger. Denn so ist es mit der Schwere: Je näher man ist, desto leichter wird sie, drückt sie in der Regel doch nach unten weg. So bekommt weniger ab vom Druck, wer seitlich sich anschmiegt. Zugleich mit dem Amtsträger auf die Bühne steigen und sich dort ihm um den Hals werfen: Das kann also unter diesem Gesichtspunkt bestimmt so falsch nicht sein, liebe Kinder. Natürlich, im Nachhinein, wenn sich Wertungen gedreht haben, ist man froh, es sind einzelne gewesen, die von unten gegen die Schwere angekämpft haben, als alle sich schmiegten. Froh um die Bonhoeffers. Im Augenblick indes, da die Wertschätzung gegeben ist, vermögen ein paar Massaker kaum davon abhalten, sich Führern seitlich anzudienen. Deren Ämter sind einfach zu schwer dafür.
Nun, Kinder, muss man das Ganze auch in größeren Dimensionen sehen. Die Affinität zu Massaker und Gemetzel und gleichzeitig die Botschaft der Liebe im Kerzenlicht zur Adventszeit: Irgendwie gehört das zusammen.
Die Kirche selbst nämlich hat ein schweres Amt. Muss man so sagen. Denkt an den großen Geist Luther. Ein feinsinniger Denker, wahrlich. Und dann steht er plötzlich dafür ein, die Bauern abzuschlachten. Nicht dass ich behaupten würde, er hätte sich dabei gestreichelt, liebe Kinder. Gestreichelt bei diesem Abschlachten der Bauern. Wäre ja auch technisch schwierig gewesen, gab es doch noch keine Übertragung wie heute, wo der Club in Washington am Bildschirm verfolgen kann, wie man ein Rohr in den Körper des ungehorsamen Zeltfürsten rammt. Weitab in der Wüste.
Doch Zerschmeißen, Würgen und Stechen muss sein. Wenn sie allzu heftig aufbegehren, muss das sein. Ob mit oder ohne Begehren. Jesus dagegen – so behaupte ich einfach mal trotzig, Kinder – war gegen Würgen und Stechen. Und er hat keine Ämter angenommen. Auch keine schweren. Und angeschmiegt hat er sich nie. Und den Nobelpreis hätte er abgelehnt. Wie einst Sartre. Ziemlich sicher.
Liebe Kinder, ich will nicht leugnen, dass ich mit der Moral der Kirchen, insbesondere aber derjenigen der reformierten Kirche nicht so recht klarkomme. Nicht nur der Pastor mit dem Anschlag auf den Fußballbus in seiner Predigt, auch kein anderer hätte in all den Jahren seinen christlichen Brüdern und Schwestern in Syrien beigestanden. Man hörte kein Wort. Weder in Predigten noch in reformierten Mitteilungsblättern. Kein Wort, als diese Brüder und Schwestern von bärtigen Kopfabschneidern an Leib und Leben bedroht waren.
Vielmehr wurden die Kopfabschneider von Vertretern des Moral- und Wertebundes als Freiheitskämpfer gepriesen und mit Waffen und Menschenrechtspreisen überhäuft. Denkt nur an die weißen Helme. Bundespräsidenten und Kanzlerinnen und Außenminister haben geschmust mit ihnen und Feste zu Brüssel und Berlin gefeiert, während sie nicht nur den Christen, sondern auch allen anderen in Syrien den Kopf vom Rumpf trennten. Pater Daniel Maes aus Damaskus zum Beispiel und der Erzbischof von Aleppo, Denys Antoine Chahda, könnten viele Lieder singen. Aber die Lieder, die hier in den Kirchen zu hören waren, gingen anders. Und man unterstützte die Kanzlerin und Pastorentochter, die mit ihren Sanktionen die Menschen dort und also auch die Christen dort noch über das Leid des Krieges hinaus an den Rand und über fehlende Medikamente schlussendlich in den Tod stieß. Das ist christliche Nächstenliebe, Kinder. Man bevorteilt die eigenen nicht und liefert sie mit dem Messer aus. Zumal ganz am Ende, die richtige Agentur vorausgesetzt, das größere Massaker alles reinwäscht.
Nun ja, ich will da gar nicht auf Sarkasmus machen, Kinder, denn die Bigotterie schlägt mir dermaßen auf den Magen, dass ich Kirchen nicht meide, nein, aber bloß noch aufsuche, wenn keine Personen mit schweren Ämtern darin vorzufinden sind. Wenn ich also allein bin. Allein mit Kerzen und meinem Jesus, der niemals auf Bühnen aufgetreten ist. Schon gar nicht gegen Gage.
Nun, da gibt es relativ neuerdings eine Schauspieltruppe, wie ihr wisst. Die wilden Rechten, angeschrieben als Alternative. Die sehen zwar so wild nicht aus, eher wie Kundenberater oder CEOs aus Marketingbetrieben. Einige auch wie ZDF-Moderatorinnen und eine sogar wie eine Staatsanwältin. Immerhin, sie sei lesbisch, wird gesagt. Und diese eine wilde Rechte, die aussieht wie eine Staatsanwältin, sagte in einem Interview, es gebe keine christlichen Parteien mehr, mal abgesehen von ihrer wilden Gruppe. Und sie sagte weiter, dass genau diese wilde Gruppe aus Sicht der Kirchenoberen keine christliche Partei sei, könne sie, vom Verständnishintergrund dieser Oberen aus, nachvollziehen. Das ändere aber nichts daran, dass ihre Gruppe die einzige christliche Partei sei, da die Kirchen, deren Oberen das Urteil über ihre Schauspieltruppe gesprochen hätten, längst keine christlichen Kirchen und die Oberen also auch keine christlichen Oberen mehr seien.
Ich aber sage euch, Kinder: Hier die Kirche, die mit Führern auf Bühnen schmust – dort die wilde, lesbische und wie eine Staatsanwältin aussehende Rechte, von den die eigenen Brüder und Schwestern in Syrien aus lauter Nächstenliebe massakrierenden Kirchenfürsten als unchristlich verschmäht. Wenn man das so sieht, liebe Kinder, sieht, wie die Dinge beieinander und gegeneinander liegen, löst sich manches auf und vieles wird unklar. Vielleicht aber – und soll nicht zuletzt die Hoffnung sterben? – vielleicht ist das eine der Verschränkungen, aus der heraus die neue Moral zu erfinden wär. Abseits von schweren Ämtern.
**Redaktionelle Anmerkung: Von Teer Sandmann erschien im März 2018 „Golo spaziert. Das Land der sicheren Freihheit“ — ein politisch-poetisches Buch über Deutschlands letzten Spaziergänger, das Ende der Freiheit, einen strafenden Gott, beobachtet vom Verfassungschutz, und etwas Twin Peaks. Die NZZ am Sonntag spricht von einem „faszinierenden Erstling“ und folgert: „Für den Leser, die Leserin ist bereits dieses Werk ein Gewinn.“