Der Parteienprüfstand

Was bleibt übrig, wenn die Parteien-Wahlprogramme zur Bundestagswahl mit der Realität abgeglichen werden? Teil 2/6 — Bündnis 90/Die Grünen.

„Was interessiert mich mein Versprechen von gestern?“ Alle Gewalt geht vom Volke aus — um dann nie mehr zu ihm zurückzukehren. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, die politischen Parteien machten mit der Stimme, die sie ihnen „gegeben“ hatten, ohnehin, was sie wollen. Ein allgemeines Parteien-Bashing reicht allerdings nicht aus, wenn Wahlen anstehen, bei denen allen Wählenden eine gewisse Verantwortung zukommt. Wen sollte man jetzt ganz konkret wählen? Dafür ist ein Vergleich zwischen den Wahlversprechen „vorher“ und dem tatsächlichen Verhalten der Akteure „nachher“ hilfreich. Der Verein DEMOCRACY Deutschland e.V. hat mit seiner „Democracy App“ ein Tool geschaffen, das die Überprüfung erleichtert. Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen zur Bundestagswahl 2021. Er stellt eine Recherche dar, inwieweit die Versprechen des Wahlprogramms von dem tatsächlichen Abstimmungsverhalten der Partei im Bundestag während der endenden Legislaturperiode von 2017 bis 2021 gedeckt sind.

Parteien werben in ihren Programmen mit zahlreichen Wahlversprechen. Als Wähler geht man davon aus, dass ihr tatsächliches Handeln in der Vergangenheit diese Forderungen unterstreicht. Oft ist das auch der Fall, die Grünen zum Beispiel fordern in ihrem Wahlprogramm ein bundeseinheitliches Gesamtkonzept zur Gewährleistung einer Mietobergrenze (Grünen-Wahlprogramm 2021, Seite 131) und stimmte im Dezember 2019 einem Antrag der Linken zur Deckelung von Bestandsmieten zu

Die Entstehungsgeschichte der App hat allerdings gezeigt, dass das nicht immer so sein muss. 

Wir haben uns für die anstehende Bundestagswahl deshalb dazu entschlossen, einfach mal zu überprüfen, inwieweit die Wahlprogramme der Parteien mit ihrem tatsächlichen Handeln übereinstimmen — so auch für die Grünen.

Die Grünen haben ihr Wahlprogramm Mitte Juni veröffentlicht. Unter dem Namen „Deutschland. Alles ist drin.” formuliert die Partei auf stolzen 272 Seiten ihre Ziele und Vorstellungen für die kommenden vier Jahre. Im Wahlkampf soll die einzige Frau im diesjährigen Rennen um die KanzlerInnenschaft, Annalena Baerbock, die Partei anführen.  Nach langem Ringen mit dem Co-Vorsitzenden Robert Habeck entschied sich der Bundesvorstand im April 2021 für Baerbock als Kandidatin, die seitdem eine prominente Rolle in der täglichen Berichterstattung einnimmt.

Als Tool für die retrospektive Kontrolle haben wir die Democracy App benutzt.

Mithilfe unserer App sind wir auf einige Widersprüche zwischen den Wahlversprechen und dem Abstimmungsverhalten der Grünen gestoßen.

Die gravierendsten Unterschiede zu den wichtigsten Themenbereichen haben wir euch in einer Top 5 zusammengestellt, eine vollständige Auflistung aller weiteren uns bekannten Differenzen findet sich darunter. Wir zitieren immer zunächst die entsprechende Stelle aus dem Wahlprogramm und verweisen dann auf eine widersprüchliche Abstimmung mit Democracy-Link. Abschließend folgt eine kurze thematische Einordnung.

Ein abschließender Hinweis: Wir stellen nur diejenigen Widersprüche aus unserer Recherche vor, bei denen die Grünen zu dem entsprechenden Tagesordnungspunkt keinen eigenen Gesetzentwurf beziehungsweise Antrag eingebracht haben. 

Top 5

Außenpolitik

„Durch die Bewahrung und das Wiederaufleben des Atom-Abkommens mit dem Iran (JCPOA) kann ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten verhindert werden” (Seite 232).

Ablehnung des Linken-Antrags  Völkerrecht einhalten — Atomabkommen mit dem Iran verteidigen am 27. Juni 2019 und des FDP-Antrags Rüstungskontrolle stärken — Iranisches Nuklearabkommen bewahren am 27. Juni 2019.

Der Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA, allgemein bekannt als Iran-Atomabkommen) wurde bei dessen Einführung im Jahr 2015 als großer Erfolg für die Kontrolle der nuklearen Präsenz des Iran im Nahen Osten gewertet. Seitdem gibt es immer wieder Probleme, gerade die Konfrontation mit den USA bereitet aus europäischer Perspektive Sorgen. Der Iran jedenfalls fährt seit 2019 die Einhaltung seiner Pflichten zurück, in den vergangenen Monaten wurden Gespräche zwischen den Partnern immer wieder abgebrochen. Die Grünen möchten dies in Zukunft ändern, indem das Atomabkommen unbedingt bewahrt beziehungsweise neu gestartet werden soll. Gleichzeitig lehnte die Partei im Juni 2019 verschiedene Anträge zu dem Thema ab.

Digitales

„Eine Verpflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern lehnen wir ab” (Seite 180).

Enthaltung beim FDP-Antrag Bekenntnis für Meinungsfreiheit und gegen Upload-Filter am 31. Januar 2019.

Wie entscheidend das Thema der Uploadfilter die Gesellschaft im Jahre 2019 geprägt hat, zeigen Zehntausende Protestierende im März allein in Berlin. Generell geht es um den Artikel 13 beziehungsweise 17 des EU-Urheberrechts, der das Hochladen verschiedener Werke komplizierter macht, unter anderem dadurch, dass es strengere Regelungen bei der Verwendung urheberrechtlich geschützter Werke gibt. Die Grünen möchten laut Wahlprogramm eine breite Etablierung dieser Filter verhindern, enthielten sich aber gleichzeitig zu Beginn der Debatte im Januar 2019 zu einem Antrag der FDP zum Thema der Uploadfilter.

Digitales

„Der Personalausweis auf dem Smartphone (…). So wollen wir eine Identitätsinfrastruktur schaffen, die es natürlichen und juristischen Personen erlaubt, ihre digitale Identität mit Hilfe von Smartphones, Onlinediensten oder Ausweisdokumenten zu nutzen” (Seite 164).

Enthaltung beim FDP-Antrag Smart-Perso auf dem Handy am 11. April 2019.

Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung — ein Themenbereich, bei dem Deutschland im europäischen Vergleich weit hinterherhinkt. Während in Ländern wie Estland alle notwendigen Dokumente auf einer Bürgerkarte online gespeichert sind, ist eine digitale Identität hierzulande noch ein großer Streitpunkt. Die Grünen wollen in den nächsten vier Jahren eine Vorreiterrolle einnehmen und eine Beschleunigung der Anstrengungen vorantreiben. Dazu passt allerdings ihr Abstimmungsverhalten in der endenden Legislaturperiode wenig: Bereits 2019 forderte die FDP einen Smart-Perso auf dem Handy, die Grünen enthielten sich bei der Abstimmung.

Arbeitsrecht

„Den gesetzlichen Mindestlohn werden wir sofort auf 12 Euro anheben” (Seite 103).

▪  Ablehnung des Linken-Antrags Den gesetzlichen Mindestlohn auf 12 Euro pro Stunde erhöhen am 30. November 2018 und Enthaltung beim Linken-Antrag Gesetzlichen Mindestlohn in einmaligem Schritt auf 12 Euro erhöhen am 15. April 2021.

In ihrem Wahlprogramm fordert die Partei eine sofortige Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro. Obwohl die Grünen auch einen eigenen Antrag mit dem Ziel eines Betrags von 12 Euro eingebracht hat, findet das Abstimmungsverhalten hier Erwähnung. Grund dafür ist, dass sie sich im Bundestag bisher gegen eine einmalige Anhebung gewehrt haben und selbst für eine schrittweise Erhöhung eingetreten sind, die in Abhängigkeit von der Betroffenheit von der Coronapandemie vollzogen werden sollte. Hier passen also Versprechen, Abstimmungsverhalten und eigener Antrag nicht zusammen.

Welthandel

„Nachbesserungen am deutschen Lieferkettengesetz sind dringend notwendig, zum Beispiel eine Ausweitung der erfassten Unternehmen, aber auch eine Erweiterung der umweltbezogenen Sorgfaltspflichten” (Seite 82).

  Enthaltung beim Linken-Antrag Sorgfaltspflichtengesetz grundlegend nachbessern — Menschenrechte in Lieferketten wirksam schützen am 11. Juni 2021.

In der vorletzten Sitzungswoche im Bundestag wurde erneut über eins der bedeutendsten weltwirtschaftlichen Themen der endenden Legislaturperiode diskutiert: das Lieferkettengesetz. Ein wichtiger Teil des Gesetzes ist die sogenannte Sorgfaltspflicht, die Unternehmen in die Pflicht nimmt, auch bei ihren ausländischen Zulieferern die Einhaltung von ökologischen und sozialen Mindeststandards zu überprüfen. Die Grünen machen sich im Wahlprogramm für eine generelle Stärkung des Lieferkettengesetzes stark — und mit ihr eine stärkere Sorgfaltspflicht. Dennoch enthielt sie sich bei einem Antrag der Linken im Juni, der beide Aspekte genauer in den Blick nahm.

Disclaimer

Wir sind uns darüber im Klaren, dass in der politischen Praxis des Bundestags Fraktionsdisziplin eine Rolle spielt und insofern Anträgen beziehungsweise Gesetzentwürfen anderer Fraktionen — unabhängig vom Inhalt — oft aus Prinzip nicht zugestimmt wird. Diese Tatsache gilt für die vorgestellten Widersprüche allerdings nicht als Ausrede. Wie oben genannt haben wir nur diejenigen Widersprüche in unsere Veröffentlichung aufgenommen, bei denen die Grünen zu dem entsprechenden Tagesordnungspunkt keinen eigenen Gesetzentwurf oder Antrag eingebracht hat. Wenn die Grünen die Vorschläge inhaltlich vertritt, hätte sie diese problemlos in eigenen Initiativen fordern beziehungsweise sogar umsetzen können.



Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Bündnis 90/Die Grünen-Wahlprogramm im Reality-Check“ auf democracy-deutschland.de.